Über die Mächtigen und das Volk: »Boris Godunow« an der Oper Frankfurt

Boris Godunow ~ Oper Frankfurt ~ Boris Godunow (Alexander Tsymbalyuk) ~ © Barbara Aumüller (szenenfoto.de)
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Fast 30 Jahre ist die letzte Neuinszenierung von Modest Mussorgskis großer Oper Boris Godunow her. Im Dezember 1996 zeigte die Oper Frankfurt das Werk in der Regie von Lluís Pasqual und unter der musikalischen Leitung von Sylvain Cambreling. Jetzt erfolgte die fünfte Neuinszenierung nach 1945. Der britische Regisseur Keith Warner zeigt Mussorgskis Oper als ein bebildertes Porträt über Machthaber und Volksmassen, die denen frenetisch folgen. Warner erarbeitete an der Oper Frankfurt zuletzt den Doppelabend Der Zar lässt sich fotografieren / Die Kluge (er wird im Juni 2026 wiederaufgenommen).

Prägnant herausgearbeitete Musik

Generalmusikdirektor Thomas Guggeis und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester arbeiten Mussorgskis wehmütig-kraftvolle Musik prägnant heraus. Gespielt wird, erstmals an der Oper Frankfurt, die etwas eigenwillige und lange Fassung von Dimitri D. Schostakowitsch von 1939/1940. Diese unterscheidet sich in Instrumentation, Aufbau und teilweise in der Dramaturgie von den anderen. Schostakowitsch orchestrierte reicher und differenzierter. Musikalisch bietet diese Fassung eine Vielzahl an ungewöhnlichen Klangfarben, die der Oper einen modernen Anschein verleihen. Sie ist zugänglicher und, besonders bei den Volksszenen, emotional wuchtig. Das jüngst erneut als „Bestes Orchester“ ausgezeichnete Frankfurter Opern- und Museumsorchester vermittelt Schostakowitschs Neudeutung von Mussorgskis Oper mit ergreifendem Verve.

Dunkle und karg ausgestattete Räume

Die Geschichte um den Zaren Boris Godunow beschäftigte bereits Alexander Puschkin (Roman „Boris Godunow“) und Nikolai Karamsin (Sachbuch: „Geschichte des Russischen Imperiums“). Ihre Arbeiten dienten Mussorgski als Grundlage seiner 1874 uraufgeführten Oper in zehn Bildern und einem Prolog. Die eigentlich in Russland und Polen im Zeitraum von 1598 bis 1605 spielende Handlung ist bei Keith Warner weder zeitlich noch örtlich fest fixiert. Für die einzelnen Bilder zeigt Bühnenbildner Kaspar Glarner dunkle und karg ausgestattete Räume, die nicht unmittelbar auf Moskau/Russland anspielen. Für russisches Kolorit sorgen in erster Linie die Kostüme (auch Kaspar Glarner), seien es graue Arbeiterkluften oder prachtvolle Gewänder und Kleider für die besitzende Klasse.

Boris Godunow
Oper Frankfurt
Marina Mnischek (Sofija Petrović) und Rangoni (Thomas Faulkner)
© Barbara Aumüller ~ szenenfoto.de

Ein Gerüst mit drei Ebenen beherrscht viele Szenen, es wird aber nur wenig bespielt. Dafür wirkt es wie eine omnipräsente übermächtige Bedrohung durch den Staat. Tische, eine große Regalwand und eine runde Projektionsfläche für eine Uhr finden ergänzend Platz auf der Bühne. Am kargsten ist der 3. Akt („Polen-Akt“) gestaltet, mit lediglich einem Standspiegel, einem Bett und raffinierten Videoprojektionen von polnischen Landschaften (Video: Jorge Cousineau).

Vom Überfluss und Niedergang

Im finalen vierten Akt befindet sich ein schwarzes und kunstvoll verziertes überdimensional großes Ei auf der Bühne. Es spielt auf die legendären Eier des russischen Goldschmieds Peter Carl Fabergé an. Seine Kreationen wurden zum Symbol des Überflusses, aber auch des Niedergangs der letzten Zaren-Dynastie (der Romanows). Bei der Gestaltung der Eier hatte Fabergé die volle Freiheit, einzige Vorgabe war, sie mussten eine Überraschung beinhalten. Hier ist es der Zar selbst, der aus dem Ei heraussteigt. Eier als Symbole für den Kreislauf des Lebens gibt es zum Ende hin. Im Schlussbild entsteigt der Gottesnarr (Michael McCown) einem großen Ei.

Starke Stimmen

Neben der musikalischen Seite dieser Produktion besticht auch die sängerische stark. Die mit Gästen und Ensemblemitgliedern besetzte Auswahl besticht mit hervorragenden Stimmen von der Titelpartie bis hin zur kleinsten Nebenfigur. Der ukrainische Bass Alexander Tsymbalyuk ist erstmals zu Gast an der Oper Frankfurt. Den verunsicherten, zweifelnden und von Schuldgefühlen geplagten Boris Godunow vermittelt er eindringlich. Godunows Kinder geben wohlklingend die Mezzosopranistin Karolina Makuła (Hosenrolle des Fjodor) und Sopranistin Anna Nekhames (Xenia).

Boris Godunow
Oper Frankfurt
Pinem (Andreas Bauer Kanabas) und Ensemble
© Barbara Aumüller ~ szenenfoto.de

Sein Debüt an der Oper Frankfurt gab der russische Tenor Dmitry Golovnin bereits 2019 (in Lady Macbeth von Mzensk). Die Figur des sich vom Klosterschüler zum unrechtmäßigen Zarennachfolger wandelnden Grigori Otrepjew zeigt er mit Souveränität. Tenor AJ Glueckert nimmt als integrierender Fürst Schuiski für sich ein.

Trotz relativ kleiner Partie bleibt Bass Andreas Bauer Kanabas als Mönch und Chronist Pimen mit seiner markant kräftigen Stimme in Erinnerung. Erstmals und hoffentlich bald wieder ist die serbische Mezzosopranistin Sofija Petrović als machtbesessene Marina Mnischek in Frankfurt zu erleben. Dazu sind viele weitere beteiligt (u. a. Mezzosopranistin Judita Nagyová als Xenias Amme, Bariton Mikołaj Trąbka als Geheimschreiber Andrei Schtschelkalow, Bass Thomas Faulkner als geheimer Jesuit Rangoni, Bass Inho Jeong als entlaufener Mönch Warlaam, Tenor Peter Marsh als entlaufener Mönch Missail, Mezzosopranistin Claudia Mahnke als Schankwirtin, Bass Morgan-Andrew King als Polizeioffizier Mikititsch und Bass Frederic Jost als Bauer Mitjucha).

Ganze Arbeit hat auch Álvaro Corral Matute als Leiter von Chor, Extrachor und Kinderchor der Oper Frankfurt geleistet. Die Chorszenen beeindrucken mit einer hohen Intensität.

Am Ende lang anhaltender Beifall.

Markus Gründig, November 25


Boris Godunow

Oper in vier Akten mit Prolog
Von: Modest P. Mussorgski (1839 – 1881)
Libretto: Modest P. Mussorgski
Uraufführung: 8. Februar 1874 (Moskau, Mariinski Theater)

Premiere an der Oper Frankfurt: 2. November 25 (Opernhaus)
Besuchte Vorstellung: 8. November 25

Musikalische Leitung: Thomas Guggeis
Inszenierung: Keith Warner
Regiemitarbeit: Katharina Kastening
Bühnenbild, Kostüme: Kaspar Glarner
Video: Jorge Cousineau
Licht: John Bishop
Chor, Kinderchor: Álvaro Corral Matute
Dramaturgie:
Mareike Wink

Besetzung:

Boris Godunow: Alexander Tsymbalyuk
Fjodor: Karolina Makuła
Xenia: Anna Nekhames
Xenias Amme: Judita Nagyová
Fürst Schuiski / Bojar Chruschtschow: AJ Glueckert
Andrei Schtschelkalow: Mikołaj Trąbka
Pimen: Andreas Bauer Kanabas
Grigori Otrepjew: Dmitry Golovnin
Marina Mnischek: Sofija Petrović
Rangoni: Thomas Faulkner
Warlaam: Inho Jeong
Missail: Peter Marsh
Schankwirtin: Claudia Mahnke
Gottesnarr / Leibbojar: Michael McCown
Mikititsch / Tschernikowski: Morgan-Andrew King°
Mitjucha / Lawitzki: Frederic Jost
Frauen aus dem Volk: Magdalena Tomczuk / Chloe Robbins / Grace Eunchoung Choi / Tiina Lönnmark

Chor, Extrachor und Kinderchor der Oper Frankfurt
Frankfurter Opern- und Museumsorchester


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