Erich Kästners »Fabian oder Der Gang vor die Hunde« als stimmungsvolle Großstadt-Revue am Staatstheater Darmstadt

Fabian oder Der Gang vor die Hunde ~ Staatstheater Darmstadt ~ Irene Moll (Louisa von Spie), Fabian (Béla Milan Uhrlau), Labude (Sebastian Schulze) ~ © Martin Sigmund

Es muss nicht immer nur „Anton und Pünktchen“, „Das doppelte Lottchen“ oder „Emil und die Detektive“ sein. Das Oeuvre des Schriftstellers, Publizisten, Drehbuchautors und Kabarettdichters Erich Kästner (1899 – 1974) umfasst weit mehr als nur Kinderbücher. Zwischen September 1930 und Juni/Juli 1931 schrieb er seinen zur neuen Sachlichkeit zählenden Roman Der Gang vor die Hunde (Untertitel: Die Geschichte eines Moralisten). In satirischer Form beschreibt er darin die Zustände in Berlin während der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre (autobiografische Bezüge nicht ausgeschlossen).

Der herausgebende Verlag (DVA Stuttgart) hatte Probleme mit Kästners Titel und seiner Offenheit in den Beschreibungen. So erschien der Roman unter dem Titel „Fabian“ mit zahlreichen Streichungen (noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933). Er wurde zu einem Erfolg. Bereits in der ersten Woche war die erste Auflage vergriffen. Im Jahr 1932 erschienen schon die ersten ausländischen Ausgaben. Gleichfalls war der Großstadtroman mangels einer eindeutigen politischen Aussage nicht unumstritten.

Seit 2013 liegt der Roman auch wieder in seiner ursprünglichen, ungekürzten Fassung vor (nebst Nachworten Kästners und des Herausgebers Sven Hanuscheck; Atrium Verlag). Szenische Umsetzung des Romans gab es zuletzt u. a. von Viktor Bodó am Staatstheater Stuttgart (März 2022), von Frank Castorf am Berliner Ensemble (Juni 2021) und von Brit Bartkowiak am Theater Heidelberg (Okt. 2021). Die jüngste Verfilmung, von Dominik Graf, ist in Kürze auf arte und im ZDF zu sehen. Für das Staatstheater Darmstadt hat jetzt Christoph Mehler (designierter Schauspieldirektor am Saarländischen Staatstheater) den Roman in einer Fassung von Henrik Kuhlmann als stimmungsvolle Großstadtrevue auf die Bühne des Großen Hauses gebracht.

Fabian oder Der Gang vor die Hunde
Staatstheater Darmstadt
Irene Moll (Louisa von Spie), Fabian (Béla Milan Uhrlau)
© Martin Sigmund

Hits der „1920/30er-Jahre“

Erzählt wird die Geschichte des Reklamefachmanns Fabian. Seine Liebe zur künftigen Filmschauspielerin Cornelia, das tragische Schicksal seines Freundes Labude und sein wiederholtes Aufeinandertreffen mit der Nymphomanin Frau Moll.
Zur Großstadtrevue wird die Inszenierung durch die Einbindung zahlreicher Hits der 1920/30er-Jahre (wie „Ein Freund, ein guter Freund“, „Berliner Luft“, „Bay mir bistu sheyn“ und „Nur nicht aus Liebe weinen“). Der Klassiker „Irgendwo, auf der Welt“ wird zunächst einzeln von im Wartesaal sitzende Arbeitslosen sehr melancholisch A cappella gesungen, dann gemeinsam. In ihrer Vielseitigkeit untermalen die Lieder die verschiedenen Stimmungen. Sie werden hauptsächlich von der als eine Art Conférencier agierenden Louisa von Spies (auch körperlich sehr agil als Frau Moll) neu arrangiert und mit einem Faible für Jazz gesungen. Eine fünfköpfige Band spielt dazu von der rechten Bühnenseite (Musikalische Leitung & Arrangements: Michael Nündel; Musik & Komposition: David Rimsky-Korsakow).

Fabian oder Der Gang vor die Hunde
Staatstheater Darmstadt
Fabian (Béla Milan Uhrlau), Cornelia (Edda Wiersch)
© Martin Sigmund

Ein Institut für geistige Annäherung

Die Weltwirtschaftskrise 1929 zeigte auch in Deutschland massive Auswirkungen, die Arbeitslosigkeit und die Inflation stiegen rasant an. Proportional dazu stieg das Lust- und Liebesleben der Bevölkerung. Künstlerateliers, Tanzbars und Vergnügungsstätten waren hoch angesagt. Für die damalige Zeit relativ unverblümt lässt Kästner im Roman Damen unbekleidet herumlaufen und erwähnt Beischlafmomente („dieses Buch ist nichts für Konfirmanden“). So erzählt er von einem „Institut für geistige Annäherung“, bei dem die Annäherungen der Mitglieder geradezu erwartet wird und das Klublokal „Cousine“, in dem vorwiegend Frauen verkehren. Eine reife Frau erfüllt sich mit der Eröffnung eines Männerbordells einen Jugendtraum, wie in dem Roman generell die Frauen auf Gleichberechtigung, auch in sexueller Hinsicht, bestehen. Der die Offenheit liebende und die Wahrheit verehrende Kästner sah sich als Moralist und hoffte, dass die Menschheit gescheiter würde.

Fabian oder Der Gang vor die Hunde
Staatstheater Darmstadt
Fabian (Béla Milan Uhrlau), Labude (Sebastian Schulze)
© Martin Sigmund

Frivole Momente aber kein plakatives babylonische Berlin

Die rotierende Bühne zeigt einen L-förmigen, provisorisch anmutenden Aufbau mit zwei bzw. drei Ebenen. Innen mit gefliesten Wänden, durchaus an Stationen der S- & U-Bahnen erinernd, von hinten ohne Verkleidung, dazu Gitterzäune, die wie Käfige aussehen. Für Innenszenen, wie in der Fabrik oder im Arbeitsamt, wird ein breites Sofa rein geschoben. Allein ein rundes zweistufiges Podest weist mit seiner rot-weißen-Musterung vage auf Berlin hin. Ein großer Leuchtreklameschriftzug (Eldorado) liegt als Zeugnis des wirtschaftlichen Niedergangs auf dem Boden herum. Im Hintergrund sorgt öfters Nebel und eine rote oder giftgrüne Ausleuchtung für eine Verstärkung der Atmosphäre. Dazu laufen die ganze Zeit über Videoprojektionen mit Bildern der 1920er- und 1930er-Jahre und ein Brechtvorhang fehlt auch nicht (Bühne & Kostüm: Jennifer Hörr).

Christoph Mehlers Inszenierung hat frivole Momente, besonders am Anfang wenn sich das illustre Berliner Volk auf High Heels präsentiert, stellt das babylonische Berlin aber nicht plakativ ins Zentrum. Schräg ist die Szene beim Ehepaar Moll, wenn, abweichend von der Vorlage, Dr. Moll (Thorsten Loeb; u. a. auch der hessisch babbelnde Kommissar Donath ) als Verweis auf die Schwanzgesteuertheit der Männer sich und Fabian den Mund mit einem Dildo stopft. Oder auch die Szene, wenn Fabian dem Direktor Breitkopf (Karin Klein) in die riesige Blinddarmnarbe greift und sich an den Innereien labt.
Einlass gefunden hat auch die spätere Machtübernahme der Nationalsozialisten und die kurz darauf erfolgte Bücherverbrennung (von der auch Werke von Kästner betroffen waren).

Fabian oder Der Gang vor die Hunde
Staatstheater Darmstadt
Ensemble
© Martin Sigmund

Béla Milan Uhrlau als Fabian

Den aufgeschlossenen, ehrgeizlosen Langschläfer Fabian, der Lob und Tadel gleichzeitig verdient, gibt Béla Milan Uhrlau enthusiastisch und vielseitig. Sebastian Schulze zeigt den Labude anfangs als ausgesprochen heiteren, lebenslustigen Mann, der zunehmend unter Druck gerät, immer mehr verzweifelt und schließlich Suizid begeht. Alle anderen Darsteller:innen sind in Mehrfachbesetzung zu erleben. Darunter Edda Wiersch als Fabians energiegeladene Kurzzeitfreundin Cornelia, Karin Klein auch als Geheimrätin, Mathias Znidarec als eifersüchtiger und übelst scherzender wissenschaftlicher Assistent Weckherlin, Gabriele Drechsel als Zimmerwirtin Frau Hohlfeld und wortkarge Mutter, sowie Jörg Zirnstein als Labudes Vater und als Schuldirektor mit gutem Erinnerungsvermögen.

Mit einer Spielzeit von drei Stunden (zuzüglich Pause), ist dies ein durchaus längerer Theaterabend, der jedoch zu keiner Zeit langatmig ist. Intensiver, lang anhaltender Beifall inklusive Standing Ovations für alle Beteiligte.

Markus Gründig, April 23


Fabian oder Der Gang vor die Hunde

Roman von: Erich Kästner (1899 – 1974)
Für die Bühne bearbeitet von: Henrik Kuhlmann

Premiere am Staatstheater Darmstadt: 31. März 23 (Großes Haus)

Regie: Christoph Mehler
Musikalische Leitung & Arrangement: Michael Nündel
Bühne & Kostüm: Jennifer Hörr
Musik & Komposition: David Rimsky-Korsakow
Dramaturgie: Oliver Brunner

Besetzung:

Jakob Fabian: Béla Milan Uhrlau
Stephan Labude / Passant: Sebastian Schulze
Irene Moll: Louisa von Spies (Gast)
Fräulein 1 / Die Magere / Cornelia Battenberg: Edda Wiersch
Kollege Fischer / Der Linke / Assistent Weckherlin / Passant / SA-Mann: Mathias Znidarec
Dr. Moll / Der Rechte / Kommissar Donath / Passant / SA-Mann: Thorsten Loeb
Fräulein 2 / Frau Hohlfeld / Die Dicke / Ruth Reiter / Mutter Fabian / Passant: Gabriele Drechsel
Frau Sommer / Wilhelmy / Vater Labude / Passant / Schuldirektor: Jörg Zirnstein
Fräulein 3 / Frau Kulp / Chef / SA-Mann / Geheimrat / Passant: Karin Klein
Passanten / Freier / Huren / Badegäste / Arbeitslose: Gabriele Drechsel, Edda Wiersch, Karin Klein, Jörg Zirnstein, Mathias Znidarec, Sebastian Schulze

Live-Band.:

Klavier: Michael Nündel
Violine: Michael Makarow
Saxophon, Klarinette, Flöte: Andreas Pompe
Schlagzeug: Benedikt Vogel
Kontrabass: Wolfgang Ritter

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