»Turandot« als Selbstfindungssuche des Calafs am Staatstheater Darmstadt

Turandot ~ Staatstheater Darmstadt ~ Turandot (Soojin Moon) ~ © Nils Heck
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Die neue Spielzeit des Staatstheater Darmstadt steht unter dem Motto „Abschied von den Helden“. Dabei wird die Auseinandersetzung mit den klassischen Heldenerzählungen in Theater und Gesellschaft hinterfragt. Die Musiktheatersparte eröffnete jetzt mit einem Klassiker des Opernrepertoires, mit Giacomo Puccinis unvollendetem letzten Opus Turandot. Darin geht es um Calaf, der es wagt, sich den Rätseln von Prinzessin Turandot zu stellen. Löst er alle drei Fragen, gewinnt er sie zur Frau. Versagt er, wird er, wie Tausende vor ihm, hingerichtet. Ein Held ist Calaf allein schon wegen seines kühnen Muts, insofern hätte die Oper auch nach ihm betitelt werden können. In der Inszenierung des österreichischen Jungregisseur Valentin Schwarz am Staatstheater Darmstadt ist Calaf ein obsessiver bildender Künstler der letztlich sich selbst sucht, kein strahlender Held.


Turandot
Staatstheater Darmstadt
Turandot (Soojin Moon). Calaf (Aldo di Toro)
© Nils Heck

Für Valentin Schwarz ist es, nach Ein Maskenball im Dezember 2018, die zweite Arbeit am Haus. Für Furore sorgte im Sommer die Ankündigung der Bayreuther Festspiele, dass der 30-jährige Regisseur im kommenden Jahr die Neuinszenierung des Rings übernehmen wird (Musikalische Leitung: Pietari Inkininen). Bereits 2017 gewann er gemeinsam mit Bühnenbildner Andrea Cozzi in Graz den Ring Award (Internationaler Preis für Regie- und Bühnenarbeit). Und auch Cozzi ist nach Ein Maskenball wieder für das Bühnenbild verantwortlich. Mit relativ einfachen und wenig Mitteln schafft er große Optiken. Der erste Akt zeigt vor einem bemalten Gazevorhang den Atelier- und Wohnbereich von Calaf, der mit ein paar Möbeln aus dem 20. Jahrhundert nahezu im Hier und Jetzt verortet ist. Düster und fantastisch mutet das überdimensionale Wandbild an, das auf den Vorhang aufgemalt wurde. Es ist ein Konglomerat von Einzelbildern, möglicherweise bereits ein Hinweis auf die Antworten zu den drei Rätseln. Zentraler Blickpunkt ist ein unbestimmt gehaltenes menschliches Wesen in der oberen Mitte (Turandot?), das von einem Apfel (Sündenfall) und einem Baby umgeben ist, umrandet von einer am Meer untergehenden Sonne (Hoffnung), einer Horde Elefanten (Erinnerungen) und großen Wurzeln oder Strömen (Blut). Dahinter wird je nach Lichtverhältnis deutlich, dass dort die aufgebrachte Masse lauert und diejenigen, die es nicht schafften Turandots Rätsel zu lösen, gefoltert und getötet werden. In den nachfolgenden Akten ist zunächst, nach hinten gerückt, ein Abbild des großen Wandbildes zu sehen, dann steigen aus dem Untergrund imposant die Massen empor und es entsteht dank Hubbühnen eine riesige Treppenanlage als Bild für den königlichen Palast. Im Schlussakt türmen sich im Hintergrund dann Berge gefallener Anwerber auf (mit erneuter Anspielung auf die Terrakotta-Armee), während Calaf alles mehr oder weniger als ein Spiegelbild seiner selbst wahrnimmt (visualisiert durch einen schwebenden und vom Mond eingerahmten Spiegel).


Turandot
Staatstheater Darmstadt
Timur (Dong-Won Seo), Turandot (Soojin Moon). Liu (Jana Baumeister), Calaf (Aldo di Toro)
© Nils Heck

Die Bürger Pekings tragen schlichte Kutten (wie auch die Kleidung von Calaf, Liu und Vater Timur unauffällig sind). Für fernöstlichen Kolorit sorgen vor allem die Kopfbedeckungen, auch die der Wachen und Soldaten (angelehnt an die Terrakotta Armee vom Mausoleum Qin Shihuangdis). Prinzessin Turandot trägt ein weißes Brautkleid, mit langer Schleppe und schwarzen Verzierungen. Darunter eine schwarze Lederhose und Stiefel mit hohen Absätzen. Zusammen mit dem grell geschminkten Gesicht wird ihr blutrünstiger Charakter schon optisch stark vermittelt. Die gebürtige koreanische Sopranistin Soojin Moon zeigt sie als selbstbewusste Femme fatale, die sich am Ende vom 2. Akt, nachdem sie die Trage ihres Vaters abgefackelt hat zwar schmusend auf Calaf legt, jedoch keine Gelegenheit auslässt zu versuchen, ihn vernichten zu wollen.
Eigentlicher Hauptakteur ist der Calaf, den der australische Tenor Aldo Di Toro mit vokaler Präsenz schön ausgestaltet.
Optisch auffallend erscheinen die drei Minister Ping (Julian Orlishausen), Pang (David Lee) und Pong (Michael Pegher), die sich klangstark einbringen. Sie tragen weite rote Roben und werden, wenn sie als Marionetten Turandots über die Szenerie schweben, stark in Szene gesetzt (Kostüme: Pascal Seibicke).
Noch bevor die ersten fünf Akkordschläge erklingen, deutet ein Streit zwischen Liu und Timur an, dass sie einst verbunden waren. So ist Lius bedingungslose, aufopfernde Liebe zumindest ansatzweise nachvollziehbar. Ensemblemitglied Jana Baumeister gibt sie voller Anmut und glänzt mit ihrer lyrischen Ausdrucksvielfalt. Dong-Won Seo gibt den besorgten Vater Timur. Und wie es sich für diese Oper gehört, imponiert der von Sören Eckhoff einstudierte Chor des Staatstheater Darmstadt (verstärkt mit dem Extra- und dem Kinderchor) ob seiner Klangstärke, die mit der des unter der Leitung von Giuseppe Finzi spielenden Staatsorchester Darmstadt konkurriert.

Dass Puccini die Oper nicht fertig komponierte, liegt vielleicht auch daran, dass ein Wandel der grauenvollen Turandot von einer Hass Erfüllten zu einer bedingungslos Liebenden kaum darstellbar ist. So endet diese Inszenierung ohne Franco Alfanos nachkomponierten Schluss mit dem Tod von Liu (wie bei der Uraufführung am 25. April 1926 in der Mailänder Scaleunter Arturo Toscanini). Das Publikum zeigte sich begeistert, allerdings gab es auch einige Buhrufe.

Markus Gründig, September 19


Turandot
Dramma lirico in drei Akten

Von: Giacomo Puccini
Libretto: Giuseppe Adami und Renato Simoni nach Carlo Gozzi

Premiere am Staatstheater Darmstadt: 31. August 19 (Großes Haus)

Musikalische Leitung: Giuseppe Finzi
Regie: Valentin Schwarz
Bühne: Andrea Cozzi
Kostüm: Pascal Seibicke
Dramaturgie: Steffi Mieszkowski
Choreinstudierung: Sören Eckhoff

Besetzung:

Turandot: Soojin Moon
Calaf: Aldo Di Toro / Andrea Shin (07.02.2020)
Timur: Dong-Won Seo / Johannes Seokhoon Moon (07.09.2019, 28.09.2019, 12.10.2019, 07.11.2019, 30.11.2019, 30.12.2019, 07.02.2020)
Liu: Jana Baumeister / Katharina Persicke
Altoum: Lawrence Jordan
Ping: Julian Orlishausen
Pang: David Lee
Pong: Michael Pegher
Mandarin: Myong-Yong Eom / Werner Volker-Meyer
1. Frauenstimme: Aviva Piniane / Ingrid Katzengruber
2. Frauenstimme: Sonja Bühling / Gabriela Fliegel

Das Staatsorchester Darmstadt
Der Opernchor des Staatstheaters Darmstadt
Der Extrachor des Staatstheaters Darmstadt
Der Kinderchor des Staatstheaters Darmstadt
Die Statisterie des Staatstheaters Darmstadt

staatstheater-darmstadt.de