Verdis »Aida« eröffnete spektakulär Kassels neue Theater-Ära

Aida ~ Staatstheater Kassel ~ Aida (Ilaria Alida Quilico), © Sebastian Hannak

Davon können andere Städte nur träumen: Innerhalb einer Rekordzeit von nur zwei Jahren Planungs- und Bauzeit entstand in Kassel eine der modernsten Interimsspielstätten. Sie wurde am 31. Oktober 25 vor 850 Gästen mit einem Festakt und Verdis Oper Aida feierlich eröffnet. Das INTERIM genannte Gebäude befindet sich auf einem ehemaligen Kasernengelände im Ortsteil Marbachshöhe, am südlichen Rand von Kassel Wilhelmshöhe.

In den Reden von Kassels Oberbürgermeister Dr. Sven Schoeller, dem Hessischen Minister für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur Timon Gremmels und vom Intendanten des Staatstheaters Kassel Florian Lutz, wurde unisono ein großer Dank deutlich. Dank für das Engagement aller Beteiligten, seien es Politiker, Bau- und Planungsfirmen oder die hauseigenen Mitarbeiter. Namentlich wurde u. a. dem Land Hessen (als Träger des Hauses zu 52%), der städtischen Wohnungsbaugesellschaft GWG und dem Generalübernehmer NÜSSLI gedankt.

Aida
Staatstheater Kassel
Radamés (Gabriele Mangione)
© SylwesterPawliczek (MACHMAMACHMA)

Das INTERIM wird voraussichtlich für sechs Jahre als Ersatz für die dringend notwendige Sanierung des Theaterbaus am Kasseler Friedrichsplatz genutzt werden.

Nachhaltiger Multifunktionsbau

Das bereits an der bisherigen Spielstätte entwickelte Raumbühnenkonzept von Sebastian Hannak wurde hier konsequent weiterentwickelt. Der Neubau wurde multifunktional konzipiert und gebaut. So können darin verschiedene Kulturformate bei variabler Bestuhlung stattfinden, nicht nur Opern. Möglich wurde dies durch einen durchgängigen Bühnenboden, einer Obermaschinerie mit 28 Zügen über der gesamten Fläche, einer vierstöckigen umlaufenden Galerie, flexibler Podesterien, eines abdeckbaren Orchestergrabens und einer drehbaren Schwerlasten-Scheibe. Und nachhaltig ist er auch noch: Nach seiner Nutzung kann das INTERIM problemlos ab- und andernorts wieder aufgebaut werden.

»Aida« als Kreuzfahrterlebnis und großes Spektakel

Inspiriert von Fellinis Film „Schiff der Träume“ aus dem Jahr 1983, vermengt Florian Lutz in seiner Inszenierung Oper und Politik. Dabei wird nicht gekleckert, sondern geklotzt. Beteiligt sind nicht nur der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen, sondern auch die Präsidenten der Ukraine (Wolodymyr Selenskyj), Russlands (Wladimir Putin) und der Vereinigten Staaten von Amerika (Donald Trump)!

Aida
Staatstheater Kassel
Amneris (Emanuela Pascu), Mitglieder des Opernchors und des Extrachors
© Sylwester Pawliczek

Das Publikum befindet sich bei diesem Opernevent auf einer imaginären 14-tägigen Kreuzfahrt, hin zum legendären Ort der Uraufführung von Verdis Oper Aida (dem ägyptischen Suezkanal). Der INTERIMS-Bau wurde dafür zum Kreuzfahrtschiff „AIDA KASSEL“, mit Sonnendeck (Hauptbühne) und Kabinen (Teile der Galerie-Plätze). Entsprechend heutig sind die Kostüme von Mechthild Feuerstein.

Außergewöhnliche „Adventureplätze“

Die Inszenierung von Florian Lutz wird dem spektakulärem Bau mit seinen vielen Möglichkeiten mehr als gerecht. Das Publikum sitzt bei dieser Inszenierung nur zum Teil auf der Haupttribüne. Andere Plätze sind Orchestersessel (unmittelbar vor dem Orchestergraben), Seitenblöcke auf vier Ebenen oder einer der vielen „Adventureplatz“. Bei letzterem werden die Zuschauer Teil der Inszenierung. Beim Betreten der Bühne, des Sonnendecks, werden sie von der Schiffscrew begrüßt. Die 12 Crewmitglieder tragen dabei weiße Kleidung, wie sie auch real an Bord getragen werden. Die Platzierungen finden dann inmitten der Darsteller:innen auf dem Sonnendeck statt.

Aida
Staatstheater Kassel
Il re dell’Egitto (Ian Sidden; in Kapitänsuniform), Mitglieder des Opernchors und des Extrachors, Statisterie und Publikum
© Sebastian Hannak

Der Kapitän (Ian Sidden als der König von Ägypten) begrüßt mit Handschlag einzelne Gäste und schon heißt es „Leinen los!“. Sodann werden die magischen Worte gesprochen, die viele von ihrem AIDA-Urlaub kennen: „Willkommen im Urlaub“.

Auf dem Sonnendeck werden nicht nur Getränke ausgeschenkt, es ist sogar möglich, bei einem Stretch- und Mobilitykurs aktiv Teil der Inszenierung zu werden. Während der Vorstellung werden die „Adventureplätze“ gewechselt. Dann heißt es beispielsweise dezent „Ihre Kabine ist jetzt fertig“ oder der Notruf „Mayday“ wird an der Bar ausgerufen, wenn das Schiff zu sinken droht. 200 Darsteller und Techniker haben die aufwendige Produktion im neuen Interim vorbereitet (Bühne: Sebastian Hannak).

»Aidas« Antikriegscharakter

Natürlich bleibt es nicht bei der heiteren Stimmung, schließlich geht es in der Oper Aida auch um Kriege. Auf diese und vieles mehr, wie die Natur, Städte und Kulturdenkmäler, bis hin zum mit nacktem Oberkörper reitenden Amonasro, wird auf dem Kanal „AIDA-TV“ in mit KI-Hilfe erstellten Videoprojektionen auf Bildschirmen unmissverständlich hingewiesen (Video: Konrad Kästner). Dazu gibt es plakative Verse (wie „Demokratische Werte – Unser Eportschlager #1“ oder „Handel sichern! Mit Sicherheit handeln“) und immer wieder wird die Flagge der Europäischen Union eingeblendet.

Regisseur Florian Lutz hebt den Antikriegscharakter der Oper hervor. Es wird hart gekämpft, die Massen fallen wild übereinander her, es fließt aber kein Blut. Für den Bezug zur Gegenwart dienen nicht nur die Flut an Bild- und Videoprojektionen, sondern auch die bereits erwähnte Prominenz. So spielt beispielsweise die Partie des Radamès auf Selenskyj, Aidas Vater Amonasro auf Putin und der Hohepriester Ramfis auf Trump an.

Dazu passiert viel: Amneris fährt effektvoll in einem Porsche 911 vor, es wird gefeiert und demonstriert. Alles wird per Live-Videografie übertragen. Das macht durchaus Sinn, da das umtriebige Geschehen nicht immer von überall aus voll zu überschauen ist. Gesungen wird ohne Mikrofonverstärkung. Hier wäre diese ausnahmsweise teilweise sinnvoll, da die Sänger:innen bei diesem Raumkonzept ja nicht gleichzeitig in alle Richtungen singen können (und in der Folge mitunter nur schwach zu verstehen sind).

Auch auf vermeintlich sicheren Plätzen gibt es Überraschungen: Die große Zuschauertribüne wird 180-Grad gedreht und schon kommt eine Art Hinterbühne ins Spiel.

Die Sänger:innen sind stark gefordert

Bei dem ausgesprochenen Event-Charakter der Inszenierung besteht die Gefahr, dass die musikalische und sängerische Seite etwas in den Hintergrund gerät. Dabei ist das Orchester allerdings sehr schön einsehbar, wie sonst kaum irgendwo. Generalmusikdirektor Ainārs Rubiķis am Pult des Staatsorchesters Kassel sorgt für einen zupackenden musikalischen Rahmen. Die legendären AIDA-Trompeten werden effektvoll von einem Balkon aus gespielt.

Dass von fast überall aus gespielt und gesungen wird, fordert auch die Sänger:innen stark, müssen sie doch allein schon viele Wege während der Vorstellung zurücklegen.

Sopranistin Ilaria Alida Quilico ist eine glänzende Aida, deren Innigkeit bezaubert. Mit tenoraler Strahlkraft nimmt Gabriele Mangione als Radamés stark für sich ein. Mezzosopranistin Emanuela Pascu ist eine wohltönende und kämpferische Amneris. Die Partie des mahnenden Oberpriester Ramfis ist eher humoristisch angelegt (mit samtiger Bassstimme: Sebastian Pilgrim). Wohltönend: Bariton Filippo Bettoschi als Aidas Vater Amonasro. Die Chöre (Opernchor und Extrachor des Staatstheaters Kassel; Chorleitung: Marco Zeiser Celesti) geben sich spielfreudig und stimmstark (auch hier gibt es Anspielungen auf den Kreuzfahreralltag, wie eine Runde Freibier am Seetag).

Als innovatives und immersives Gesamterlebnis bleibt die Inszenierung nachhaltig in Erinnerung. Am Ende großer Beifall, für das Regieteam vereinzelte Buhrufe.

Markus Gründig, November 25


Aida

Opera lirica in vier Akten

Von: Giuseppe Verdi (1813—1901)
Libretto: Antonio Ghislanzoni (nach einem Entwurf von Auguste Mariette Bey und einem Szenarium von Camille Du Locle)
Uraufführung: 24. Dezember 1871 (Kairo, Khedivial-Opernhaus)
Deutschsprachige Erstaufführung: 20. April 1874 (Berlin, Königliches Opernhaus)

Premiere am Staatstheater Kassel: 31. Oktober 25 (INTERIM)

Musikalische Leitung: Ainārs Rubiķis
Regie: Florian Lutz
Bühne: Sebastian Hannak
Kostüme: Mechthild Feuerstein
Video: Konrad Kästner
Dramaturgie: Kornelius Paede
Chorleitung: Marco Zeiser Celesti

Besetzung:

Aida: Ilaria Alida Quilico
Amneris: Emanuela Pascu
Radamés: Gabriele Mangione
Ramfis: Sebastian Pilgrim
Amonasro: Filippo Bettoschi
Il re dell’Egitto: Ian Sidden
Un messaggero: Hyunseung You / Björn Edelmann
Una sacerdotessa: Daniela Vega / Hailing Piao
Cam-Operator: Till Krüger, Jannick Morgner, Fritz Eggenwirth

Staatsorchester Kassel
Opernchor und Extrachor des Staatstheaters Kassel
Statisterie des Staatstheaters Kassel


staatstheater-kassel.de