kulturfreak.de Besprechungsarchiv Theater, Teil 31

© Auri Fotolia

Die Nibelungen

Burgfestspiele Bad Vilbel
Besuchte Vorstellung:
22. Juni 18 (Premiere)

kulturfreak Bewertung: 4 von 5

„Mit unserem Spielplan, unseren Geschichten und Erzählungen wollen wir die komplexe, hochtechnisierte und unüberschaubare Welt wieder ein klein wenig verorten“ führt Claus-Günther Kunzmann, Intendant der Bad Vilbeler Burgfestspiele, in seinem Vorwort im diesjährigen Programmheft aus. Neben Komödien (Ray Cooneys Außer Kontrolle und Gunnar Dreßlers Ziemlich beste Freunde), dem Musical Ein Käfig voller Narren und einer Komödie mit Musik (Maria, ihm schmeckt‘s nicht), wird auf der großen Bühne im Abendprogramm auch ein großes Trauerspiel gezeigt: Friedrich Hebbels Die Nibelungen. Das endet bekanntlich mit einem großen Gemetzel, bei dem fast alle Beteiligte sterben. Bis es dazu kommt, bietet Hebbel (1813-1863) in seiner Dramatisierung des Nibelungenliedes universell geltende psychologische Charakterstudien. Sie zeigen Grundschemen der Menschheit, die an Aktualität nichts verloren haben, leider. Denn dem Wunsch nach einer besseren, friedlichen Welt, stehen niedrige Triebe und brutale Urmächte gegenüber. Und schon damals ging es stets auch um das eine: Das liebe Geld (manifestiert im legendären Nibelungenschatz).

Die Nibelungen
Burgfestspiele Bad Vilbel
Brunhild (Britta Hübel), Ensemble
© Eugen Sommer

Inszeniert hat das komplexe Stück Regisseurin Milena Paulovics, die im vergangenen Jahr hier bereits eine bezaubernde Dramatisierung des Filmdramas Wie im Himmel vorstellte. In zuschauerfreundlichen zweieinhalb Stunden (inklusive einer halbstündigen Pause) zeigt sie eine kompakte Fassung der Nibelungen, die sich auf die wesentlichen Handlungsstränge beschränkt. Die Bühne von Pascale Arndtz (auch Kostüme) wirkt zwar ungewöhnlich groß und auf ihre Art auch aufwendig, aber, abgesehen von zwei Stellwänden, ist sie vollständig leer. Sie besteht aus einem rechteckigen Plateau, das vollständig mit Bodenplatten versehen ist. Ihre metallene und rostig wirkende Optik, vermittelt gleichermaßen Wärme und Rauheit. In Teilen geöffnet, dienen die Platten im ersten Teil als Grab und Kreuz für den ermordeten Siegfried, im zweiten Teil dann als Abgrund in die Hölle und für das finale Blutbad zwischen Hagen und Kriemhild. Natürlich werden auch die Vilbeler Burgmauern mit in das Spiel einbezogen, wenn beispielsweise die kühne Brunhilde am Sims auf die ankommenden Nibelungen herabblickt. Trotz der reduzierten szenischen Bebilderung, der zahlreichen Figuren, Handlungsorte und Zeitsprünge, gelingt es Milena Paulovics dennoch sehr gut, die Geschichte flüssig und nachvollziehbar zu erzählen. Klangkompositionen von Michael Rodach setzten zudem punktuell musikalische Akzente.

Die Nibelungen
Burgfestspiele Bad Vilbel
Siegfried (Felix Lampert), Kriemhild ( Laura Bleimund), Ensemble
© Eugen Sommer

Es geht zwar grundsätzlich ernst zu, komische Momente gibt es aber auch. Insbesondere manche Männerfiguren sorgen für Schmunzler im Publikum. Z. B. Wenn König Gunter (fidel: John Wesley Zielmann), mit prächtiger Haarmähne und im galanten schwarzen Mantel, zwar gerne siegessicher aufmarschiert, aber im Angesicht des vermeintlich schwachen Geschlechts schnell einen Rückzieher macht und davon stürmt. Oder wenn dem sonst so heldenhaft starken Siegfried (kraftstrotzend und souverän: Felix Lampert) beim Gegenüber mit Kriemhild plötzlich die Worte fehlen. Mit dezenter Travestie verkörpert Sebastian Zumpe zunächst Brunhilds mysteriös wirkende Amme Frigga, später ist er ein leidenschaftlicher Spielmann Werbel am Hof von König Etzel (besonnen: Martin Bringmann). Von ihrem Duktus als Mitläufer können sich Giselher (Sergej Czepurnyi) und Volker (Alexander Tröger) erst am Schluss befreien. Ganz auf guter Kumpel angelegt ist der Markgraf Rüdeger (Andreas Krämer). Ein markantes Profil hat hier vor allem der boshafte, intrigante Strippenzieher/Demagoge Hagen von Tronje (genial: Thorsten Danner).
Die Kriemhild der Laura Bleimund wandelt sich vom lieblichen Mädchen im leichten weißen Sommerkleid, zur rachsüchtigen Frau im schwarzen Trauerflor und zeigt dabei stets noch ein Hauch von Menschlichkeit. Groß ist auch die schier unbezwingbare Brunhild der Britta Hübel. Sehr präsent ist die stets Einfluss ausübende verwitwete Mutter Ute der Kristine Walther (später auch Spielmann Swemel).

Nach dem finalen Gemetzel (Kampf-Choreografie: Annette Bauer) gibt es das wohl bisher größte Blutbad bei den Burgfestspielen zu sehen. Starker und lang anhaltender Beifall.

Markus Gründig, Juni 18


Klotz am Bein

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
31. Mai 18 (Frankfurt-Premiere)

Mit seinem sicheren Gespür für theatralische Effekte gilt der französische Dramatiker Georges Feydeau (1862 – 1921) als unumstrittener Meister der Vaudeville-Komödie. Sein bekanntestes Stück, Floh im Ohr, war zuletzt 2005 am Schauspiel Frankfurt und 2009 bei den Burgfestspielen Bad Vilbel zu sehen. Nun gibt es endlich wieder die Gelegenheit eine weitere Komödie aus dem umfangreichen Œuvre Feydeaus zu sehen: Klotz am Bein. Die Neuproduktion des Schauspiel Frankfurt entstand als Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen (Premiere dort war bereits vor einer Woche). Gespielt wird die neue Fassung von Claudius Lünstedt, der das Stück auch neu übersetzt hat und dabei mit mancherlei zeitgenössischen Wortspielen aufwartet.

Regisseur Roger Vontobel (Rose BerndWoyzeck) und Bühnenbilder Olaf Altmann (Medea) verzichten bei dieser Inszenierung nahezu komplett auf eine Bühnenausstattung. Die um ihren äußeren Schein kämpfenden Figuren haben alles Materielle bereits verloren. Es gibt nur einen großen leeren Raum, der von einer Art überdimensionalen Vorhang aus straff gespannten Saiten, umsäumt ist. Es gibt keinerlei Verortung, weder in zeitlicher noch in örtlicher Hinsicht. In dieses Nichts treten die Darsteller, indem sie sich durch die Saiten quetschen. Manch einer, wie der Bedienstete Firmin des Stefan Graf, bleibt da auch gerne zwischen den Saiten hängen. Die pathetisch arrangierten Auftritte der Figuren werden, wenn sie als Gäste kommen, durch nervtötendes Dröhnen, das mit einem Buzzergeräusch aus TV-Shows vergleichbar ist, angekündigt. Wie überhaupt bei dieser überzogenen Farce alles extrem in Szene gerückt ist. Bei den Dialogen wird viel gekreischt, kleinste Wortäußerungen reichen, dass Einzelne demonstrativ und mehrfach zu Boden fallen, die Gestik ist übertriebener als im Kindertheater. Trotz einer ausgewiesenen Hektik gibt es auch langatmige Szenen. Keith O‘Brien sorgt als Live-Musiker, wie ein Dirigent im Graben vor der Bühne platziert, für verschiedenartige Klangeruptionen, die kurzen Musiksequenzen reichen vom Barock bis zum Heavy Metal.

Klotz am Bein
Schauspiel Frankfurt
Viviane (Friederike Ott), Baronin Duverger (Katharina Linder), Monsieur de Fontanet (Peter Schröder), Fernand de Bois d’Enghien (Max Mayer)
© Thomas Aurin

Differenzierter, bunter und echte Hingucker sind die ausgefallenen Kostüme von Ellen Hofmann, die sich von den Arbeiten des britisch-nigerianischem Künstlers Yinka Shonibare MBE inspirieren ließ (der mit seinen bedruckten, farbenprächtigen Baumwollstoffen bekannt wurde). Neben Blumenmuster zieren die Kostüme, die sich mit ihren Schnitten zur Vaudeville -Zeit beziehen, als Hinweis auf die Sterblichkeit und Vergänglichkeit alles Irdischen, auch Totenköpfe (mit Blumenkränzen) und Skelette (was aber nur von Nahem zu erkennen ist).

Die fast schon hektisch arrangierte turbulente Situationskomik bietet keinen Raum für differenzierte psychologische Charakterstudien, die Figuren sind überzogen eindimensional. Das machen sie hier ausgesprochen gut (leider sind die Darsteller durch Schminke und Perücken kaum zu erkennen).
Als Titel gebende Figur, der Klotz am Bein von Fernand, als Geliebte liebestolle Lucette, die Platz für eine bessere Partie machen muss, kämpft Claude De Demo intensiv. Max Mayer gibt den zwischen Lucette und Vivane schwankenden verarmten Adeligen Fernand de Bois d’Enghien, dessen Verzweiflung zunehmend wächst, bravourös und mit voller Hingabe. Die reiche Viviane der Friederike Ott ist eine verzogene Göre, der kantige Männer lieber sind, als aalglatte. Erhaben, stets sehr präsent und mit klarer Aussprache: die Baronin Duverger der Katharina Linder. Der windige Notarassistent Bouzin des Matthias Redlhammer versucht, seine Vorteile aus den Verhältnissen zu ziehen und wird dabei weit mehr in das sich ausweitende Liebesdrama einbezogen, als ihm lieb ist. Sie alle reagieren mit großen körperlichen Verbiegungen auf den stark aus dem Mund riechenden Monsieur de Fontanet (elegant und unbekümmert: Peter Schröder). Heiko Raulin trumpft als mordlüsternder und sprachverliebter General Irrigua mächtig auf. Zudem dabei: Anna Kubin als Marceline, Altine Emini als Nini Galant und Sebastian Reiß als Monsieur de Cheneviette.

Vom enthusiastischen Premierenpublikum intensiver und lang anhaltender Applaus.

Markus Gründig, Juni 18


Mars

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 19. Mai 18 (Premiere)

kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Mit der Inszenierung von Shakespeares Klassiker Romeo und Julia stellte sich der Autor, Regisseur, Übersetzer und Dramaturg Marius von Mayenburg dem Frankfurter Publikum im Januar im Schauspielhaus vor. Nun inszenierte er in den Kammerspielen sein eigenes, neues Stück Mars, das als Auftragswerk des Schauspiel Frankfurt entstand. Darin ringen vier Kandidaten, um als eine der ersten Besiedler des Mars ausgewählt zu werden: Als Unternehmer im Wanderoutfit und mit reichlich Geld im Gepäck, der mit geringer moralischer Integrität versehene Achim (eifrig: Michael Schütz) mit seiner Tochter, der angehenden Ärztin und moralischen Kämpferin Johanna (umsichtig: Luana Velis) und zwei erwachsene Zwillinge. Der dringend auf seine Medikamente angewiesene jähzornige und kraftstrotzende Oskar (gehörig aus der Reserve aufbrausend: André Meyer) und der klug taktierende, durchtrainierte Edgar (besonnen: Nils Kreutinger). Auch sie wissen, dass die Ressourcen der Erde endlich sind und Lösungen für eine lebenswerte Zukunft gefragt sind. Auf nahezu mysteriöse Art und Weise sind sie in einer dunkel gehaltenen Bunkeranlage mit einem großen Panoramafenster angekommen (Bühne: Sebastien Dupouey), auf dem mit großem Aufwand entstandene Videoprojektionen von Waldlandschaften, Menschenaffen (erst in einem großen Käfig sitzend, später in der freien Natur; Video: auch Sebastien Dupouey) bis hin zur Rückeroberung der Erde durch die Macht der Natur, zu sehen sind.

Mars
Schauspiel Frankfurt
Oskar (André Meyer), Edgar (Nils Kreutinger), Johanna (Luana Velis), Achim (Michael Schütz), Yannik (Torsten Flassig)
© Jessica Schäfer

Die Prüfung, die die vier Kandidaten hier erwartet, ist jedoch keine gewöhnliche Prüfung, keine Abfrage von Wissen mit Hilfe eines Multiple Choice Tests, von Können oder physischer Stärke. Alleine auf sich gestellt, stehen sie unter der Beobachtung des apart wirkenden Yannin (mit poetologischen Attributen: Torsten Flassig) im weißen Anzug (Kostüme: Almut Eppinger), einem philosophierenden Androiden, wie sich später herausstellt.
Die Dynamik kommt dabei aus der Gruppe selbst heraus. Als unantastbar angesehene moralische Werte werden schneller als gedacht über Bord geworfen und schon bald sind sie diejenigen, die von anderen Lebensformen beobachtet werden. Die Handlung ist mit zahlreichen Bezügen zu Filmen und Büchern des Science-Fiction-Genres gespickt.
Wirkt Marius von Mayenburgs Text mitunter auch etwas konstruiert, Mars ist dennoch gut gemacht und spannend inszeniert. Er sorgt für zahlreiche Überraschungen und meistens kommt es anders, als man denkt. So wie er bei den aufgeworfenen moralischen Fragestellungen mit seinen Figuren spielt, spielt er auch mit dem Publikum. Viel Applaus.

Markus Gründig, Mai 18


The Invisible Hand

English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
9. Mai 18 (Premiere)

kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Theater und Geld gehören eng zusammen, auch hier gilt: ohne Moos, nichts los. Seien es die privaten oder die staatlichen Theater, alle sind neben dem überproportionalen persönlichen Engagement ihrer Mitarbeiter auch stets auf Geld angewiesen (das in der Regel nie ausreicht, um alle hehren Ziele zu erreichen). Der US-amerikanische Dramatiker und Pulitzer-Preisträger Ayad Akhtars hat in seinem 2012 uraufgeführten Polit-Thriller  The Invisible Hand das Thema Geld in den Mittelpunkt gestellt, also die unendliche Gier der Menschen nach Reichtum und Wohlstand. Ab November 2017 wurde es in einer Inszenierung von Anselm Weber (Intendant des Schauspiel Frankfurt) bereits auf Deutsch in den Kammerspielen gespielt. Jetzt feierte die englischsprachige Erstaufführung in Deutschland Premiere am English Theatre Frankfurt. Dies als Co-Produktion mit der Ensemble Theatre Company of Santa Barbara (wo die Inszenierung von Jonathan Fox bereits im April 2018 in gleicher Besetzung zu sehen war).

Während Bühnenbildner Raimund Bauer für Anselm Webers Inszenierung mit einer Art Matrix eine abstrakte Umgebung schuf, ist die Verortung im Bühnenbild von Charlie Corcoran konkreter. Der Raum, in dem der entführte US-Banker Nick Bright gefangen gehalten wird, hat hohe Wände mit abgeblättertem Putz, sodass teilweise die Backsteine zu sehen sind und neben einer einfachen Tür ein vergittertes Fenster mit Spitzbogen (darin ein einfaches Bett und zwei kleine Tische). Im zweiten Teil befinden sich zahlreiche Drucke im Stil von Bloomberg-Charts an den Wänden. Diese sollen generell helfen, Anlagestrategien und neue Ideen für Aktienmärkte zu entwickeln. Denn darum geht es hier. Nick Bright will, da weder sein Arbeitgeber noch sein Heimatland das geforderte Lösegeld zahlen wollen, es selbst durch spekulative Börsengeschäfte verdienen. Dabei wittern dann auch seine Entführer die Chance, zu richtig viel Reichtum und Macht zu kommen und werfen ihre bisherige Kapitalismuskritik schnell über Bord. Die Frage, wie hältst es du mit dem Streben nach Geld, trifft letztlich auch jeden Zuschauer.

The Invisible Hand
English Theatre Frankfurt
Nick Bright (John Tufts), Bashir (Jameal Ali), Dar (Sarang Sharma), Imam Saleem (Mujahid Abdul-Rashid)
Foto: David Bazemore

Für die in einer pakistanischen Stadt spielende Handlung tragen die Entführer und der Entführte traditionelle Gewänder (lange und geschlitzte Hemden über weite Hosen, sogenannte Salwar-Kameezs; Kostümbild: Dianne K. Graebner). Der von Beginn an kapitalistisch, aber fürsorglich eingestellte Aufpasser Dar (sehr präsent, trotz weniger Worte: Sarang Sharma) erscheint stets mit eleganter Note (nicht zuletzt durch schöne Schals). Groß gegen den Westen wetternd, aber ganz im westlichen Stil gekleidet ist der unberechenbare Entführer Bashir (vielseitig: Jameal Ali). Prächtig gar das Gewand des Imam Saleem (erhaben: Mujahid Abdul-Rashid), demgegenüber weist das einfache Gewand von Banker Nick Bright (famos um seine Freiheit kämpfend: John Tufts) deutliche Abnutzungsspuren auf.
Regisseur Jonathan Fox, der am English Theatre Frankfurt seit vielen Jahren regelmäßig inszeniert (zuletzt Joshua Harmons Bad Jews) gelang erneut eine packende Produktion, die vom Premierenpublikum mit starkem Applaus bedacht wurde.

Markus Gründig, Mai 18


Who Is Happy in Russia

Gogol Center Moskau zu Gast bei den Internationalen Maifestspielen Wiesbaden
Besuchte Vorstellung:
4. Mai 18

Es ist ein alter Schinken, aber aktuell wie nie: Who Is Happy in Russia ~ Wer lebt in Russland froh und frei. Es ist das Hauptwerk des Schriftstellers Nikolai Nekrassow (1821-1878), der fast so etwas wie ein russischer Bertolt Brecht ist. Nekrassow hatte sich, nicht zuletzt geprägt durch seinen Vater, schon früh gegen Tyrannenherrschaft ausgesprochen. Erfolgreich war der sich selbst gegenüber kritische Autor vor allem als Lyriker, der zugleich politischer Kämpfer und Satiriker war. Sein unvollendetes Versepos Who Is Happy in Russia (Wer lebt in Russland froh und frei) thematisiert, in einer Mischung aus epischen Darstellungen und dramatischen Elementen, das Leben der russischen Bauern nach der Aufhebung der Leibeigenschaft. Das Werk wurde 2016 von Christine Hengevoß neu ins Deutsche übersetzt (frühere Titel: Wer lebt glücklich in Russland).

Unter der Regie von Kirill Serebrennikov feierte im September 2015 eine zeitgemäße Bühnenfassung dieses Stoffes Premiere am Moskauer Gogol Center, wo es ob des großen Erfolgs, noch immer auf dem Spielplan steht. Im Rahmen der Internationalen Maifestspiele Wiesbaden gastierte diese Produktion jetzt für zwei Aufführungen im Großen Haus. Dafür konnte Kirill Serebrennikov, der Regie-Star des russischen Theaters, dessen letzter Film Leto (Sommer) bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes eingeladen worden war, nicht persönlich nach Wiesbaden kommen. Seit August 2017 steht er wegen dubioser Vorwürfe unter Hausarrest, mit Fußfesseln und ohne Zugang zum Internet. Nur nahe Verwandte dürfen ihn besuchen.

Who Is Happy in Russia
Gogol Center Moskau
Ensemble
© Gogol Center Moskau

Mit einem Großaufgebot an Darsteller, Tänzer und Musiker war das Gogol Center Moskau jetzt in Wiesbaden für zwei Aufführungen von Who Is Happy in Russia zu Gast, ein ganz besonderes Erlebnis, zumal Serebrennikovs Inszenierung mehr als nur Theater ist. Er verbindet Sprechtheater lustvoll mit Performance und Tanz. So ist die aus drei sehr unterschiedlichen Teilen bestehende Aufführung trotz der fast vierstündigen Dauer (mit zwei Pausen) überaus kurzweilig.

Im ersten Teil (als „Der Streit“ betitelt), symbolisiert eine quer liegende Pipeline Russlands Reichtum, schließlich bringen heutzutage bewirtschaftete grüne Felder weniger Geld ein, als Gasfelder. Eine dahinter stehende Stahlmauer mit Stacheldraht (Bühne: auch Kirill Serebrennikov) zeigt, dass der allmächtige Staat ständig präsent ist und aufpasst, was geschieht. Zu Beginn befragt ein Erzähler (Ilya Romashko), der hier wie ein Talkmaster auftritt, die acht Bauern Roman (Ivan Fominov), Demjan (Nikita Kukushkin), Luka (Semen Shteinberg), Iwan (Eugeniy Sangadzhiev), Mitrodor (Mikhail Troynik), Prow (Filipp Avdeev), Pachow (Andrey Polyakov) und Pacjoms Sohn (Timofey Rebenkov), wer denn ihrer Meinung nach in Russland glücklich sei. Sie vermitteln schon optisch nicht, dass sie selbst glücklich sein könnten. In ihrer heutigen Kleidung sehen sie aus wie geschaffte Leiharbeiter nach einer langen Schicht. So benennen sie denn auch andere, von denen sie annehmen, dass sie glücklich seien. Wie einen reichen aber despotischen Gutsbesitzer, einen Beamten, Popen, Kaufmann, Minister oder gar den Zaren. Nach einer kurzen Rückkehr ins private Glück (bei den Ehefrauen), begeben sie sich auf die Suche denjenigen zu finden, der glücklich ist in Russland. Dabei wird u. a. eine Episode vom treuen Leibeigenen Jakuw erzählt, der sich schließlich vor den Augen des erkrankten Gutsbesitzers erhängte (wobei mit einfachen Bühnenmitteln, hier ein Geäst, große Wirkung erzielt wird).
Auch privates Liebesglück ist nie von Dauer. Ein Liebespaar in Eva- und Adamskostümen will sich verbinden, aber der Lehnsherr hat auch ein Auge auf die Frau geworfen und so kommen seine Schergen und reißen das Paar immer wieder auseinander. Treffen die armen Bauern auf die Welt der Reichen, so werden Letztere als arrogante und dekadente Gesellschaftstypen gezeichnet.

Who Is Happy in Russia
Gogol Center Moskau
Ensemblemitglied
© Gogol Center Moskau

Die Lebenssituation scheinbar glücklicher Menschen wird immer wieder dekonstruiert. Einziger Quell steter Freude ist der Problemlöser Wodka. Dessen Auswirkung auf die Bauern wird im zweiten Teil (als „Die trunkene Nacht“ betitelt) des Abends deutlich. Während das Publikum wieder Platz nimmt, klettern die Bauern mit verschmierten Gesichtern über die Zuschauerreihen, betteln und benehmen sich rüpelhaft. Nachdem sie auf die nun nahezu leere Bühne zurückgekehrt sind, bieten sie eine, von rhythmischen Trommelschlägen unterstützte, dynamische und sinnliche Tanzperformance trunkener Bauern, die auf ihren Feldern Stimmen hören (zu einem von Ilya Demutsky komponierten Choral; Choreografie: Anton Adasinsky). Das Schlussbild dieses Teils, von einem unter Regen nicht vom Fleck kommenden Tänzers, drückt die Ausweglosigkeit des Einzelnen auch ohne Worte deutlich aus.

Der dritte Teil (als „Das Dorffest“ betitelt) beginnt zunächst mit einem humoristischen Dreierspiel und der Verheißung auf Wodka für das Publikum. Derjenige, der eine überzeugende Aussage macht, warum er glücklich sei, bekommt zur Belohnung ein Schnapsglas davon. Anschließend geht es, nach einer Art Modenschau prachtvoller Folklorekleider, unterhalb einer über die Bühne gespannten traditionellen Tischdecke, zu einem großen Abendmahl mit zwölf Bauern. Die hinzutretende mehrfache Mutter Matriona erzählt, stellvertretend für die sich stets unterordnenden und leidenden russischen Frauen, ihre unter die Haut gehende Lebensgeschichte (authentisch sich wandelnd: Evgeniya Dobrovolskaya).

Live-Videoprojektionen von Porträts, wie bei einem Verhör, gehören bei diesem ungewöhnlichen Abend genauso wie live gespielte Musik (mit Sängerinnen) dazu. Diese ist sehr vielseitig und bietet mehr als Popklassiker und Jazz (besonders [laut-] stark Dimitry Visotskiy an der Trompete; Musikalische Arragements: Andrey Polyakov). Bei den singenden Damen ragt besonders Rita Kron mit ihrer markanten Stimme hervor, mit der sie der russischen Melancholie farbenreich Ausdruck verleiht (und nebenbei noch Saxofon spielt). Die Liebe zum wunderschönen Land Russland wird bei Who Is Happy in Russia immer wieder dezent beschworen, wie natürlich auch Parallelen zu heute unverkennbar sind.

Am Ende, bei dem die Darsteller als Ausdruck ihrer Solidarität für ihren Regisseur T-Shirts mit der Aufschrift „Free Kirill“ trugen, nicht nur von den zahlreichen russischstämmigen Besuchern starker Applaus und Standing Ovations.

Markus Gründig, Mai 18


Out of Order

Künstlerhaus Mousonturm/Schauspiel Frankfurt: Forced Entertainment zu Gast im Bockenheimer Depot
Besuchte Vorstellung: 27. April 18 (Premiere/Uraufführung)

rien ne va plus

kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Aus und vorbei, nichts geht mehr. Da sitzen sie nun am großen Tisch. Das Zusammensein ist selbst in einfachen Fragen oftmals komplex. Statt zueinander zu kommen, echauffiert sich einer über einen anderen und will ihn tätlich angreifen. Dabei fallen nicht nur die Stühle um, auch die ganze Gruppe kommt in eine starke Bewegung, schließlich gilt es den einen zu besänftigen und den anderen zu beschützen. Nachdem beides gelungen ist, nehmen alle wieder am Tisch Platz und dann, dann beginnt das Spiel, mit geringen Veränderungen, von Neuem, wie in einer Dauerschleife, nur dass sich die Akteure abwechseln. Zu jeder dieser Sequenzen läuft Val Martinezs emotionaler Song „Someone´s gonna cry“ (von 1963), in dem eine Frau vor die Entscheidung gestellt wird, ob sie sich für denjenigen entscheidet, der sie liebt, oder für denjenigen, den sie liebt (der sie wiederum aber traurig und weinend zurückgelassen hat). Egal wie sie sich entscheiden wird: Someone´s gonna cry. Das geht zunächst fast 25 Minuten so. Dann ist die Luft raus, sie liegen auf Richard Lowdons, bis auf die Stühle und den Tisch, leeren Bühne verteilt herum. Ihre Energie wird nun gewissermaßen in bunte Luftballons umgeleitet. Zunächst von einem, dann von mehreren und dann von allen. Doch das neu Geschaffene ist nie von langer Dauer, schnell ist die Luft wieder raus aus den Ballons, selbst als Angriffswaffe eignen sie sich nicht. Sie rennen nicht nur über die Bühne, kämpfen miteinander, ziehen sich wie in einer Kette am Boden entlang, bilden eine Art Trauermarsch, bei dem sie ihr Hab und Gut (also Tisch und Stuhl) lange Zeit tragen, bis sie nacheinander erschöpft wieder zu Boden fallen und agieren mit Handhupen als verbindendes Element. Dann gehen die Rivalitäten von neuem los, nun unterlegt mit Johann Strauss´s (Sohn)  gut neunminütigen Walzer „An der schönen blauen Donau“ (der natürlich auch wiederholt wird).

Out of Order
Von und mit Forced Entertainment
© Hugo Glendinning

Was hier vorgeführt wird, ist alles andere als klassisches Theater. Die 1984 gegründete britische Künstlergruppe Forced Entertainment ist zu Gast im Bockenheimer Depot und zeigt ihre neue Performance Out of Order. Sorgen, ob das Englisch ausreichend verstanden wird oder ob es deutsche Übertitel geben wird, sind schnell obsolet, denn es gibt keine gesprochenen Wörter, das Programm ist eine wortlose Performance. Eine sehr lebendige und mit intensivem körperlichen Einsatz der sechs hervorragenden Performer (Robin ArthurNicki HobdayJerry KillickRichard LowdonCathy Naden und Terry O’fConnor).

Sie haben diese Performance gemeinsam mit Tim Etchells, dem künstlerischen Leiter von Forced Entertainment entwickelt (kreiert mit Input von Claire Marshall und Hester Chillingworth). Dabei tragen sie, die nahezu alle gleich groß sind, Anzüge in rötlichem Schottenmuster. Ihre Gesichter weisen sie als traurige Clowns aus (verschmierte rote Münder und schwarze Augenkreuze auf weißen Untergrund). Ihrem Companienamen entsprechend chargiert die Performance zwischen heiter grotesken Momenten und bitterem Ernst. Dabei ist allein schon die rein performative Form für traditionelle Theaterbesucher schon ob des mangelnden Textes eine Herausforderung, wie man sich auch auf die multiplen Wiederholungen einlassen muss. Und sie zeigen, dass andere theatrale Formen einen ganz anders berühren können.
Die Aufführungen stellen den Beginn einer Zusammenarbeit des Künstlerhaus  Mousonturm Frankfurt und Schauspiel Frankfurt dar.

Markus Gründig, April 18


Der alte Schinken

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
15. April 18 (Premiere)

kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Lessings Trauerspiel um die Ehre der Bürgerstochter Emilia Galotti stellt das Schauspiel Frankfurt die Stückentwicklung Der alte Schinken von Nele Stuhler und Jan Koslowski gegenüber. „Das Bürgertum ist so etwas wie der Schinken der Demokratie. Ihr Sitzfleisch“g heißt es in der Ankündigung. Doch das Bürgertum ist tot, auch wenn es in einer Stadt wie Frankfurt/M seit jeher eine große Bedeutung hat. Zusammen mit den beteiligten Darstellern hat sich das Autoren- und Regieduo Jan Koslowski und Nele Stuhler auf Spurensuche begeben, um den Werten des Bürgertums auf den Grund zu gehen. Entstanden ist ein ganz spezieller Text, der sogar in eine formale Geschichte eingebunden ist. Dabei sind die Rollenzuteilungen nicht geschlechtsspezifisch. Durch leichte Travestie entsteht eine weitere humoreske Ebene. Die bunten Kostüme von Svenja Gassen greifen Filmfiguren aus klassischen Detektivfilmen auf. Es spielen: Heidi Ecks (als Societylady Erika Julia Hedwig Isegrim), Christoph Pütthoff (als stimmstarker Arzt und Kapitän Elisabeth „Medi“ Kolatschny-Mandelbaum), Samuel Simon (als Hotelboy/Interior-Designer Klaus Farnsworth-Wolf), Melanie Straub (als Bäcker Angelus Gottfried Barcomi), Andreas Vögler (als Gauner Michael Nikki de Gadna, genannt Bibi) und Anton Weil (als Sekretärin/Privatdetektivin Fräulein Monika Möhnle-Merkenau).

Der alte Schinken
Schauspiel Frankfurt
Angelus (Melanie Straub), Erika (Heidi Ecks), Michael (Andreas Vögler), Klaus (Samuel Simon), Monika (Anton Weil)
© Felix Gruenschloss

Die farbenfrohe und vor Spielfreude überbordende Inszenierung erinnert teilweise an Miloš Lolics Inszenierung von Jelineks Am Königsweg. Sie kommt als stets überzogene und absurde Kriminalkomödie mit hohem Unterhaltungswert daher. Das fängt schon mit der eingespielten euphorisch stimmenden und schwungvollen Filmmusik an, mit der vor Beginn die Zuschauer eingestimmt werden. Los geht es dann vor einem klassischen roten Samtvorhang. Die Darsteller sprechen chorisch eine längere Begrüßungsrede, bei der auch um Hilfe bei der Suche nach Antworten, nach dem „Warum und Weshalb”., gebeten wird.
Sodann treffen in der Lobby eines Urlaubshotels sechs sehr unterschiedliche Personen aufeinander. Die Bühne von Chasper Bertschingerein bietet pinkfarbenes Interieur, im Hintergrund Arkadengänge und vier Türen in giftgrüner Farbe. In zentraler Perspektive gibt eine Terrassentüranlage einen Ausblick ins Freie (wo es zunächst schneit, später die Reeling eines Kreuzfahrtschiffes und Meereswellen Sehnsuchtsträume widerspiegeln und auch Videoprojektionen bürgerlicher Güter (wie ein Kosmetikprodukt eines edlen zertifizierten Naturkosmetikanbieters).

Als Synonym für des Bürgers höchstes Gut steht ein Brotlaib, der jedoch gestohlen wird. Ein angesetzter Sauerteig (Synonym für einen Neubeginn), stellt sich als von allem verunreinigt dar. Mit vielen Reimen und populären Floskeln wird ein Bogen von der Zeit der französischen Revolution, über die „Auf-Klärung“ und die Weltkriege, bis zur bundesrepublikanischen Gegenwart gezogen, wobei auch manches Getue an die Komikergruppe Monty Python erinnert. Dazu wird musiziert und gesungen. Doch immer wieder wird das belustigende Spiel von ernsten Grundsatzfragen, wie der Suche nach der verlorenen Mitte, erschüttert. Der Abend fesselt auch ohne konkrete politische Bezüge, ist stets fordernd, auf die Dauer aber auch etwas langatmig. Nachdem „die Katastrophe“ vor der Tür steht, flüchten sich alle in den Keller, der Blick ins Freie zeigt eine steinige, menschenlose Landschaft mit überdimensionaler Banane (Animationen: Luis August Krawen), während aus dem Kellerloch weiter munter diskutiert wird. Schließlich fährt der außergewöhnliche, aus zehn Schinken bestehende, Kronleuchter zu mehrfach unterbrochener Bühnenausleuchtung herunter und ein Song der Pet Shop Boys, verkündet tröstlich, sicher hätte mehr sein können, aber immerhin „You were always on my mind“g.

Sehr starker und lang anhaltender Applaus.

Markus Gründig, April 18


Emilia Galotti

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
14. April 18 (Premiere)

Unschuld, Mitleid, Gewalt, Verführung und Selbstmord

Lessings fünfaktiges Trauerspiel, eine Bearbeitung des Virginia-Motivs des römischen Historikers Titus Livius, handelt von der Bürgerstochter Emilia Galotti, die einen Grafen heiraten will. Doch auch ein Prinz hat sein Auge auf sie geworfen und setzt alles dran, sie für sich zu gewinnen, mit fatalen Folgen. In Abwandlung von László F. Földényis Kaleidoskop des Kosmos Kleists („Heinrich von Kleist ~ Im Netz der Wörter“g) benennt Dramaturg Alexander Leiffeidt im Programmheft des Schauspiel Frankfurt zur Neuinszenierung des Lessing-Klassikers Emilia Galotti fünf Begriffe, die helfen sollen, das Werk, befreit von der umfassenden bisherigen Rezeption seit seiner Uraufführung im Jahre 1772, zu sehen: Unschuld, Mitleid, Gewalt, Verführung und Selbstmord. Zu jedem dieser Begriffe lässt sich im Zusammenhang mit den Figuren des Stückes viel sagen. Zwar sind die Charaktere von Lessing klar gezeichnet, doch stehen sie ja auch alle wie in einem Netz zueinander, weshalb auch diese fünf Begriffe nie nur einer Person zugeordnet werden können. Auch Regisseur David Bösch der für diese Neuinszenierung gewonnen werden konnte und der in Frankfurt kein Unbekannter ist, hatte er hier doch erst im vergangenen September für die Oper Frankfurt Verdis Il travatore inszeniert, legt keinen Schwerpunkt auf eine ganz spezielle Figur. Es gibt nicht nur den despotischen Prinzen, sondern auch eine starke Emilia, die mit dezenter Koketterie für seine Avancen zumindest aufgeschlossen scheint. Aggressionen entladen sich sowohl auf Seiten des Adels, wie des Bürgertums.

Emilia Galotti
Schauspiel Frankfurt
Prinz von Guastalla (Isaak Dentler), Emilia Galotti (Sarah Grunert)
© Thomas Aurin

Wie auch noch in letzten Zügen Inszenierungsansätze umgeworfen werden, macht das Programmheft deutlich. Manche der dort abgedruckten Szenenbilder aus den Proben gab es im ersten Aufzug bei der Premiere, die wegen eines Warnstreiks der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) um einen Tag verschoben werden musste, dann gar nicht zu sehen. Hier wird frei von Requisiten vor einem schwarzen Vorhang gespielt. Isaak Dentler braucht als Hettore Gonzaga, Prinz von Guastalla, auch gar keine Requisiten, um einen starken Auftritt hinzulegen. In schlabbrigen auberginefarbenen Samtanzug vermittelt er einen zunächst noch müden, fast noch betrunken wirkenden Prinzen, der mal so ganz beiläufig und ohne Nachfrage ein Todesurteil unterschreibt. Seine Wankelmütigkeit hinsichtlich des weiblichen Geschlechts charakterisiert auch seine Körpersprache und sein Wesen. Sein beflissener Handlanger und Scherge Marinelli (vielseitiger Wolf im Schafspelz und mit steter Wachsamkeit: Fridolin Sandmeyer) macht im Silber glänzenden Anzug und mit rosafarbenem Hemd samt Krawatte eine deutlich bessere Figur (Kostüme: Meentje Nielsen).

Emilia Galotti
Schauspiel Frankfurt
Marchese Marinelli (liegend: Fridolin Sandmeyer), Odoardo Galotti (Sebastian Kuschmann)
© Thomas Aurin

Für die Szene im Haus der Galottis fällt der Vorhang, hier reicht eine herabgelassene Fassadenfront, zuvor zeigte David Bösch als kurze Sequenz die erste Begegnung zwischen Emilia und dem Prinzen in der Kirche (im leeren schwarzen Raum mit Projektion eines massiven Kreuzes, unterlegt mit Klaviermusik im Stil von Ludovico Einaudi). Sehr schön ist der ultrakurze Glücksmoment zwischen Emilia und dem als von vornherein als chancenloser Liebhaber gezeichneten Grafen (im Rollstuhl sitzend und dennoch souverän: Wolfgang Vogler), für den fünf Kronleuchter und zahlreiche Glitzergirlanden herabgefahren werden und sogleich eine Flut an großformatigen Partykonfetti der unterschiedlichsten Art herabfällt und den weiten Bühnenraum in das „LLLLLLLustschloss“g des Grafen verwandeln (Bühne: Patrick Bannwart).

Hier treffen dann nicht nur der Prinz und Marchese Marinelli ein, sondern auch die stolze Mutter Claudia der Olivia Grigolli, der das Unheil ahnende, kraftstrotzende Vater des Sebastian Kuschmann und die verschmähte Geliebte Gräfin Orsina. Als diese trumpft Katharina Bach (behängt mit Perlenketten und mit Kurzhaarschnitt im Stil von GNTM Kim Hnizdo) in ihrer großen Szene auf und zeigt ein authentisch wirkendes Profil einer schillernden, aber tief verletzten Diva. Sehr stark nicht zuletzt Sarah Grunert in der Titelrolle. Sie hat nicht nur eine immense szenische Präsenz durch ihre Körperspannung, auch stimmlich ist sie stark fokussiert. Ihr zeitgemäßes Profil wird schließlich auch beim Schluss deutlich. Zum finalen letzten Zug setzt sie an, vollzieht ihn aber nicht.

Am Ende der pausenlosen knapp zweistündigen Aufführung (bei einigen Kürzungen): starker Applaus.

Markus Gründig, April 18


Einige Nachrichten an das All

Schauspiel Frankfurt ~ Studiojahr Schauspiel
Besuchte Vorstellung:
17. März 18 (Premiere)

„Wir befinden uns in einer Explosion, ihr Ficker“
Wolfram Lotz

kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Ist es absurdes und groteskes Theater oder gar unmögliches Theater? Wolfram Lotzs (* 1981) Einige Nachrichten an das All ist auf jeden Fall etwas ganz Besonderes. Mehr als eine Anleitung für die Wirklichkeit, als ewige Forderung gar muss die Fiktion die Wirklichkeit verändern, auch wenn das Scheitern vorprogrammiert ist, wie Lotz in seiner Rede zum unmöglichen Theater von 2009, abgedruckt im Programmheft, proklamiert.
Die Frage nach individuellem Glück und der Wille, den Sinn des Lebens und dessen Irrsinn zu erkennen und im Gleichgewicht zu halten, bestimmt Einige Nachrichten an das All, das aus zusammenhanglosen sieben Episoden und einem Prolog besteht. Ein imaginäres ursprüngliches Ganzes wurde durch eine Explosion in Fetzen gerissen. Diese sind nun autark, gehören aber irgendwie doch zueinander („Wir befinden uns in einer Explosion, ihr Ficker“ ist der Untertitel). Das Stück entstand als Werkauftrag des tt Stückemarktes 2010 (gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung) und wurde 2012 am Nationaltheater Weimar uraufgeführt und kann sich seitdem einer respektablen Anzahl an Inszenierungen im deutschsprachigen Raum erfreuen.

Einige Nachrichten an das All
Schauspiel Frankfurt ~ Studiojahr Schauspiel
Kleist (Christina Thiessen), Purl Schweitzke (Philippe Ledun), Lum (Vincent Lang)
© Robert Schittko

Unter der körperbetonten Regie von Marc Prätsch, der seit dem Wintersemester 2012 Dozent für Szenische Grundlagen, Improvisation und Rollenunterricht im Studiengang Schauspiel und Regie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main (HfMDK) ist, sind bei Einige Nachrichten an das All alle Mitglieder des Studiojahr Schauspiel der Spielzeit 2017/18 zu erleben. Sie sind in ihrem 3. Ausbildungsjahr an der HfMDK und auch Mitglieder des Studiojahr Schauspiel (Letzteres ersetzt seit der Intendanzübernahme von Anselm Weber das bisherige SchauspielSTUDIO).
Die Bühne von Philipp Nicolai ist recht spartanisch ausgestattet, u. a. mit ein paar Matratzen für das Zuhause von Lum und Purl, einem Theatervorhang für das Theater im Theater und zwei Kinosessel für die Fußnoten. Die farbenfrohen und zum Teil grellen Kostüme von Tine Becker setzten demgegenüber mehr Akzente.

Den Prolog lässt Lotz vor den Kammerspielen beginnen. Alle Protagonisten kommen dabei von der gegenüberliegenden Verkehrsinsel herübergelaufen, natürlich erst, nachdem die Ampel auf Grün geschaltet hat. Eine Krankenschwester, eindrucksvoll in einem überlangen Kleid auf riesigen Stelzen, spricht ihre ersten Worte noch von außen (Nelly Politt, auch Eine Stimme über allem und Politikerin), dann nimmt sie ihren Platz an einer Kinderkrippe im Foyer der Kammerspiele ein, während ihre Gefolgschaft, Kinder „von der Krebsstation des städtischen Klinikums“, zunächst noch verteilt zwischen dem Publikum verweilt, um dann auch zum aus Mullbinden bestehenden Baby zu gehen. Mit dem Entwickeln des Babys geht es sodann, nachdem das Publikum vom Foyer in die Kammerspiele gezogen ist, auf der Bühne klassisch weiter.

Einige Nachrichten an das All
Schauspiel Frankfurt ~ Studiojahr Schauspiel
LDF (Felix Vogel), die Dicke Frau (Lisa Eder)
© Robert Schittko

Das Paar Lum (Vincent Lang, auch Hirte 1) und Purl Schweitzke (Philippe Ledun, auch Balthasar) besticht durch Fragen, auf die es keine Antworten gibt, um die Lösung aller Probleme dann in einem eigenen Kind zu sehen, das es zu gebären gilt. Der alleinerziehende Klaus Alberts (Gitarre spielend und mit schöner Singstimme: Nicolas Matthews, auch Unhold und Hirte 3) erzählt von einem Hund, der ein Loch gebuddelt hat und vom Unfalltod seiner Tochter Hilda. Eine dicke Frau, die vermeintlich mal zu Gast in der Talkshow „Britt“ war (im Fatsuit: Lisa Eder, auch Fußnoten, die nahezu unspielbar sind, und Caspar), nimmt den Leiter des Fortgangs (=Ldf; in der wohl dankbarsten Rolle mit Talent zur Komik: Felix Vogel, auch Hirte 2), ein Supertalent, der schon alles in diesem Leben geschafft hat, ordentlich ran. Dessen Postulat ist, nur keine Leere aufkommen zu lassen, was er nicht nur im Talkshowgespräch mit dem amerikanischen Botaniker Constantine Samuel Rafinesque (Kristin Alia Hunold, auch Hilda), der von 1783 bis 1840 lebte, immer wieder erwähnt. Auch der philosophierende Heinrich von Kleist höchstpersönlich tritt auf (Christina Thiessen).
Mittels einer technischen Apparatur gelingt es dem LdF, auf das Minimum reduzierte Botschaften in das All zu senden. So bilden „Mama“, „Bums“ und „Unterhaltung“ gewissermaßen den Sinn des Daseins, den das Stück artifiziell hinterfragt.

Viel Applaus für die energische Umsetzung von Marc Prätsch und die rasant spielenden acht Nachwuchsdarsteller vom nicht ganz üblichen Premierenpublikum.

Markus Gründig, März 18


KAFKA/AMERIKA ~ Der Verschollene

Theater Willy Praml, Frankfurt/M
Besuchte Vorstellung:
10., März 18 (Premiere)

Als dritten Beitrag im Zyklus „Nachdenken über Amerika“ zeigt das Theater Willy Praml jetzt in und um die Frankfurter Naxoshalle Franz Kafkas Amerika/Der Verschollene (eine Dramatisierung dieses Romanfragments war zuletzt 2015 in einer Inszenierung von Philipp Preuss in den Kammerspielen des Schauspiel Frankfurt zu sehen). Nicht zum ersten Mal heißt es beim Theater Willy Praml im Untertitel: „Ein szenischer Parcours durch das Naxos-Gelände“. Dass das Publikum nicht nur auf seinen Plätzen im Zuschauerraum bleibt, sondern auch die imposante Halle während einer Vorstellung betritt, gab es ja schon öfters, auch Neben- und Kellerräume wurden schon einbezogen. Für diese Inszenierung geht das bewährte Team um Willy Praml und Michael Weber (beide zeichnen für Idee und Konzept verantwortlich) noch einen Schritt weiter und bezieht Häuser der Nachbarschaft ein. Auch großformatige Live-Videoprojektionen sind Bestandteil der gut vierstündigen Aufführung. Vor der Länge muss sich niemand fürchten, die Reise des jungen Karl Roßmann nach Amerika wird häppchenweise an verschiedenen Orten gezeigt. Mit einer Pause und sechs Ortswechsel, für die jeweils mehrere Minuten drauf gehen, liegt die Nettospielzeit bei circa drei Stunden und es sind sehr abwechslungsreiche, unterhaltsame und spannende Stunden.

Dass der Vorname der Hauptfigur mit einem “K” beginnt, ist auch hier natürlich kein Zufall, denkt man an Kafkas Bankprokuristen Josef K. (Der Prozess) oder den Landvermesser K. (Das Schloss). Direkte Bezüge zwischen der Figur des gegen seinen Willen von seiner Familie nach Amerika geschickten Karl Roßmann und zum Autor gibt es zwar nicht, zumal Kafka nie in Amerika, das er nur durch Bücher kannte, war. Indirekte Bezüge gibt es dafür reichlich, schildert der Roman doch die Wechselbeziehung zwischen einem in die Ecke gedrängten Individuum und sein Scheitern in der modernen kapitalistischen Gesellschaft.

KAFKA/MERIKA ~ Der Verschollene
Theater Willy Praml, Frankfurt/M
Karl (Elisabeth Marie Leistikow), Pollunder (Claudio Vilardo), Mr. Green (Birgit Heuser)
Foto: Seweryn Zelazny

Die Inszenierung folgt den Kapiteln des Romans genau und schließt auch die Fragmente ein. Folglich beginnt der Abend mit dem Ende der Überfahrt und Karls Einsatz für den sich ungerecht behandelt fühlenden Heizer. Diese Szene spielt im Foyer am Fenster, auf Podestleitern und Treppenabsätzen, bei der das Publikum im Raum verteilt sitzt und das Geschehen auf vier verteilt aufgehängten Videowänden verfolgen kann. Die industrielle Hallenarchitektur des Gebäudes passt dabei ideal, um sich in den Maschinenraum eines großen Schiffes versetzt zu fühlen (Bühne: Michael Weber). Zunächst leicht verwirrend, dann schnell deutlich: Der 16-jährige Karl wird hier als universelle Figur gesehen. Folglich wird er von einer Frau gespielt, genauer: von drei Frauen (Virginia V. HartmannElisabeth Marie Leistikow und Anja Signitzer). Schon hier wird die besondere Erzählweise des Romans, die zwischen Ich-Form und dritter Person wechselt, bravourös und geschickt herausgestellt. Livebilder wechseln mit vorproduzierten Filmsequenzen (Filme und Livekamera: Rebekka Waitz). Weniger ernst geht es nach rund 30 Minuten in der Theaterhalle weiter, bei Karls wohlhabendem Onkel Jakob (der Millionär und Senator ist). Zuvor hatte das dreimalige Signal eines Typhons die Ankunft in New York verkündete.
Das Publikum sitzt nun ganz normal im Zuschauerraum, die Glaswand zur Halle ist mit LED-Lichterketten in den Farben der US-amerikanischen Nationalflagge umsäumt. Alle treten hier als sexy Häschen in weißen Blusen mit Schulterrüschen in schwarzen Minishorts und Netzstrümpfen auf (Kostüme: Paula Kern). Danach erfolgt die Aufteilung des Publikums in zwei Gruppen (die mit unterschiedlichen Papierarmbändern schon vor Beginn festgelegt wurde). Eine geht für die Szene „Landhaus bei New York“ auf Dachterrassen benachbarter Wohnhäuser und kann dort mit Blick auf die Frankfurter Skyline (und in fremde Wohnungen) das Geschehen auf der gegenüberliegenden Dachterrasse und eines Treppenhauses verfolgen (akustisch mittels ebenfalls zu Beginn ausgegebener Kopfhörer). Die andere Gruppe erlebt in der kleinen Spielstätte der Naxoshalle die Szene „Auf dem Weg nach Ramses“, bei der auch ein Fahrstuhl des gegenüber liegenden Hauses als Überleitung zum Hotel Occidental geschickt eingebunden wird. Beide Szenen werden natürlich für die jeweils andere Gruppe wiederholt.

KAFKA/MERIKA ~ Der Verschollene
Theater Willy Praml, Frankfurt/M
Robinson (Jakob Gail), Karl (Virginia V. Hartmann), Delamarche (Michael Weber)
Foto: Seweryn Zelazny

Kafkas Liebe zum Stummfilm wird bei „Hotel Occidental“ humorvoll aufgriffen, live Gesprochenes mit Filmmaterial trefflich vermengt. Groteske Züge gibt es bei Karls fristloser Kündigung im Bettenlager des Hotels („Der Fall Robinson“) und bei Bruneldas umtriebiger Waschaktion, zu der das Publikum in der Theaterhalle auf Papphocker sitzt („Ein Asyl“). Von dort wird auch das besinnlich anmutende unspektakuläre Ende im Zuschauerraum verfolgt („Naturtheater von Oklahoma“). Musik verdichtet zudem die atmosphärisch.

KAFKA/MERIKA ~ Der Verschollene
Theater Willy Praml, Frankfurt/M
Oberportier (Claudio Vilardo), Karl (Virginia V. Hartmann)
Foto: Seweryn Zelazny

Großer Respekt für die ausgefallene, einfallsreiche und detaillierte Umsetzung des Stoffes, die hier längst nicht abschießend erwähnt ist, für die anhaltende Energie auch der weiteren Darsteller (Jakob GailMuawia HarbBirgit HeuserIbrahim MahmoudClaudio Vilardo und Michael Weber), die in die unterschiedlichsten Rollen (wie Oberkassierer, Obermaschinist Schubal, Onkel Jakob, Halunken Delamarche und Robinson, Geschäftsmann Pollunder, Mr. Green, Oberköchin Grete Mitzelbach, Oberportier und  Oberkellner) und Kostüme schlüpfen, für die vielen Einfälle des Regisseurs Willy Praml und für die gelungene komplexe Umsetzung (zeitliche Koordinierung und Technik), an so vielen unterschiedlichen Orten spielen zu können (Musikalische Bearbeitung und Toneinrichtung: Jakob Rullhusen).

Sehr viel Applaus für diesen bemerkenswerten Abend, der die sozialkritischen Aspekte in Kafkas Amerika pointiert präsentiert.

Markus Gründig, März 18


Locals Play Global

Schauspiel Frankfurt Jugendclub
im Museum für Moderne Kunst 1 Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 3. März 18

kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Unter dem verheißungsvollen Titel Locals Play Global präsentiert der Jugendclub des Schauspiel Frankfurt in Kooperation mit dem Museum für Moderne Kunst (MMK) Frankfurt sein neuestes Projekt. In der interaktiven Performance treten acht junge Theaterinteressierte bei der Reflexion über Persönliches in Interaktion mit Ausstellungsstücken. Das Konzept stammt von der erfahrenen Theaterpädagogin Martina Droste und der Kunstvermittlerin Katharina Mantel (vom MMK), die beide auch für die Regie zuständig sind (unterstützt von Philipp Boos).

Noch bis zum 2. April 2018 ist im MMK1 die Ausstellung A Tale of Two Worlds zu sehen, bei der experimentelle Kunst Lateinamerikas der 1940er- bis 80er-Jahre, vom Museo de Arte Moderno de Buenos Aires, in Dialog mit der Sammlung des MMK steht. Die Ausstellung ist schon für sich faszinierend, folgt das Haus doch damit dem Aufruf der Kulturstiftung des Bundes an bedeutende Museen Deutschlands, ihre Sammlungen in eine globale Perspektive zu rücken.

Zwar haben die acht jungen Performer (Lea BachNoa BonnLeon BornemannTara El ZaherMaxime MüllerLuis SkalierisSiar Yildiz und Tamoor Zafar) ihre Wurzeln nicht nur in Deutschland, bei ihren Fragen und Statements die aus dem intensiven Studium der Ausstellung entstanden, bleiben sie jedoch mehr im hier und heute, als in der globalen Welt. Allerdings haben die Kunstobjekte nachhaltige Eindrücke auf sie gemacht, die sie nun in unterschiedlichen Formen vermitteln.

Locals play global
Schauspiel Frankfurt ~ Junges Schauspiel im MMK1
Ensemble
© Jessica Schäfer

Beginn ist im großen Raum des Erdgeschoss (Ausstellungsbereich „Eine Brücke zwischen zwei Welten“), in dem sich all an unterschiedliche Welten erinnern, die sowohl blau als auch grün sein kann. Wie dies zu deuten ist, erschließt sich erst, nachdem man selber die Ausstellung durchlaufen hat. Denn das ist bei diesem Abend Programm. Zwar nicht vollständig, aber doch werden viele Räume aufgesucht. Aus Platz- und Zeitgründen erfolgt dies dann in kleineren Gruppen und parallel. Die einzelnen Kurzperformances werden dann geloopt, also wiederholt, sodass niemand etwas versäumt.

Locals play global
Schauspiel Frankfurt ~ Junges Schauspiel im MMK1
Ensemble
© Jessica Schäfer

Manche erzählen von ihrer Kindheit im Ausland, wo sie von ihren Mitschülern wegen ihres Aussehens gemobbt wurden, hier aber nicht zuletzt durch einen anderen Kleidungsstil an Selbstbewusstsein gewonnen haben. Oder sie berichten, wie wichtig Vergangenheit für sie ist und wünschen sich Familienmitglieder her, die noch im Ausland leben. Dann geht es aber auch konkret um ausgestellte Kunstwerke, wie um die von Mathias Goeritz im Raum „Alchemie und Kolonisation“, dessen Objekte „Vergoldetes und gelochtes Blech auf Holz“ Erinnerungen an eine Käsereibe wecken oder dessen Silberbarren ob seiner Vollkommenheit fasziniert. Eine Glasscheibe dient allen als Objekt, um Nähe und Abweisung zu erkunden. Mit Bildern der Grünfärbung des Canal Grande 1968 in Venedig durch den argentinischen Künstler Nicolás Uriburu wird der Frage nachgegangen, wie echt Kunst ist. Um destruktive Gefühle geht es im Raum „Eine Strategie der Zerstörung in Europa und Lateinamerika“, um das, was beschützt (wie die Mutter) und füreinander dazu sein im Raum mit auf dem Boden ausliegenden Eiern („Der soziale Körper: Erkunden der Grenzen der Gesellschaft inmitten sozialen Aufruhrs“). Nach 100 Minuten endet der Abend da, wo er begonnen hat, nur dass jetzt die Statements aus der Höhe gesprochen werden. Auch die Kleidung der acht Performer korrespondiert mit den ausgestellten Kunstwerken, eine weitere Sache, die es zu entdecken gilt (Kostüme: Joanna Paskiewicz).

Großer Zuspruch für einen Abend, der bildende und darstellerische Kunst schön verbindet und Lust weckt, beide Welten weiter zu erkunden.

Markus Gründig, März 18


Amphitryon

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
9. Februar 18 (Premiere)

Nach Richard IIIWoyzeckDas siebte Kreuz, Romeo & Julia und Das Schloss geht im Schauspielhaus des Schaupiel Frankfurt die Auseinandersetzung mit Klassikern munter weiter. Und dies im wahrsten Sinn des Wortes. Denn Heinrich von Kleists Amphitryon, das jetzt Premiere feierte, ist ein Lustspiel (in drei Akten, nach Molière). So die offizielle Bezeichnung. In Wahrheit ist es aber eher eine Tragikomödie. Denn am Ende gibt es nur Verlierer. Nachdem Gott Jupiter in Gestalt des Feldherrn Amphitryon dessen Frau Alkmene verführt hat, kann er als Gott Jupiter aber nicht ihr Herz erobern. Amphitryon wurde betrogen und Alkmene ist nun nicht nur ungewollt schwanger, sondern auch zutiefst verstört.

Amphitryon wurde am Schauspiel Frankfurt zuletzt in der Spielzeit 2008/09 von Florian Fiedler inszeniert. Für die aktuelle Neuinszenierung wurde Erfolgsregisseur Andreas Kriegenburg verpflichtet, der nicht nur schon 2010 im Bockenheimer Depot Der Diener zweier Herren, in der Oper Frankfurt 2011 Puccinis Tosca inszenierte, sondern auch im Schauspielhaus Tschechows Möwe (2013), Shakespeares Sturm (2016) und im vergangenen Jahr Marbers Drei Tage auf dem Land. Sein poetischer, oftmals träumerischer Inszenierungsstil ist auch bei Amphitryon unverkennbar, wenn auch er sich hier ganz anders zeigt. Er lässt den Figuren viel Zeit, sodass die Aufführung fast drei Stunden dauert (inklusive einer Pause, die es aber erst nach gut zwei Stunden gibt).

Amphitryon
Schauspiel Frankfurt
Alkmene (Patrycia Ziolkowska), Jupiter (Fridolin Sandmeyer), hinten: Sosias (Christoph Pütthoff), Charis (Friederike Ott)
© Birgit Hupfeld

Die Vorstellung beginnt im Dunkeln mit einer kurzen Sequenz von eingespieltem Großstadtlärm in Form von Gehupe und amerikanischen Polizeisirenen. Dann wird der Blick frei auf zwei Tunnelröhren mit großen Öffnungen, ähnlich wie man sie aus den Alpen kennt. Die übereinanderliegenden Röhren beinhalten jedoch keine unmittelbaren Straßen, dafür fehlen Bodenmarkierungen, Leitplanken und Fluchtwegsignale. Die Röhren nehmen durch ein paar Möbel schnell zeitgemäßen Wohncharakter an, da ist das Schloss Amphitryons fast schon ein mondäner Betonbungalow mit Wohn-, Arbeits- und Körperpflegebereichen. Dieser unwirkliche Raum weckt unterschiedliche Assoziationsräume (auch Verbindungsgänge an Flughäfen oder U-Bahn-Stationen sind denkbar). Einerseits ist so eine Röhre ja ein geschützter Raum. Durch die großen Öffnungen ist er gleichsam öffentlich. Nichts von dem was sie sagen oder tun bleibt verborgen (Bühne: Harald B. Thor).

Ist die Inszenierung auch weit von einer possenhaften Inszenierung entfernt, heitere Momente gibt es zuhauf. Schon gleich zu Beginn, wenn das Dienerduo als gewissenhafte Büroangestellte mit Aktentasche (vielseitig: Christoph Pütthoff als Sosias und Sebastian Reiß als latent gewaltbereiter Merkur/Sosias) aufwartet oder wenn später die puppenhafte Charis der Friederike Ott von ihrem Sosias ruhiggestellt wird, um sodann vom vermeintlich gleichen herzhaft angesprochen wird und sich in eine Abwehrposition bringt.

Amphitryon
Schauspiel Frankfurt
Alkmene (Patrycia Ziolkowska), Jupiter (Fridolin Sandmeyer), Sosias (Christoph Pütthoff), Merkur (Sebastian Reiß), Amphitryon (Max Simonischek), Charis (Friederike Ott)
© Birgit Hupfeld

Prägendstes Merkmal der Inszenierung ist ein sehr körperlicher Ansatz, ohne Kleists einmaligen Versstil zu leugnen (es gibt nur marginale Textaktualisierungen). Insbesondere die Alkemene der Patrycia Ziolkowska spielt dadurch fast doppelt. Einmal durch das gesprochene Wort, oftmals aber auch viel intensiver durch ihre Körpersprache. Sei es als in der Hocke Nachdenkende oder sich an einer Brüstung Windende. Am Ende ist sie über sich selbst mehr als desillusioniert.
Es gibt sogar ein gut 10-minütiges musikalisches Intermezzo, bei dem zu lieblichen Klängen (die aber von reichlich Dissonanzen konterkariert werden) die Figuren quasi pantomimisch spielen und so ihren Fragen nach ihrem eigenen Selbst Ausdruck verleihen. Nicht zuletzt durch die sporadisch eingesetzten, die ganzen Röhren durchlaufenden, Laufbänder hetzen sie den Ereignissen, dem Leben, hinterher.
Als verführerischer Jupiter/Amphitryon entwickelt sich Fridolin Sandmeyer vom leidenschaftlichen Liebhaber zum wütenden und zornigen Gott. Max Simonischek, im schwarzen Anzug (Kostüme: Andrea Schraad), ist über weite Teile ein besonnener Feldherr der Thebaner, bis auch er am Ende, durch zusätzliche Gewalteinwirkung, zusammenbricht.

Sehr viel und langer Applaus, bei dem sich Christoph Pütthoff allerdings nur beim ersten Auftritt zeigte. Wie das Schauspiel Frankfurt später auf seiner Webseite bekannt gab, erblickte ein Kind Pütthoffs kurz vor dem Ende der Premiere das Licht der Welt, was den jungen Vater nicht beim Schlussapplaus verweilen ließ. Auch von hier aus herzliche Glückwünsche an die Eltern!

Markus Gründig, Februar 18


8BAR LEBEN! Lieder für eine bessere Verfassung

Schauspiel Frankfurt ~ Studiojahr Schauspiel
Besuchte Vorstellung:
28. Januar 18 (Premiere)

Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist.
Es wär nur deine Schuld, wenn sie so bleibt.

(aus „Deine Schuld“ von Die Ärzte)

kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Einst waren sie Mitglieder des Schauspiel Frankfurt STUDIOs, heute sind sie Ensemblemitglieder: Katharina Bach (am Schauspiel Frankfurt), Christian Erdt (am Residenztheater München) oder Carina Zichner (am Berliner Ensemble). Für sie, wie für viele andere, war der Weg über das Schauspiel Frankfurt STUDIO ein wichtiger Schritt für ihre berufliche Entwicklung. Mit der Spielzeit 2017/18 und unter der Intendanz von Anselm Weber gibt es das Schauspiel Frankfurt STUDIO nicht nur weiterhin, es wurde inhaltlich und personell erweitert und heißt jetzt Studiojahr Schauspiel. Durch Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Frankfurt/M sind deren Schauspielschüler des 3. Ausbildungsjahres gewissermaßen Ensemblemitglieder auf Zeit, können also schon während der Ausbildung reale Praxiserfahrung sammeln.
Nun präsentierten sie in der Panoramabar ihr erstes gemeinsames Programm: 8BAR LEBEN! Lieder für eine bessere Verfassung.

8BAR LEBEN! Lieder für eine bessere Verfassung
Schauspiel Frankfurt ~ Studiojahr Schauspiel
Lisa Eder, Nicolas Matthews, Christina Thiessen, Kristin Alia Hunold, Nelly Politt, Felix Vogel, Philippe Ledun, Vincent Lang
© Jessica Schäfer

Die im Programmflyer als „Hopeful Eight“ bezeichneten NachwuchsschauspielerInnen (Lisa EderKristin Alia HunoldVincent Lang, Philippe LedunNicolas MatthewsNelly PolittChristina ThiessenFelix Vogel) begeben sich dabei mit großem Eifer auf einen Diskurs, der Grundfragen des Daseins behandelt. Wer will ich sein, wie will ich sein, wie kann die Welt verändert werden…
Unter der musikalischen Leitung von Günter Lehr, der auch am Klavier begleitet, werden 29 unterhaltsame wie tiefgründige Lieder gesungen, das Programm dauert inklusive einer Pause kurzweilige 100 Minuten. Die Lieder mit Botschaft stammen u. a. von Großstadtgeflüster, Rio Reiser, Tocotromnic und vielen mehr. Eingebunden wurde das Ganze in das Schicksal von Maskottchen aus Freizeitparks (wie Europapark, Holiday Park, oder Phantasialand). Bei den zur Freude von Kindern gedachten Figuren, sieht es unter den Kostümen längst nicht so unbekümmert aus, wie ihr äußerer Anschein es vermitteln will. Redeverbot, Dauergrinsen und oftmals schwere Gesichtsmasken, die auf den Rücken drücken, setzen den jeweiligen Mitarbeitern oftmals hart zu, auch wenn die vorgetragene Stellenausschreibung von einer entspannten Arbeitsatmosphäre kündet. Bei 8BAR LEBEN! sind Micky Maus, Schweinchen Dick, eine Biene, ein Schaf, ein Gockel und weitere Figuren vertreten. Regisseurin Daniela Kranz (auch Austattung) lässt sie stets im ganzen Raum singen, auf Rollschuhen Runden drehen oder am Publikum vorbeirennen. Selbst die Theke der Panoramabar ist vor den Akteuren nicht sicher. Egal ob solistisch oder als Ensemble (mit etwas Startschwierigkeit beim ersten Ensemblelied), die Nähe zum Publikum ist immer gegeben. Und es gibt auch ruhigere Songs, vor allem im Teil nach der Pause (in dem sie sich zunächst im lila Glitzerkleid präsentieren, später in schwarzen Shirts und Shorts). Gesungen wird überwiegend auf deutsch, etwas in englisch und der Jaques Brel Song Dans “le port d´Amsterdam“ auf französisch (von Philippe Ledun). Manche bringen sich zudem mit einem Musikinstrument ein, wie Nicolas Matthews mit dem Saxofon. Und dass sie sich in Frankfurt wohlfühlen, beweisen sie nicht zuletzt mit einem, teilweise auf hessisch gesungenen, „Frankfurt“-Song von Rio Reiser, den sie in Kurzfassung auch als Zugabe gaben. Großer Applaus vom begeisterten Publikum.

Markus Gründig, Januar 18

Das erste Stück mit allen Acht feiert am 17. März 18 in den Kammerspielen Premiere: Einige Nachrichten an das All von Wolfram Lotz.


Romeo und Julia

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
20. Januar 18 (Premiere)

Keine Liebesgeschichte ist so bekannt, wie Shakespeares tragische von Romeo und Julia aus dem späten 16. Jahrhundert. Keine wurde so erfolgreich in weiteren literarischen und musikalischen Werken verarbeitet, wie diese. Wer sie heute auf die Bühne bringt, muss sich deshalb schon einiges einfallen lassen, um das Publikum in den Bann zu ziehen. Am Schauspiel Bochum feierte im März 2017 eine Neuinszenierung des Stücks in der Regie von Marius von Mayenburg (der auch als Autor, Übersetzer und Dramaturg arbeitet) Premiere, diese Inszenierung wurde von dem zu Spielzeitbeginn von Bochum nach Frankfurt gewechselten Intendanten Anselm Weber mit nach Frankfurt gebracht, wo sie ab sofort zu sehen ist. Marius von Mayenburg hat sich für seine Inszenierung des Klassikers der Weltliteratur einiges einfallen lassen und gründlich bearbeitet, um es für heutige Sehgewohnheiten packend zu präsentieren.
Das fängt schon bei der eigenen Übersetzung und Fassung an, die traditionelle Shakespearesprache mit zeitgemäßer Jugendsprache verbindet. Auf korrekte Umgangsformen wurde dabei verzichtet, schließlich geht es hier nicht nur um die Hinterfragung, was Liebe ist, sondern auch um den verbitterten Kampf zweier verfeindeter Familien, die der Montagues (Romeos Seite) und Capulets (Julia). Deren Spaltung steht hier nicht zuletzt für die Zerrissenheit der Welt. Eine hemmungslose Spirale der Gewalt nimmt immer raschere Fahrt auf, bis am Ende nicht nur das bekannte Liebespaar tot ist.

Romeo und Julia
Schauspiel Frankfurt
Juliet (Sarah Grunert), Romeo (Torsten Flassig)
© Thomas Aurin

Eine große hohe weiße Mauer teilt in Marius von Mayenburgs Inszenierung die verfeindeten Familien (Bühne: Stéphane Laimé) und schützt sie voreinander. Das Unheil abwenden kann diese Mauer freilich nicht. Als Clou der Inszenierung wurde sie auf der Bühne in voller Breite errichtet, während das Publikum auf beiden Seiten, also auch auf der Bühne, sitzt. Mit Kauf der Eintrittskarte ist entschieden, ob man die Tragödie ausschließlich von Seiten der Montagues (Saal) oder Capulets (Bühne) sieht. Dank Videoprojektionen (Live-Video: Oliver RossolLena Reidt und die Darsteller) wird das Geschehen der jeweils gegenüberliegenden Seite jedoch auf die Mauer projiziert. Für den als hemmungslose Splatterorgie gezeigten Ball bei den Capulets, bei dem lustvoll Innereien roh verspeist werden, gibt es zusätzliche Projektionen einer feiernden Bande im Fetischoutfit (Video: Sebastien Dupoueyu).
Eine weitere Besonderheit dieser Inszenierung ist, dass die Figur von Julias Amme und ihrer Mutter jeweils von Männern gespielt wird. Dies ist nicht nur eine erheiternde Bereicherung, sondern verdeutlicht zugleich die Allgemeinheit ihrer Aussagen. Eine gewisse Todessehnsucht ist omnipräsent, nicht zuletzt in den Kostümen von Miriam Marto und durch den Bezug zu Sex, Drugs und Rock‘n‘Roll.
Für die rasante und lebhafte Inszenierung, die die performative Ebene stets offen zeigt, wurden von Matthias Grübel zahlreiche Songs neu arrangiert und eingespielt. So gibt es Musik von Leonard Cohen, Kavinsky, Conor Oberst, den Fugees (bzw. Fox/Gimbel), Mike Oldfield bis hin zu Michael Jackson (und auch etwas Chopin und sich ins düstere entwickelnde Soundscapes).

Romeo und Julia
Schauspiel Frankfurt
Paris (Fridolin Sandmeyer), Capulet (Matthias Redlhammer)
© Thomas Aurin

Inzwischen hat man ja die seit Spielzeitbeginn neu am Schauspiel Frankfurt engagierten Darsteller schon gesehen, wie beispielsweise Matthias Redlhammer in Invisible Hand und Hubands and WifesTorsten Flassig in Das Ministerium der verlorenen ZügeFridolin Sandmeyer in Woyzeck und Tintenherz oder jüngst Sarah Grunert und Nils Kreutinger in Am Königsweg. Ihre Wandelbarkeit zeigen hier alle großartig. Sarah Grunert ist eine starke, vielschichtige Juliet, Torsten Flassig ein zunächst verträumter, dann immer skrupelloserer Romeo. Beide zusammen bilden ein ergreifendes Paar, abseits klassischer Klischees. Jakob Benkhofer gefällt als Fürst Escalus und Freund Mercutio, Michael Schütz als Oberhaupt Montague und vor allem als Bruder Lorenz (in Gestalt des Prince of Darkness Ozzy Osborne, dem Leadsänger von Black Sabbath). Nils Kreutinger gibt neben Benvolio die umtriebige, naschfreudige und geschäftstüchtige Amme mit starkem Einsatz. Als die Fäden im Hause Capulet zusammenhaltendes Familienoberhaupt zeigt Matthias Redlhammer beeindruckend die volle Härte dieser Figur. Dass die Premierenaufführung überhaupt stattfinden konnte, ist vor allem Fridolin Sandmeyer zu verdanken, der sich am Tag davor bei einer Probe am Knie verletzt hatte und zunächst ins Krankenhaus kam. Er spielte die Premiere mit Einschränkung des rechten Beins und großer Beinohrthese, die aber gar nicht so fremd wirkte, schließlich ist sein Tybalt auch eine finstere Figur (er gibt auch den Grafen Paris und stirbt so gleich zwei Bühnentode).
Am Ende, das die Versöhnung der Familien vorenthält, starker Beifall für die plakative Umsetzung und zumindest auf der Seite der Capulets zusätzliches lautstarkes Getrampel und Standing Ovations. Hinsichtlich der Intensität des Beifalls auf beiden Seiten, kann nahezu von einem Battle der Zuschauer gesprochen werden.

Markus Gründig, Januar 18


Das Schloss

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
13. Januar 18 (Premiere)

Mit einer Dramatisierung von Franz Kafkas Romanfragment Das Schloss stellte sich jetzt Regisseur Robert Borgmann dem Frankfurter Publikum vor (am Staatstheater Mainz war von ihm u. a. 2014 bereits ein Urfaust zu sehen). In Anbetracht der umfassenden 25 Romankapitel ist es nicht verwunderlich, dass der Abend mit gut dreieinhalb Stunden auch eine gewisse Länge hat. Zudem nimmt sich Borgmanns Inszenierung sehr viel Zeit, um in die geheimnisvolle, brüchige, bedrückende und oftmals irrsinnig anmutende Welt des Landvermessers K. einzutauchen. Der düsteren Grundstimmung des unvollendeten letzten Romans von Kafka hat sich Borgmann gewissenhaft und gründlich genähert. Das erfordert vom Publikum allerdings auch Durchhaltevermögen (insbesondere im zweiten Teil nach der Pause, mit mehreren langen Monologen). Gab es zur Pause zwar auch einen Buh-Ruf, so folgte am Ende ein starker und lang anhaltender Applaus, für Darsteller und Regieteam gleichermaßen (vielleicht war der Buh-Rufer auch in der Pause gegangen, wie manch andere auch, denn nach der Pause waren manche Plätze leer).

Das Schloss
Schauspiel Frankfurt
K. (vorne: Max Mayer), Lehrer (hinten: Isaak Dentler)
© Birgit Hupfeld

Anstrengend ist schon der Beginn in der Winternacht. Ein nackter, extrem fettleibiger alter Mann (Kostüme: Thea Hoffmann-Axthelm) kauert in einer nur schwach erleuchteten Ecke. Er schleppt sich mühevoll zu einem WC, zu Wasserhähnen (aus denen nur Sand, als Bild für die Zeit, fließt) und dann langsam wieder zurück in seine Ecke, dies alles nicht nur einmal. Dazu ertönt ein schwerfälliges Atmen, später ein wimmernder elektronischer Sound (Live-Musik: Philipp Weber; Musik: Robert Borgmann / Philipp Weber). Borgmanns kahle Bühne, verschlissener Asphaltboden, feine Sandfläche und ein aus dem nichts kommendes und ins nichts führendes Stück Eisenbahnschiene, dazu hohe Wände aus schwarzen Ziegelsteinen, greifen die im Roman beschriebene düstere Atmosphäre auf, die vom grellen Licht (aus dem Off oder vom riesigen Bogen aus Neonröhren im vorderen Bühnenbereich) ab und an unterbrochen wird . Alle wichtigen Figuren des Romans treten bei K.‘s Versuch in das Schloss zu kommen bzw. im Dorf sesshaft zu werden, auf. Dabei ist ganz besonders Max Mayer als K. ob seiner bedingungslosen Rollenhingabe ein Erlebnis. Sehr präsent zeigen sich Katharina Bach (Frieda / Amalia), Katharina Knap (Wirtin / Olga) und Heiko Raulin (Gerstäcker / Barnabas / Momus). Rollenbedingt leider nur jeweils kürzer dabei: Isaak Dentler (Lehrer / Wirt / Archivar), Altine Emini (Pepi / Mizzi), Stefan Graf (Gehilfe Jeremias), Wolfgang Pregler (Vorsteher / Bürgel) und Samuel Simon (Gehilfe, Arthur). Die schon im Roman angelegten unterschiedlichen Erzählperspektiven werden auch in der Inszenierung fortgeführt, sodass am Ende nicht nur K. am Ende ist, auch wenn es in Borgmanns Fassung mit einer Art Nachfolger weitergeht.

Markus Gründig, Januar 18


Am Königsweg

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
12. Januar 18 (Premiere)

Es ist eine Weile her, dass Stücke der vielfach ausgezeichneten österreichischen Schriftstellerin Elfriede Jelinek (2004: Nobelpreis für Literatur, 2017: deutscher Theaterpreis Der Faust für ihr Lebenswerk), am Schauspiel Frankfurt gezeigt wurden. Zuletzt war das in 2011. Seinerzeit inszenierte Philipp Preuss ihre Wirtschaftskomödie Die Kontrakte des Kaufmanns im MA-Gebäude und Bettina Bruinier im Bockenheimer Depot ihre Schubert-Hommage Winterreise. Ihr aktuelles Stück Am Königsweg, im Oktober 2017 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg uraufgeführt, wird in den Kammerspielen gespielt. Es ist die dritte Inszenierung dieses Stückes, das bereits auch am E.T.A.-Hoffmann-Theater in Bamberg und, verwoben mit Alfred Jarrys König Ubu, am Theater an der Ruhr in Mülheim zu sehen war (und als nächstes in Zürich, Heidelberg und Berlin zu sehen sein wird).

Für die Regie konnte das Schauspiel Frankfurt den jungen Belgrader Regisseur Miloš Lolic gewinnen (der im Dezember 2016 am Volkstheater Wien Jelineks Rechnitz inszenierte). Es ist seine erste Arbeit für das Haus. Zusammen mit dem Dramaturgen Konstantin Küspert und den beteiligten Darstellern wurde ein Extrakt aus Jelineks umfangreichen Text gefiltert (ca. 30 %), sozusagen die Highlights. Ein übliches Stück ist auch Am Königsweg nicht. Auch hier gibt es keine Geschichte die erzählt wird, keine Figuren. Aber ein Thema, und das ist der US-amerikanische Präsident Donald Trump, auch wenn sein Name kein einziges Mal fällt. Wie konnte es passieren, dass ein solch polarisierender Multimillionär zum Präsidenten gewählt wurde? Ihr Gedankenfluss entstand in der Zeit zwischen seiner Nominierung (Juli 2016) und seiner Amtseinführung (Januar 2017). Jelinek zieht auch Parallelen zu mythischen Figuren, wie König Oedipus und stellt schon im Untertitel zu ihrer Textcollage die Frage nach einem guten (Vespasian) oder schlechten (Cola di Rienzo) Volkstribun zur Disposition.

Am Königsweg
Schauspiel Frankfurt
Nils Kreutinger, Heidi Ecks, Sarah Grunert, Wolfgang Vogler (v.l.n.r.)
© Robert Schittko

Jelineks Texte wollen von jedem Zuschauer erschlossen werden, Gedankenräume öffnen und zum Nachdenken anregen. In seiner farbenfrohen, lebhaften und temporeichen Inszenierung, die ohne Musik und Video auskommt, bietet Regisseur Miloš Lolic dem Publikum einen passenden und überaus zugänglichen äußeren Rahmen. Zu Beginn tritt ein Mann in einem Raumfahrtanzug von der linken Seite des Saals zur Bühne vor. Diese besteht aus einem plüschigen und schwülstigen rosa gefärbten massiven Vorhang mit Goldbordüren (Bühne: Evi Bauer). So startet der Abend gewissermaßen mit einem Blick von außen auf unsere Welt (später wird die Frage nach der Weltanschauung auch inhaltlich thematisiert), die auf den ersten Blick schön verträumt aussieht. Doch schon bald tut sich ein großes Loch auf und zahlreiche Figuren aus US-amerikanischen Unterhaltungsfilmen beherrschen die Szenerie, die nach und nach dekonstruiert wird, bis zum Schluss hin die Bühne ganz leer ist. Als sexy Rettungsschwimmerin C. J. (Baywatch), amerikanischer Football Star, FBI Agentin, Freddy Krüger (A Nightmare on Elm Street), Volkstribun, barocker Adliger, Spock (Star Trek), Latex-Domina, Carrie, Pinhead (Hellraiser) u.v.m. (Kostüme: Jelena Miletic), erscheinen Heidi EcksSarah GrunertNils KreutingerMichael Schütz und Wolfgang Vogler alle in mehrfachen Rollen. Es sind gewissermaßen Filmpaten für die im Text Erwähnten (wie der Nachbar oder die Mutter von Oedipus). Jelineks artifizieller Text bekommt dadurch eine weitere Ebene. Die jedoch nicht vom Text ablenkt, sondern das Zuhören erleichtert. Zumal alle fünf Jelineks Text hervorragend vortragen (und manche sich dazu schon fast artistisch betätigen).
Jelineks oftmals rhythmischer Sprachstil wird besonders deutlich, wenn alle als japanische Geishas über die Bühne trippeln. Zwischendurch schleicht auch immer wieder Alf, der außerirdische Gordon Shumway vom Planeten Melmac, über die Bühne. Zum Ende hin entpuppt er sich als der junge Tänzer Luciano Hiwat (der schon als 13-jähriger bei Das Supertalent die Jury und das Publikum begeisterte). Mit seiner dunklen Hautfarbe hebt er sich äußerlich von allen Hellhäutigen ab und präsentiert mit seinen Tanzbewegungen ein Gegenbild zu den intellektuellen Fragestellungen. Zum Schluss gibt es ein deutliches Symbol für die Ohnmacht der Intellektuellen angesichts Trumps Aufstieg: Das, was als Rettung der Welt dienen sollte, wird zertrümmert (hier in Form eines Feuerlöschers aus Gips).
Am Ende starker Applaus für alle Darsteller und für Miloš Lolics vielschichtige und rasante Umsetzung des Destillats von Jelineks Am Königsweg.

Markus Gründig, Januar 18