Was wirklich zählt: »Alles Liebe!« am Staatstheater Wiesbaden

Alles Liebe! Staatstheater Wiesbaden Lady Da Drill (Kelly Heelton) und Ensemble Foto: Max Borchardt

Es gibt sie noch: Private Förderer und Stifter. Eine davon ist die baden-württembergische Reinhold Otto Mayer Stiftung. Sie hat sich „die Förderung neuer deutschsprachiger Werke und Projekte im Bereich der performativen Künste, insbesondere Musiktheater und Schauspiel“ als Ziel gesetzt. Den mit 50.000 € dotierten Reinhold Otto Mayer Preis gewann 2025 das Team Misha Cvijović (Komposition), Philipp Amelungsen (Idee, Buch und Libretto), Anna Weber (Regie), Stella Lennert (Bühne), Alexander Djurkov Hotter (Kostüme) und Thomas Helmut Heep (Choreografie).

Sie siegten gegen 41 Mitbewerber mit „Alles Liebe! Eine queere Landoperette“. Das Stück wurde jetzt im Großen Haus des Staatstheaters Wiesbaden uraufgeführt.

Damit unterstreichen die beiden Intendantinnen Dorothea Hartmann und Beate Heine einmal mehr ihr Bestreben, das Haus für neue Publikumsschichten zu öffnen. Zwar hat auch das traditionelle Wiesbadener Publikum ein Faible für das Genre, mit Queerness allerdings eher weniger Berührungspunkte. Das ändert „Alles Liebe!“ gründlich.

Operette ist für sie keine altbackene Angelegenheit

Bei Operette wird zwangsläufig an Komponisten wie J. Strauß oder F. Lehár gedacht. Wobei der Begriff Operette nicht starr festgelegt ist. Es handelt sich um meist heitere Bühnenwerke, die gesprochene Dialoge, Gesang und Tanz miteinander verbinden. Das ist auch bei „Alles Liebe!“ so. Gleichwohl ist die Musik anders gegenüber den klassischen Operettenkomponisten.

Alles Liebe!
Staatstheater Wiesbaden
Friedrich Hemmschuh (Fabian-Jakob Balkhausen) und Tanzstatisterie
Foto: Max Borchardt

Die gebürtige Serbin Misha Cvijović beschäftigt sich viel mit zeitgenössischer und elektroakustischer Musik. Die Gattung Operette ist für sie keine altbackene Angelegenheit. Vielmehr bietet die Operette die Gelegenheit, Zeitgenössisches unterhaltsam zu präsentieren. Klassische Operettenmelodien erklingen in „Alles Liebe!“ nur zitathaft kurz vom asexuellen John (klangschön vom Bass Jonathan Macker, der damit gesanglich eher unterfordert ist). Cvijovićs verschiedenartige Musik mit Anleihen aus Elektronik, Jazz, Klassik, Pop und Rock bietet eine bunte Vielfalt.

Am Pult des klein besetzten Hessischen Staatsorchesters Wiesbaden vermittelt Paul Taubitz die Farbigkeit lebhaft. Beteiligt ist auch das aus Frankfurt/M stammende „Contrast Trio“, das unerwartete Klänge ertönen lässt (nicht nur aus einer Tuba). Ganz besonders verzaubernd ist Lucas´ erster Song mit Glockenspiel-Begleitung.

Queeres Dorf gesucht

Alles Liebe!“ handelt von einem bankrotten hessischen Dorf, dessen Bürgermeisterin sich mit einem desaströsen Wählerzuspruch konfrontiert sieht. Denn sie ist das Gesicht der Misere. Ihr politischer Gegner, Freiherr Thor ins Anders, macht es sich leicht. Lösungen hat er keine, aber die Behauptung „Hauptsache anders“ verhilft ihm, ihren Posten zu übernehmen. Zwischendurch flatterte eine Nachricht in das Dorf, dass eine private Stiftung im Rahmen eines Ideenwettbewerbs eine großzügige Unterstützung zusagt, wenn eine strukturschwache Kommune Diversität fördert. Dies zu bewerkstelligen erweist sich schwieriger als gedacht. Am Ende gibt es, wie typisch für die Operette, ein Happy End.

Alles Liebe!
Staatstheater Wiesbaden
Carola Weissgut (Silvia Hauer) und Luca Weissgut (Danai Simantiri)
Foto: Max Borchardt

Und da ist vor allem noch die Tochter der Bürgermeisterin, Lucia. Aber eigentlich ist sie Luca, will so genannt werden. Mit dem ihr per Geburt zugewiesenen Geschlecht kommt sie nicht klar. Auch fühlt sie sich nicht als Mann, sondern als Nicht-Binär. Damit rückt eine Minderheit der LGBTQIA+ (verschiedene sexuelle Orientierungen und Gender-Identitäten) in den Mittelpunkt, die sonst meist übergangen wird und die keine Lobby hat.

Hessische Bezüge

Die Bühne ist von Beginn an offen. Eine sanfte (Taunus-)Berglandschaft wird angedeutet. Noch bevor es losgeht, wird ein Festplatz aufgebaut, bei dem (Rheingauer-)Wein aus Fässern ausgeschenkt wird und eine Gardegruppe fröhlich übt. Arrangierte Luftballons deuten eine große Weinrebe an. Das Wohnhaus der Bürgermeisterin, eine Amtsstube und ein Parkplatz-WC (Parkplatz Hessenlust) werden vom Schnürboden herabgelassen. Dabei handelt es sich nicht um perfekte Bauten, eher um Gerippe (schließlich fehlt es der Gemeinde an allem Möglichen). Ein großer Hessenlöwe fehlt auch nicht, hessisch wird allerdings nur in Ausnahmefällen gebabbelt.

Alles Liebe!
Staatstheater Wiesbaden
Cosimo (Joshua Sanders), Friedrich Hemmschuh (Fabian-Jakob Balkhausen)
Foto: Max Borchardt

Es gibt einige Verwandlungsszenen: Wie einen Ausflug zu den Sternen ins All oder auf einen Parkplatz. Auf letzterem geht es ordentlich zur Sache. Vier tanzende Signets deuten einen Präservativ (Schutz), Creme (bessere Gleitfähigkeit), Poppers (Enthemmung) und Tissuepapier (Beseitigung der Glücksentladungen) an. Apropos Tanz, davon gibt es von der fünfköpfigen Tanzstatisterie vielfältige Nummern.

Runde Ensembleleistung und eine Königin der Nacht

Divers sind die Figuren. Die auf ihre Attraktivität fixierte Bürgermeisterin Carola Weissgut gibtSilvia Hauer mit Nachdruck („Wählen Sie mich; Mut ist besser als Wut“). Ihr Song „Wieder so ein Tag“ klingt wiederholt an und bleibt im Ohr.
Den mit seiner Mutter wohnenden und kompetenten Verwaltungsleiter ohne Liebesglück, Friedrich Hemmschuh, der auch gerne mal mit seinem Locher redet, verkörpertFabian-Jakob Balkhausen vielseitig und subtil („Fürs Verliebtsein gibt es keine Paragrafen“). Danai Simantiri vermittelt Luca Weissguts Coming-out authentisch, intensiv und wie they ist.

Alles Liebe!
Staatstheater Wiesbaden
Freiherr Thor ins Anders (Sascha Zarrabi) und Chor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Foto: Max Borchardt

Den schwulen Paradiesvogel Cosimo („Wunderpo vom Parkplatzklo“) zeigt Joshua Sanders in pinken Shorts und mit viel Glamour. Bezaubernd poetisch ist sein Duett mit Friedrich, bei dem die beiden auf das legendäre Paar Fred Astaire und Ginger Rogers anspielen.

Bodenständig gibt sich das aus Australien ins Hessische Outback übergesiedelte Paar Ilona (rational: Sharon Kempton) und Christine (bedächtig: Fleuranne Brockway). „Alles gut“, heißt es beim im Anzug auftretenden Freiherr Thor ins Anders (mit tenoraler Strahlkraft: Sascha Zarrabi).

Als besonderes Highlight ist Dragqueen Kelly Heelton als Lady Da Drill, die Königin der Nacht, zu erleben („Wer bin ich“). Sie hat einen eigenen kleinen Showblock und gibt den Dorfbewohnern einen Drag-Crash-Kurs (Lady Da Drills School of Drag), bei dem mit Livevideo vom Catwalk (Foyergang) gearbeitet wird. Wenn es „Attitude und Pose“ heißt, ist das Publikum eingeladen, sich sitzend an der kleinen Choreografie zu beteiligen.

Die anfängliche Eintönigkeit des Dorflebens wird in einem einheitlichen Farbton visualisiert: Die Dorfbewohner (Chor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden; Einstudierung: Aymeric Catalano) tragen weinrote Kleidung, die sich farblich nur in Nuancen unterscheidet. Es dauert, bis da Farbe und Vielfalt ins Spiel kommen. Am farbenfrohesten präsentiert sich schließlich die Lady Da Drill in einem herrlichen Kleid, das die Regenbogenfarben akzentuiert.

Am Ende wird trotz aller Unterschiede klar, was wirklich zählt: die Liebe.
Jubelbeifall und Standing Ovations auch bei der besuchten zweiten Vorstellung.

Markus Gründig, Dezember 25

Die nächste Vorstellung ist am 10. Januar 26.
Dann im Anschluss mit einer Glitzer-Glamour-Party im Foyer (mit DJ Catlyn).


Alles Liebe! Eine queere Landoperette

Von: Misha Cvijović und Philipp Amelungsen
Preisträgerwerk des Reinhold Otto Mayer Preises 2025
Auftragswerk des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Mit zusätzlichen Texten von Jo Stiewen und Arrangements von Michael Ellis Ingram
In deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln

Premiere / Uraufführung: 6. Dezember 25 (Großes Haus)
Besuchte Vorstellung: 12. Dezember 25

Musikalische Leitung: Paul Taubitz
Inszenierung: Anna Weber
Bühne: Stella Lennert
Kostüme: Alexander Djurkov Hotter
Choreografie: Thomas Helmut Heep
Chor: Aymeric Catalano
Licht: Marcel Hahn
Dramaturgie: Balthazar Bender
Vermittlung: Oliver Riedmüller

Besetzung:

Bürgermeisterin Carola Weissgut: Silvia Hauer
Verwaltungsleiter Friedrich Hemmschuh: Fabian-Jakob Balkhausen
Luca Weissgut: Danai Simantiri
John: Jonathan Macker
Cosimo: Joshua Sanders
Ilona: Sharon Kempton
Christine: Fleuranne Brockway
Freiherr Thor ins Anders: Sascha Zarrabi
Lady Da Drill:
Kelly Heelton

Elektro-Trio: „Contrast Trio“: Tim Roth/Martin Standke/Yuriy Sych
Chor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden
Tanzstatisterie des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden


staatstheater-wiesbaden.de