Von der Übertragung von Traumata: Kammeroper «Pnima» am Staatstheater Darmstadt

Pnima…ins Innere ~ Staatstheater Darmstadt ~ Jugendchor und Statisterie des Staatstheaters Darmstadt ~ © Benjamin Weber
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Der Terrorangriff der radikalislamistischen Hamas am 7. Oktober 2023 schockierte die Welt. Bei vielen Jüdinnen und Juden erwachten Ängste und Traumata des Holocaust, die lange Zeit ruhten. Zugleich erlangte das Thema Antisemitismus in Deutschland eine neue Aufmerksamkeit.
Das Staatstheater Darmstadt reagierte schnell auf die Situation und änderte kurzerhand seinen Spielplan. Um ein Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen wurde anstelle der ursprünglich geplanten Premiere von Richards Strauss´ Elektra die Kammeroper Pnima der amerikanisch-israelischen Komponistin Chaya Czernowin aufgenommen (neuer Premierentermin Elektra: 9. Feb. 24). Premiere war am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Jahr 1945.

Innerhalb weniger Wochen wurde in einem großen Kraftakt aller Beteiligter die Kammeroper in drei Akten für vier Vokalsolisten, Instrumentalsolisten und Streichorchester am Staatstheater Darmstadt erarbeitet. Sie entstand im Jahr 2000 als Auftragswerk der Stadt München für die Münchener Biennale (Internationales Festival für neues Musiktheater). Intendant Karsten Wiegand ist mit dem Werk gut vertraut, eröffnete er doch damit 2008 seine Tätigkeit als Operndirektor am Deutschen Nationaltheater Weimar und ist auch jetzt für die Regie verantwortlich.

Pnima…ins Innere
Staatstheater Darmstadt
David Pichlmaier, Tomas Möwes, Szymon Chojnacki
© Benjamin Weber

Von Überwindung und Heilung

„Pnima“ ist ein hebräisches Wort und heißt übersetzt „ins Innere“. Die Kammeroper ist eine abstrakte Reise in eine Welt der Traumata und das Öffnen eines Raumes. Allerdings nicht als Manifest für grauenvoll Erlebtes. Sondern vielmehr als ein rund 70-minütiges Nachspüren von Empfindungen und Eindrücken. Und von der Überwindung, von Heilung. Inspiriert wurde Chaya Czernowin vom 1986 erschienenen Roman „Stichwort: Liebe“ von David Grossmann. Er handelt von den traumatischen Nachwirkungen der Shoah auf die Überlebenden und deren Nachfahren. Und so handelt auch Pnima … ins Innere aus der Sicht der zweiten Generation, der Kinder der Überlebenden. Wobei Handlung hier sehr frei zu verstehen ist. Wie auch Gesungenes (nur Silben und Laute) und die Musik.

Pnima…ins Innere
Staatstheater Darmstadt
Wen Hui
© Benjamin Weber

Riesenhafte Lücke für die Menschen, die nicht mehr da sind

Dem Werk wurde am Staatstheater Darmstadt eine pantomimische Nachstellung des Rave-Festivals vorangestellt. 364 Menschen starben am 7. Oktober 2023 auf dem Gelände des Psytrance-Festivals Supernova Sukkot Gathering in der Nähe des Kibbuz Reʿim im Gebiet der Regionalverwaltung Eschkol. Und so steht zu Beginn eine Gruppe junger Menschen (Jugendchor und Statisterie des Staatstheaters Darmstadt) auf der Bühne und feiert ausgelassen. Dumpfe und lang gezogene Klänge deuten bei vollkommener Dunkelheit dann das Massaker an.
Als Bild für die riesenhafte Lücke, die all die Ermordeten hinterließen, sitzt das Publikum auf der Hinterbühne und schaut die Aufführung über auf den leeren Zuschauerraum. Dem Gedanken des sich Weiterentwickeln, der Überwindung folgend, bleibt er aber nicht leer. Dem Ende hin füllen Menschenmassen den Zuschauerraum (eine faszinierende Videoprojektion) und auch die Raver als eindringliches Bild, dass Menschen auch nach ihrem Tod in unseren Erinnerungen weiterleben, erscheinen dort.

„Zustands“-Bilder

Die Bühne ist zunächst leer, lediglich an der Seite hängt ein großes Stofftuch, das als Bild für die Wüste interpretiert werden kann. Ein Podest für einen öffentlichen Raum und eine Festtafel mit Stühlen für einen privaten Raum. werden herein geschoben (Bühne: auch Karsten Wiegand). Es entstehen vielfältige „Zustands“-Bilder. Wie über die Unmöglichkeit, über Vergangenes zu sprechen. Konkrete Szenen bzw. Handlungen gibt es nicht, alles bleibt vage und vieldeutig interpretierbar. Dafür sorgen zwei Frauen (Johanna Greulich, Noa Frenkel), drei Männer (David Pichlmaier, Szymon Chojnacki und Tomas Möwes) und die Tänzer*innen Hojoon Moon, Julia Alsdorf und Wen Hui. Als Bezugspunkt zur Zukunft dient ein Mädchen (Philine Kirschfink, Philine Grünewaldt). Choreografin Wen Hui lässt der „body memory“ nachspüren, der unbewusst abgespeicherten Impulse der Vergangenheit.

Das Staatsorchester Darmstadt erkundet unter der musikalischen Leitung von Studienleiter und Kapellmeister Richard Schwennicke dem nicht Greifbarem, dem nicht Ausdrückbarem, präzise nach. Für vielfältige, raue und mitunter staccatohafte Klangeindrücke und Klangsplitter, die mitunter an die Experimentierküche eines Helmut Lachemann erinnern, sorgen u. a. auch einzelne Solisten (wie u. a. Alejandro Olivan mit einem Altsaxofon oder Matthias Würsch mit einer Singenden Säge).

Am Ende intensiver Applaus für diese außergewöhnliche Reflexion, insbesondere für die anwesende Komponistin Chaya Czernowin.

Markus Gründig, Januar 24


Pnima…ins Innere

Kammeroper in drei Akten für vier Vokalsolisten, Instrumentalsolisten und Streichorchester
Nach der Novelle „Stichwort: Liebe“ („Ayênʿērek: ahavā“) von David Grossmann

Von: Chaya Czernowin (* 1957)

Uraufführung: 10. Mai 2000 (München; Gasteig, Carl-Orff-Saal ~ Münchener Biennale 2000)
Auftragswerk der Stadt München für die Münchener Biennale, Internationales Festival für neues Musiktheater

Premiere am Staatstheater Darmstadt: 27. Januar 24 (Hinterbühne Großes Haus)

Musikalische Leitung: Richard Schwennicke
Regie und Bühne: Karsten Wiegand
Bühne: nach einer Idee von Bärbl Hohmann
Mitarbeit Regie: Kerem Hillel
Kostüm und Mitarbeit Bühne: Judith Adam
Choreografie: Wen Hui
Dramaturgie: Michael Dissmeier

Besetzung:

Die Frauen: Johanna Greulich / Noa Frenkel
Die Männer: David Pichlmaier / Szymon Chojnacki / Tomas Möwes
Die Tänzer*innen: Hojoon Moon / Julia Alsdorf / Wen Hui
Das Mädchen: Philine Kirschfink / Philine Grünewaldt
Der Rave-Chor: Jugendchor des Staatstheaters Darmstadt

Statisterie des Staatstheaters Darmstadt

Staatsorchester Darmstadt

Bassklarinette & Klarinette: Drew Gilchrist
Altsaxofon: Alejandro Olivan
Posaune: Andrew Digby
Singende Säge: Matthias Würsch
Viola: Miho Kawai
Violoncello: Clara Franz

staatstheater-darmstadt.de