Das Hessische Staatsballett tanzt Ohad Naharins »Sadeh21«

SADEH21 ~ Hessisches Staatsballett ~ Auf dem Bild: Jiyoung Lee, Ludmila Komkova, Clémentine Herveux, Elisabeth Gareis (© Bettina Stöß) Choreografie / Bühne: Ohad Naharin Licht: Avi Yona Bueno Kostüme: Ariel Cohen Musik zusammengestellt von: Maxim Waratt Auf dem Bild Jiyoung Lee, Ludmila Komkova, Clémentine Herveux, Elisabeth Gareis Foto: Bettina Stöß
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Zu Beginn seiner fünften Spielzeit wartet das Hessische Staatsballett mit einem Stück auf, das bewusst nicht auf übliche Sehgewohnheiten baut: Sadeh21. Es wurde im Mai 2011 am Jerusalemer Sherover Theater von der Batsheva Dance Company uraufgeführt und ist der Tänzerin Noa Eshkol (Eshkal-Wachmann Bewegungsnotation) gewidmet. Seit seiner Uraufführung wurde Sadeh21 ausschließlich von der Batsheva Dance Company aufgeführt , in vielen Ländern der Welt. Das Hessische Staatsballett ist nun die erste Kompanie, der es gestattet wurde, das Stück des Choreografen Ohad Naharin (* 1952) zu übernehmen. Er gilt als einer der progressivsten Tanzschaffenden und wird gerne auch als „Choreograph des Jahrhunderts“ bezeichnet. Er ist in einem Kibbuz aufgewachsen und ist seit 1990 künstlerischer Leiter der Batsheva Dance Company (die 1964 von Martha Graham und Bethsabee de Rothschild gegründet wurde). Ohad Naharin schuf eine eigene Bewegungssprache: Gaga. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass komplexe Bewegungsabläufe in rasanter Folge, aber in stark unterschiedlichen Tempi ausgeführt werden. Grundlage ist ein besonders trainiertes dynamisches Bewusstsein, dass den Tänzern ermöglicht, stärker als sonst üblich, aus sich heraus Bewegungsabläufe zu gestalten. Sie bewegen sich nicht in erster Linie für eine perfekte Präsentation für das Publikum, bieten keinen klassischen Ausdruckstanz. Aus dem Inneren werden außergewöhnliche und zum Teil auch extreme Bewegungen gestaltet, die dann wiederum das Publikum beeindrucken.

Sadeh21 ist kein Handlungsballett, es wird keine chronologische Geschichte erzählt. In vielen verschiedenen Bildern (Sadeh bedeutet „Feld“), an der Zahl 21 sollte man sich besser nicht zu sehr orientieren, zeigen die Tänzerinnen und Tänzer des Hessischen Staatsballetts vielseitige Metapher für zwischenmenschliche Beziehungen. Die Bühne (auch Ohad Naharin) ist schon offen, wenn das Publikum Platz nimmt. Sie zeigt in der Mitte eine raumhohe Wand (lediglich geschätzte 2 Meter 40 hoch), die die tanzbare Fläche nach hinten begrenzt und zu den Seiten (die mehrere schmale Durchlässe haben), fortgeführt wird. Es ist ein schmuckloser, nüchterner Raum, der einzig von verschiedener Ausleuchtung (Licht: Avi Yona Bueno ~ Bambi) und später von den intensiven Farben der oftmals sehr knappen Shorts der Tänzer (Kostüme: Ariel Cohen) Farbakzente erhält.

Mit einem kurzen und lauten Getöse geht es ohne Vorwarnung los, so als wäre ein schwerer Gegenstand auf eine Metallplatte aufgeschlagen. Dieser Sound, begleitet von einem dezenten sphärischen Dröhnen, wiederholt sich während der ersten Szenen immer wieder. Diese gleichen einer Art Exposition. Die einzelnen Tänzer (Greta Dato, Elisabeth Gareis, Livia Gil, Clémentine Herveux, Sayaka Kado, Ludmila Komkova, Jiyoung Lee, Aurélie Patriarca, Vanessa Shield, Daniel Alwell, Martin Angiuli, Alessio Damiani, Mirko De Campi, Ramon John, Masayoshi Katori, Enrique Lopez Flores, Daniel Myers und Gaetano Vestris Terrana) betreten einzeln und nacheinander die Bühne und zeigen unterschiedlich lange aber stets sehr intensive Solis, zum Teil mit extremen Körperverformungen. Nach und nach gibt es dann Paarbildungen und das Thema des Abends, das Ausloten zwischenmenschlicher Beziehungen, wird in faszinierenden Bildern vorgeführt, bei denen die Tänzerinnen und Tänzer des Hessischen Staatsballetts beeindruckende Körperbeherrschung, Präzision und Leidenschaft zeigen. Inzwischen ist die Musik mit Gitarre und Cello dann auch einfühlsamer und sanfter, aber nie oberflächlich. Es ist kein Programm, das mit simplen Wow-Effekten aufwartet, aber mit hochgradig anspruchsvollen Bildern verzaubert, die man mit nur einem Besuch kaum alle erfassen kann.

Der Variantenreichtum zeigt sich auch, wenn eine Tänzerin (Elisabeth Gareis) an die Rampe tritt und zunächst alleine Ziffern von 1 bis 5 spricht. Also „5“, kurze Pause, dann „3, 2“ oder „2, 1, 1, 1“. Was zunächst irritiert, zeigt sich kurz darauf, wenn fünf TänzerInnnen dazu kommen und in einem immer schnelleren Tempo eben solche Gruppenformationen bilden. Ganz anders dann wieder eine Szene mit einer „Lady in red“, einer Tänzerin (Clémentine Herveux) in einem roten Tanztrikot, die von zunächst drei Tänzerinnen begleitet, ihren biegsamen Körper demonstriert (später treten die Tänzer in schwarzen Ballkleider dazu). Es gibt ernste und weniger ernste Bilder (wie das „andocken“), ganz so, wie zwischenmenschliche Beziehungen sind. Und diese können auch kraftvoll, ja kämpferisch sein, wie sie auch, fast schon rührselig, mit einem großen Kreisbild die Gemeinschaft betonen.

Auch das Ende ist ungewöhnlich, die Sänger erscheinen erst oberhalb der die Bühne begrenzende Mauer und fallen dann ins dunkle Off, während auf der Wand der Schlussspann läuft, also wie im Kino eine Liste mit allen Beteiligten der Produktion. Die Sprünge ins Off wiederholen sich, fallen zunehmend aber unterschiedlich aus. Sie reichen vom simplen Umfallen, über „Arschbomben“-Sprünge bis hin zum befreiten Freudensprung. Sehr viel Applaus für diesen besonderen Abend, den die Kompanie jedoch nur im Off vernehmen kann, denn es ist Bestandteil des Stücks, dass die Tänzer zum Schlussapplaus nicht mehr die Bühne betreten.

Markus Gründig, Oktober 2018


Sadeh21
Premiere am Staatstheater Wiesbaden: 13. Oktober 18
Premiere am Staatstheater Darmstadt: 2. November 18

Choreografie / Bühne: Ohad Naharin
Licht: Avi Yona Bueno
Kostüme: Ariel Cohen
Soundtrack-Design: Maxim Waratt

Tanz:
Greta Dato, Elisabeth Gareis, Livia Gil, Clémentine Herveux, Sayaka Kado, Ludmila Komkova, Jiyoung Lee, Aurélie Patriarca, Vanessa Shield
Daniel Alwell, Martin Angiuli, Alessio Damiani, Mirko De Campi, Ramon John, Masayoshi Katori, Enrique Lopez Flores, Daniel Myers, Gaetano Vestris Terrana

www.hessisches-staatsballett.de / www.staatstheater-wiesbaden.de / www.staatstheater-darmstadt.de