Seit vielen Jahren sind Arbeiten des britischen Regisseurs Keith Warner an der Oper Frankfurt zu sehen. Hier inszenierte er so unterschiedliche Werke wie Brittens Death in Venice und Peter Grimes, Humperdincks Hänsel und Gretel, Verdis Falstaff oder Reimanns Lear. Für den Mai 2021 war eine Neuinszenierung von Mussorgskis Boris Godunov geplant (mit dem estnischen Bass Ain Anger in der Titelrolle), doch der dritte Corona-Lockdown verhinderte die Umsetzung. Jetzt meldet er sich, unterstützt von der Regieassistentin und Spielleiterin Katharina Kastening, mit den zwei Opernraritäten Der Zar lässt sich fotografieren (von Kurt Weill) und Die Kluge (von Carl Orff) zurück. Beide Opern entstanden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Doppelabend kann als Programmauflockerung zu den angrenzenden Neuinszenierungen im Opernhaus gesehen werden (Strauss´ Elektra im März und Händels Hercules im Mai). Trotz zahlreicher ernster Momente haben beide auch viele humorvolle Bezüge.
Ausflug nach Paris
Im gleichen Jahr wie die in Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht entstandene Dreigroschenoper wurde auch Weills Zeitoper Der Zar lässt sich fotografieren uraufgeführt. Das als Opera buffa bezeichnete einaktige Werk hat mit einer Spieldauer von 50 Minuten eine kompakte Länge. Seine Musik ist vom Jazz und, zu seiner Zeit modischen, Tanzformen beeinflusst. Die Geschichte ist nicht kompliziert: Der Zar will sich in Paris ablichten lassen. Dabei versuchen Attentäter ihn während des Fototermins im Fotostudio von Angéle zu ermorden, was jedoch nicht gelingt. Beim Heranrücken der Polizei fliehen sie.
Keith Warner erzählt die Geschichte als lustvollen Schwank. Dabei setzt er pointiert Bezüge zur gewaltvollen Realität. Nicht zuletzt, weil die Zarenfamilie während des russischen Bürgerkriegs zehn Jahre zuvor (1918) durch die Bolschewiki ermordet wurde. So sind durch Einsatz einer kleinen Drehbühne Szenen anderer ermordeter Herrscher nachgestellt. Das Atelier selbst steht in einem raumfüllenden Halbrund, das mit den Porträts großer Persönlichkeiten geschmückt ist (lebender wie auch bereits verstorbener; Bühne: Boris Kudlička). Kaspar Glarners Kostüme nehmen lose Bezug zur Entstehungszeit (vor allem sichtbar im Umhang der Fotografin).
Der Reiz des Stücks ist hier die Umsetzung durch das spielfreudige Ensemble. Den sich als Privatmensch ablichten lassen wollenden Zaren ohne Allüren gibt Bariton Domen Križaj mit starkem virilen Ausdruck. Als die falsche Angèle zieht Sopranistin Juanita Lascarro den Zaren und das Publikum in ihren Bann. Dieses die Oper dominierende Paar ergänzen treffend vor allem Sopranistin Ambur Braid als gewissenhafte echte Fotografin Angèle, Tenor Peter Marsh als der stürmische Anführer und Alfred Reiter als umsichtiger Begleiter des Zaren. Für die bei der besuchten Vorstellung kurzfristig erkrankte Helene Feldbauer sang Cecilia Hall deren Partie des Boy von der Seite. Der von Tilman Michael einstudierte Männerchor der Oper Frankfurt kommentiert dezent aus dem Off bzw. mit Totenmaske aus Fenstern des Halbrunds.
Riskante Sätze kunstvoll verpackt
Die in der Oper Frankfurt 1937 uraufgeführte szenische Cantante Carmina Burana von Carl Orff wurde schnell zu einem der populärsten Chorwerke und machte ihn berühmt. Seine rhythmusbetonten zwölf Szenen Die Kluge (Die Geschichte von dem König und der klugen Frau), entstand nach dem gleichnamigen Märchen der Gebrüder Grimm. Die Uraufführung der Mixtur aus Moritat, Komödie und Lehrstück erfolgte ebenfalls an der Oper Frankfurt, inmitten des 2. Weltkriegs, am 20. Februar 1943. Im Text finden sich riskante Sätze wie „Justitia lebt in großer Not“, „Wahrheit ist gen Himmel flogen“ und „Tyrannei führt das Zepter weit“. Schwer vorstellbar, dass zwei Tage zuvor Reichspropagandaminister Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast den „Totalen Krieg“ proklamierte und in München die Geschwister Scholl an die Gestapo gemeldet worden waren (die dann vier Tage später vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden).
Das Märchen handelt von einem Bauernmädchen, dass durch seine Klugheit zur Frau des Königs wird und einem Betrogenen zu seinem Recht verhilft.
Die Bühne (ebenfalls Boris Kudlička) ist hier deutlich abstrakter. Zunächst kommen acht Türen auf großer Drehbühne zum Einsatz, später ein prachtvoller Sessel, eine große Kiste und Hintergrundprospekte. Das noch vorhandene Halbrund dient als Projektionsfläche und als Ausguck für den König und seine Königin. Mit seinem blau/weißen Lodenmantel spielt er auf den bayerischen König Ludwig II. an, die kluge Bauerntochter trägt zunächst einen schlichten Friesennerz, später ein weißes Brautkleid (Kostüme auch hier: Kaspar Glarner).
In der Titelrolle fasziniert vom ersten Ton an Sopranistin Elizabeth Reiter mit ihrer fokussierten und wohltönenden Stimme. Die Rolle verkörpert sie mit großer Herzenswärme. Der König des Bariton Mikołaj Trąbka ist zwar nicht der allerhellste, gleichwohl gefällt er durch seine Gelassenheit und mit seiner wunderbar grundierten Stimme. Schöne Präsenz trotz schwarzer Kutte zeigt Bass Alfred Reiter als der Kerkermeister. Viel Heiterkeit versprühen die drei Strolche (Jonathan Abernethy, Iain MacNeil (mit Handstandlauf) und Dietrich Volle). Patrick Zielke gibt dem Bauer eine kämpferische Attitüde, AJ Glueckert temperamentvoll den geprellten Mann mit dem Esel und Sebastian Geyer den frech auftrumpfenden Mann mit dem Maulesel.
Schon die Musik von Der Zar lässt sich fotografieren ist vielseitig, bei Die Kluge ist sie es erst recht. Hier klingen zudem auch immer wieder kurze Zitate und Verweise aus Carmina Burana an. Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester vermittelt Weills und Orffs vielfältigen Klangwelten unter der Leitung von Yi-Chen Lin sehr ausdrucksstark. Gleiches gilt auch für das Schlussbild von Die Kluge, wenn das Königspaar durch eine Kamerablende abtritt (womit zugleich eine Brücke zum vorherigen Stück geschlagen wird).
Viel Applaus
Markus Gründig, April 23
Der Zar lässt sich fotografieren
Opera buffa in einem Akt
Von: Kurt Weill (1900 – 1950)
Uraufführung: 18. Februar 1928 (Leipzig, Neues Theater)
Die Kluge
Zwölf Szenen
Von: Carl Orff (1895 – 1982)
Uraufführung: 20. Februar 1943 (Frankfurt/M, Oper Frankfurt)
In deutscher Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln
Premiere: 9. April 23 (Opernhaus)
Besuchte Vorstellung: 15. April 23
Musikalische Leitung: Yi-Chen Lin
Inszenierung: Keith Warner
Bühnenbild: Boris Kudlička
Kostüme: Kaspar Glarner
Licht: John Bishop
Chor: Tilman Michael
Choreografie: Simone Sandroni
Dramaturgie: Mareike Wink
Besetzung:
Der Zar lässt sich fotografieren
Der Zar: Domen Križaj
Die falsche Angèle: Juanita Lascarro
Angèle: Ambur Braid
Der Gehilfe: AJ Glueckert
Der Boy: Helene Feldbauer°
Der falsche Gehilfe: Andrew Bidlack
Der falsche Boy: Karolina Makuła
Der Anführer: Peter Marsh
Der Begleiter des Zaren: Alfred Reiter
Fünf Verschwörer: Hyunjung Kim° / Istvan Balota / Sakhiwe Mkosana / Lennart S. Kost / Alexander Winn
Zwei Kriminalbeamte: Dietrich Volle / Iain MacNeil
Die Kluge
Die Kluge, Tochter des Bauern: Elizabeth Reiter
Der König: Mikołaj Trąbka
Der Bauer: Patrick Zielke
Drei Strolche: Jonathan Abernethy / Iain MacNeil / Dietrich Volle
Der Mann mit dem Esel: AJ Glueckert
Der Mann mit dem Maulesel: Sebastian Geyer
Der Kerkermeister: Alfred Reiter
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
°Mitglied des Opernstudios
Weitere Vorstellungen: 15., 23. (18 Uhr), 29. April, 4., 7. (18 Uhr), 11., 13. Mai 2023
Falls nicht anders angegeben, beginnen diese Vorstellungen um 19.30 Uhr.
Preise: € 16 bis 190 (12,5% Vorverkaufsgebühr nur im externen Vorverkauf)
Mit freundlicher Unterstützung des Frankfurter Patronatsvereins – Sektion Oper
Im Rahmen dieser Neuinszenierung findet am 4. Juni um 11 Uhr im Holzfoyer die 9. Kammermusik statt.