Norma
Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 14. Mai 18
Es ist kaum zu glauben, dass Vincenzo Bellinis Norma nach 1945 bisher noch nie in Frankfurt szenisch gespielt wurde. Dennoch wurde die Musik Bellinis hier lebendig gehalten. Jüngstes Beispiel: Die Wiederaufnahmeserie seiner La sonnambula, die im April und Mai auf dem Spielplan der Oper Frankfurt stand (mit einer überragenden Brenda Rae als Amina ). Für einen ersten szenischen Blick auf Bellinis Norma war ursprünglich geplant, eine Produktion der Norske Opera Oslo zu übernehmen. Doch die angekündigte Koproduktion in der Inszenierung der jungen Regisseurin Sigrid Strøm Reibo (im Bühnenbild von Katrin Nottrodtvon und mit Kostümen von Esther Bialas) wurde im Februar dieses Jahres überraschend aus künstlerischen Gründen aufgegeben. Als Glück erwies sich, dass der zu den international meistgefragten Opernregisseuren zählende Christof Loy, dessen Così fan tutte Inszenierung ein Dauerbrenner im Repertoire der Oper Frankfurt ist, kurzfristig einspringen konnte. Gemeinsam mit Bühnenbildner Raimund Orfeo Voigt und Kostümbildnerin Ursula Renzenbrink und dem Team der Oper Frankfurt entstand so innerhalb weniger Wochen, außerhalb der sonst üblichen Vorlaufzeit, die siebte (!) Neuproduktion der laufenden Spielzeit.
Die Dreiecksliebesgeschichte zwischen der gallischen Druidenpriesterin Norma, der Novizin Adalgisa und dem römischen Feldherrn Pollione, den Kriegskonflikt zwischen Galliern und Römern, verlegte Loy von 50 Jahre vor Christus in eine nicht allzu ferne Vergangenheit, ohne sich hinsichtlich Ort und Zeit festzulegen. Beeinflusst von Paul Verhoevens Film Zwartboek über den holländischen Widerstand während der deutschen Besatzung, zeigt er die gallischen Krieger als eine fanatische Gruppe von Widerstandskämpfern. Mit der Loslösung von den meisten Vorgaben des Librettos, befreite er sie von einem ablenkenden äußeren Rahmen und konzentrierte sich auf eine subtile Personenführung, die die Hauptprotagonisten stark in den Mittelpunkt stellt. Die einzigartige Tonsprache Bellinis kommt in dem reduzierten äußerlichen Rahmen intensiv zur Geltung.
Die Handlung spielt in und vor einer klassischen Guckkastenbühne. Es ist ein nicht allzu tiefer rechteckiger, holzvertäfelter Einheitsraum, mit einem großen Fenster auf der linken Seite. Gleichwohl schafft es Bühnenbildner Raimund Orfeo Voigt, diesem Raum unterschiedliche Facetten zu geben. So ist er während der Ouvertüre zunächst ein Feldlager gefallener und verwunderter Soldaten. In diesem liegt auch schon Norma, die hier von Pollione angetroffen wird (womit auf die Vorgeschichte Bezug genommen wird). Schon diese nicht im Libretto enthaltene wortlose, aber dennoch so intensive Begegnung zwischen den beiden, spricht stark für Loys genauen Blick auf die Figuren und das präsente Spiel der Sänger. Später ist der Raum das Haus vom Anführer Oroveso (prägnant und mit kraftvoller Stimme: der kanadische Bass Robert Pomakov), mit reduzierter Raumhöhe sodann die Wohnung von Norma. Weite gewinnt der Raum einzig zum Ende, wenn die Rückwand fehlt.
In der Titelrolle scheint die gebürtige südafrikanische Sopranistin Elza van den Heever in der Rolle ihres Lebens zu sein. Fast schon unglaublich, wie intensiv sie sich der Rolle hingibt und Normas widerstrebenden Gefühlen von rasender Eifersucht, Wut, Verzweiflung, aber auch von Sehnsucht und Liebesbedürftigkeit Ausdruck verleiht und sie als starke Frau von heute zeichnet. Die gesanglich überaus anspruchsvolle Partie, die ja auch gerne mit der legendären Maria Callas in Verbindung gebracht wird, meistert sie vortrefflich und das Publikum scheint währenddessen den Atem anzuhalten.
Genauso hervorragend ist die französische Mezzosopranistin Gaëlle Arquez als zauberhafte, vor lauter Gefühlstrubel fast schon ins Himmlische entrückte Adalgisa, die einen starken Wandel hinlegt und am Ende als Geschändete den Tod von ihr zwei sehr nahe Stehenden mit ansehen muss.
War Elza van den Heever einst Ensemblemitglied der Oper Frankfurt und gastiert Gaëlle Arquez hier regelmäßig, ist der italienische Tenor Stefano La Colla erstmals an der Oper Frankfurt zu hören. Er gibt einen charismatischen und kraftstrotzenden (auch stimmlich), aber nicht eindimensionalen Pollione (Gouverneur der Besatzungsmacht). Am Ende erkennt er, dass er für Norma noch immer Gefühle hat. In Nebenrollen: Alison King als Normas Vertraute Clotilde und Ingyu Hwang als Polliones Freund Flavio.
Der Chor der Oper Frankfurt (Einstudierung Tilman Michael) bringt sich als kämpferische Meute und innehaltende Beobachter stark ein. Außergewöhnlich expressiv, und dabei sängerfreundlich, leitet der italienische Belcantospezialist Antonino Fogliani das Frankfurter Opern- und Museumsorchester.
Indem Christof Loy sich auf die Gefühlswelt der drei Hauptfiguren konzentrierte, zeigte er Norma als packendes und authentisch wirkendes Liebesdrama, das tief berührt. Am Ende besonders großer Jubel und Standing Ovations, für Solisten, Chor und Orchester gleichermaßen.
Sämtliche Vorstellungen sind ausverkauft! Als Trost: Im Juni 2019 wird es eine Wiederaufnahme dieser Produktion geben (erneut mit Elza van den Heever und Stefano La Colla; der Vorverkauf startet am 25. Juni 2018).
Markus Gründig, Juni 18
Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg
Internationale Maifestspiele ~ Staatstheater Wiesbaden
Besuchte Vorstellung: 27. Mai 18
Uwe Eric Laufenberg, Intendant des Hessischen Staatstheater Wiesbaden, hat ein besonderes Faible für die Werke von Richard Wagner, hat er doch schon zahlreiche Opern von ihm nicht nur in Wiesbaden (wie den Ring), sondern auch in Bayreuth, Köln und Linz inszeniert. Im November vergangenen Jahres feierte sein erster Tannhäuser Premiere in Wiesbaden. Im Rahmen der diesjährigen Internationalen Maifestspiele des Staatstheater Wiesbaden gab es jetzt eine hochkarätig besetzte Aufführung dieser Produktion zu erleben. Mit Startenor Klaus Florian Vogt anstelle von Lance Ryan in der Titelpartie, Bariton Markus Brück als Wolfram von Eschenbach (anstelle von Benjamin Russell) und Bass Albert Pesendorfer als Landgrafen Hermann (anstelle von Young Doo Park).
Tannhäusers starker sexueller Trieb wird bei dieser Inszenierung sehr plastisch gezeigt. Sitzt er während der Ouvertüre noch andächtig mit anderen dick eingekleideten Pilgern vor einer herabgelassenen Leinwand, auf der u. a. Bilder vom Vatikan und von Papst Franziskus gezeigt werden (Videos: Gérard Naziri), wird es ihm ob der Frömmigkeit schon bald zu viel. Erst wendet er sich ab, dann entblättern sich einzelne Pilger, bis sie ganz nackt sind. Fortan sind sie Nymphen und Grazien (Charlotte Dambach, Viviana Defazio, Laurin Thomas, Rouven Pabst, Jorys Zegarac). Was folgt, ist eine bewegungsreiche, tänzerisch geprägte kunst- wie lustvolle Darstellung vom Geschehen im Venusberg. Auch bei den folgenden Akten tauchen die Figuren von Tannhäusers Versuchung immer wieder auf (dann aber zum Teil bekleidet).
Mit großer Leidenschaft und wo gefordert auch mit genügend Zurückhaltung, leitete GMD Patrick Lange das Hessische Staatsorchester Wiesbaden. Außergewöhnliches gibt es am Ende zu hören. Klangliche Verfremdungen bei den Schlussakkorden konterkarierten Tannhäusers Rettung musikalisch. Denn er ist schon ein ganz schön verwegener Bursche, dieser Tannhäuser. Erst gibt er sich ausschweifend der Wollust hin und tritt dann zum Sängerstreit um die holde Elisabeth an. Dass das nicht gut geht, ist das traurige Fazit der Oper. Uwe Eric Laufenberg präsentiert seine Geschichte mit schönen Optiken in einem zeitlosen Rahmen. Die Bühne von Rolf Glittenberg zeigt einen großen Raum mit zahlreichen gepolsterten Loungebänken, die in unterschiedlicher Anordnung ständig auf- und umgestellt werden (und so zwischen Kirchenbänken und „Spielwiesen“ für Amüsements chargieren). Die Wandseiten sind vertäfelt. Links zieren zusätzlich zahlreiche Geweihe die Wand, rechts ein großer vergilbter Kranz. Im 3. Akt gibt es viel Schwarz zu sehen, mit Schnee auf dem Boden. Ein großes weißes Kreuz befindet sich in der Mitte, während Wolfram von Eschenbach aus einem Campingzelt hervorgekrochen kommt. Die Rückwand wird für Projektionen abstrakter Bilder und für Landschaftsbilder genutzt. Farbenfroh sind hingegen die Kostüme der Damen, sei es das elegante, goldene Kleid für die Venus oder mittelalterlich anmutende Gewänder der Wartburggesellschaft (Kostüme: Marianne Glittenberg). Souverän bringen sich Chor und Extrachor des Staatstheater Wiesbaden (Einstudierung Albert Horne) ein.
Klaus Florian Vogt hat sich bisher vor allem als Lohengrin (in der gleichnamigen Oper) einen Namen gemacht, sang er diese Partie doch fünf Jahre bei den Bayreuther Festspielen (2011-2015) und zuvor an der New Yorker Metropolitan Opera (2006). Sein Tannhäuser-Debüt gab er im vergangenen Jahr an der Bayerischen Staatsoper in München. Seine unverwechselbare lyrische Stimme ist Hörgenuss pur. Klar fokussiert, dabei leicht und unbeschwert und an den nötigen Stellen kraftvoll und strahlend. Auch die Ensemblemitglieder der Deutschen Oper Berlin, Markus Brück und Albert Pesendorfer begeisterten das Publikum bei der ausverkauften Vorstellung. Markus Brück als ehrenhafter, kerniger Wolfram von Eschenbach und Albert Pesendorfer als in Statur und Stimme majestätischer Landgrafen Hermann. Einfühlsam und klangschön die in Bann ziehende Elisabeth der Sopranistin Sabina Cvilak und kraftvoll die Venus der Mezzosopranistin Jordanka Milkova. Betörend das weitestgehend a capella gesungene Lied des jungen Hirten durch Stella An.
Am Ende lang anhaltender, starker Applaus und Standing Ovations!
Markus Gründig, Mai 18
Un ballo in maschera ~ Ein Maskenball
Staatstheater Wiesbaden
Besuchte Vorstellung: 30. April 18 (Premiere)
Weltbekannte Sängerinnen und Sänger, renommierte Schauspielensembles, hochkarätige Tanzkompanien und Musiker sind in den kommenden vier Wochen zu Gast in Wiesbaden: Die Internationalen Maifestspiele haben begonnen. Sie stehen unter dem Motto aus Verdis Un Ballo in maschera „Un sogno lusinghier – Ein Traum voll Lust und Freude“. Diese Oper eröffnete die diesjährigen Maifestspiele, die erneut mit einem umfangreichen und vielseitigen Programm in allen Sparten aufwarten (Konzert, Oper, Schauspiel, Tanz und mit der Reihe Junge Woche auch Inszenierungen für Kinder und Jugendliche).
Die Neuinszenierung von Giuseppe Verdis, 1859 in Rom uraufgeführten Un ballo in maschera ~ Ein Maskenball, bietet große Oper und stellt einen glanzvollen Auftakt der Internationalen Maifestspiele dar, auch wenn, wie Intendant Uwe Eric Laufenberg bei seiner kurzen Ansprache zur Eröffnung bemerkte, es im Vorfeld nicht nur Zustimmung für diese Oper gegeben habe: „sie sei nicht hart genug“. Leichte Kost ist sie aber auch nicht, auch wenn der Titel an heiteres Musiktheater wie Die Fledermaus denken lässt. Schließlich geht es um eine dramatische Dreiecksliebesgeschichte mit tödlichem Ende.
Regisseurin Beka Savić, die von 2014 bis 2017 Spielleiterin am Hessischen Staatstheater war (und im Herbst 2018 hier den Musicalklassiker My Fair Lady inszenieren wird), verzichtet, anders als Claus Guth 2005 bei seiner Inszenierung für die Oper Frankfurt, auf eine Verortung in die Gegenwart. Bei ihr spielt die Oper aber auch nicht am Ende des 17. Jahrhunderts, wie es im Libretto gefordert ist, sondern im Boston zur Zeit der Prohibition, also in den 1920er Jahren.
Die Bühne beherrscht ein großes, auf der Drehbühne positioniertes, Gebäude mit schwarzen Ziegelsteinen, das mit seinen verschiedenen, zum Teil variablen, Fronten die unterschiedlichen Handlungsorte ermöglicht (Bühne: Luis Carvalho). Mal steht es weit vorne, mal mehr im Hintergrund. Wie bei den Szenen in der „schauerlichen Felsenschneelandschaft am Hochgericht“g (Ortsangabe des Libretto), dabei ziert dann eine Front ein großes Filmplakat, mit dem Portrait einer Blondine mit einem blauen Auge (aus dem Liebesdrama mit ähnlichen Inhalt: Love before Breakfast, von 1936). Auch die Gegend um das Gebäude herum ist dunkel gehalten (Licht: Andreas Frank). Finstre Gestalten lauern hier herum, wenn Amelia inmitten von Drogensüchtigen und Bettlern nach dem Kraut sucht, dass ihr helfen soll, der Liebe entsagen zu können.
Die Kostüme von Selena Orb spiegeln die Schlichtheit, aber auch die Eleganz der damaligen Zeit. Für die Damen gibt es ausgefallene und opulente Roben und museumsreifen Kopfschmuck. Dies nicht nur beim finalen Maskenball (der in einen, sich zauberhaft öffnenden, Saal in Art déco-Ambiente stattfindet), sondern auch schon im ersten Akt im stimmungsvollen Varieté (nebst Bühnenmusiker) der Wahrsagerin Ulrica (mit starker szenischer Präsenz und warmem Stimmtimbre: Die kanadische Altistin Marie Nicole Lemieux).
Die bedrohliche Grundatmosphäre und die intensiven leidenschaftlichen Gefühle der drei Hauptprotagonisten spiegelt sich auch im glühenden Spiel des Hessischen Staatsorchester Wiesbaden unter der Leitung seines GMD Patrick Lange. Es bietet eine die ganze Zeit über anhaltende positive Spannung mit prägnantem Ausdruck. Die amerikanische Sopranistin Adina Aaron war am Staatstheater Wiesbaden schon als Tosca und Norma zu erleben. Sie gibt eine sehr einnehmende Amelia und besticht mit ihren edel anmutenden lyrischen Gesangslinien. Der polnische Tenor Arnold Rutkowski nutzt seine Chance der Regie oftmals an der Rampe singen zu können und zeigt als Riccardo (Rollendebüt) mit großer Leidenschaft seine starken Belanctoqualitäten. Mit großem Format stellt sich der russische Bariton Vladislav Sulimsky als eifersüchtiger und innerlich tief getroffener Ehemann Renato dem Wiesbadener Publikum vor. Als quirliger Oscar ist koloraturensicherer und mit viel Spielfreude die Wiesbadener Stammsängerin Gloria Rehm zu erleben, sowie Benjamin Russell (Silvano), Florian Kontschak (Tom) und Young Doo Park (Samuel). Chor und Extrachor (Einstudierung: Albert Horne) sorgen klangschön zusammen mit der Statisterie für lebhafte Szenen.
Großer Jubel und Standing Ovations für einen ausgezeichneten Auftakt der Internationalen Maifestspiele.
Markus Gründig, Mai 18
La sonnambula
Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 20. April 18 (Wiederaufnahme-Premiere)
Die Oper Frankfurt ist weiterhin auf Erfolgskurs. Bei den in London jüngst vergebenen International Opera Awards 2018 wurde sie nicht nur in der Kategorie Wiederentdeckung des Jahres für Kreneks drei Einakter (Der Diktator; Schwergewicht, oder Die Ehre der Nation und Das geheime Königreich) ausgezeichnet, Intendant Bernd Loebe erhielt gar den International Opera Award 2018 in der Kategorie „Leadership in Opera“.
Das Frankfurter Opernpublikum profitiert stark von Loebes anspruchsvoller Programmpolitik, die auch ein starkes Augenmerk auf Modernes legt, zugleich aber auch sehr vielseitig ist. Sie bietet auch klassischen Belcanto, wie mit Vincenzo Bellinis Melodramma La sonnambula, dessen Inszenierung von Tina Lanik, im kargen und dennoch Akzente setzenden Bühnenbild von Herbert Murauer, jetzt zum ersten Mal wiederaufgenommen wurde und das trotz sommerlicher Wetterverhältnisse für ein sehr gut besuchtes Opernhaus sorgte. Vom restlos begeisterten Publikum gab es bei der besuchten Wiederaufnahmepremiere nicht nur nach beinahe jeder Arie Szenenapplaus und euphorische „bravi ~ bravi”-Rufe, am Ende der Wiederaufnahme dann auch tosenden Applaus (wie im Dezember 2014) und Standing Ovations.
Größten Anteil hieran hatte die amerikanische Sopranistin Brenda Rae, die die Titelrolle bereits bei der Premierenserie in der Spielzeit 2014/15 gab. Ein Glücksfall, dass sie hierfür erneut verpflichtet werden konnte. Sie ist nach wie vor ein ganz besonderes Erlebnis, das man sich nicht entgehen lassen sollte. Die Rolle der Schlafwandlerin Amina scheint ihr wie auf den Leib geschrieben zu sein, so fein nuanciert, hingebungsvoll und voller Innerlichkeit und Ausdrucksstärke gibt sie die tief empfindende Braut.
Erneut dabei ist auch Bassbariton Kihwan Sim als finster wirkender, aber aufrichtiger Feudalherr Graf Rodolfo, der an diesem Abend trotz leichter gesundheitlicher Indisposition (wie Pressesprecher Holger Engelhardt vor Beginn ankündigte) mit erhabener und kräftiger Stimme mahnend auf den wohlhabenden und etwas hemdsärmelig wirkenden Grundbesitzer Elvino einwirkt. In dieser Rolle gab der gebürtige junge rumänische Tenor Ioan Hotea sein Debüt an der Oper Frankfurt, was zugleich ein Rollendebüt darstellte. Mit Partien des lyrischen Tenorfachs singt er seit 2015 regelmäßig am Staatstheater Wiesbaden. Mit seiner unverbraucht klingenden hellen Stimme, die auch den nötigen Schmelz aufbietet, sorgt er für ergreifende Momente.
Als Ziehmutter Teresa, die eher wie eine gute Freundin wirkt, bringt sich Altistin Katharina Magiera schön ein. Glanzpunkte mit ihren Koloraturen setzt Sopranistin Elizabeth Sutphen (die derzeit noch Mitglied des Opernstudios ist) als Wirtin und Nebenbuhlerin Lisa. Dem wiederum in Lisa verliebten Bauern Alessio verleiht Thesele Kemane respektable Größe, wie auch Jaeil Kim als Notar gefällt (beide sind ebenfalls Mitglieder des Opernstudios).
Der von Tilman Michael einstudierte Chor der Oper Frankfurt hatte schon bei der Premierenserie eine überdurchschnittlich starke Präsenz geboten, so auch hier. Für ausgewogene Klangstrukturen sorgte das erneut unter Dirigentin Eun Sun Kim spielende Frankfurter Opern- und Museumsorchester.
Zum Spielzeitende wartet die Oper Frankfurt mit einer weiteren Oper von Bellini auf. Norma feiert am 10. Juni 2018 in einer Neuinszenierung von Christof Loy und unter der musikalischen Leitung von Antonino Fogliani Premiere an der Oper Frankfurt (mit Elza van den Heever als Norma und Gaëlle Arquez als Adalgisa).
Markus Gründig, April 18
Aus einem Totenhaus
Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 6. April 18
Fjdor Dostojewski (1821-1881) gehört mit Werken wie Schuld und Sühne, Der Idiot, Die Dämonen und Die Brüder Karamasow zu den bedeutendsten Romanautoren der Weltliteratur. Nicht nur sein Roman Der Spieler wurde von Sergei Prokofjew zu einer Oper umgearbeitet, auch seine Aufzeichnungen Aus einem Totenhaus (1860-62) wurden vertont. Und zwar vom tschechischen Komponisten Leoš Janáček (1854-1928), der u. a. durch seine Opern Jenufa, Die Ausflüge des Herrn Brouček, Katja Kabanowa, Das schlaue Füchslein und Die Sache Makropulos ebenfalls Weltruhm erlangte.
Dostojewskis Aufzeichnungen Aus einem Totenhaus sind kein normaler Roman, es ist ein Werk, dass stark autobiografisch und reportageartig geprägt ist. Er verarbeitete darin seine Erlebnisse in einem sibirischen Lager für Zwangsarbeiter und Verbannte (in Omsk), in dem er von 1850-54 seine Strafe für seine Mitgliedschaft in einem revolutionären Geheimbund verbüßte. Gleichwohl steht das Lager als Bild für das menschliche Zusammenleben insgesamt.
Leoš Janáčeks recht freie Umarbeitung war seine letzte Oper, deren Uraufführung er nicht mehr erlebt hat. An der Oper Frankfurt wurde Aus einem Totenhaus vor der Ära Bernd Loebe schon einmal gespielt (Neueinstudierung von Peter Mussbach einer Produktion des Théâtre Royal de la Monnaie aus Brüssel, Premiere war am 13. Februar 1994). Die Bühne von Johannes Schütz zeigte damals einen großen, weiten, und weitestgehend leeren Raum, der die trostlose Stimmung im Lager der elenden und leidenden Insassen eindrucksvoll widerspiegelte.
Eine Neuinszenierung kann natürlich keine Kopie einer schon einmal gegebenen Inszenierung sein und so unterscheidet sich die Neuinszenierung von David Hermann (Regie) im Bühnenbild von Johannes Schütz deutlich zu der von 1994. Hermann hatte für die Oper Frankfurt zuletzt vor einem Jahr sehr farbenfroh und heiter Ernst Kreneks Einakter Der Diktator, Das geheime Königreich und Schwergewicht, oder Die Ehre der Nation inszeniert.
Bei Aus einem Totenhaus verortet er das Geschehen örtlich unbestimmt, in der Gegenwart und frei von Ausblick auf die kirgisische Steppe. Die im Libretto nicht erwähnte Verhaftung Gorjančikovs fügt er während des Vorspiels ein. Gorjančikovs sitzt zunächst zusammen mit einer Frau (Gal Fefferman) an einem Laptop, als plötzlich maskierte Männer auftauchen, ihm einen Sack über den Kopf ziehen und ihn abführen. Sodann kommen fortlaufend beide Drehbühnen der Oper Frankfurt zum Einsatz, denn während seiner Zeit in der Strafkolonie durchschreitet er Raum um Raum (die „Zellen“ der Gefangenen haben unterschiedliche Größen und Inventar.). Johannes Schütz hat dafür hohe Ständerwände errichtet, die ohne Rückwände stets quer zur Bühne stehen. So ist der dunkle Hintergrund offen, in dem mitunter die weiteren Häftlinge in ihren blauen Häftlingsanzügen (Kostüme: Michaela Barth) oder die ebenfalls gefangenen genommene Frau im roten Kleid, zu sehen sind.
David Hermann macht die schwere Kost bietende Oper für ein breites Publikum zugänglich. Denn er bebildert stark und intensiv, weshalb die pausenlose knapp 100-minütige Aufführung wie im Flug vergeht. Die Berichte der Insassen, aus denen die Oper ja besteht, werden szenisch bebildert und stark fokussiert gezeigt. Wie beispielsweise bei Skuratovs Bericht über seine unglückliche Liebe zu einer deutschen Frau, bei dem das zurückliegende Geschehen szenisch nachgestellt wird. Lebhaft ist das Spiel beim Theater im Theater, bei der der Koch (Iain Mac-Neil vom Opernstudio) ein Rad schlägt und ein Hochzeitspaar und drei Hexen fröhlich dahertänzeln. Die existentielle Not der Allerelendsten und die triste Realität des Lageralltags bleibt allerdings, trotz intensivem Spiel, eher im Hintergrund. Wie auch die Fragen nach der Stellung des Menschen zu Gott (ein Kreuz ist immerhin als Schatten in Filkas Raum zu sehen), vom Sinn des Leids und dem Verhältnis von Gut und Böse, etwas kurz kommen.
Janáčeks dichte, spannungsgeladene Musik ertönt vom Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter der musikalischen Leitung von Tito Ceccherini schon beim Vorspiel sehr intensiv. Musikalisch wird die Verängstigung der Gefangenen, die Gewalt unter Ihnen und der Traum von einem anderen Leben ergreifend plastisch deutlich.
Groß ist die nahezu rein männliche Sängerbesetzung. Neben dem von Tilman Michael einstudierten Herrenchor, der sich immer wieder unter die Solisten mischt, sind von diesen besonders zu erwähnen: Bassbariton Gordon Bintner mit großer darstellerischer Präsenz als temporärer Insasse und Vaterfigur Gorjančikov, Tenor Vincent Wolfsteiner als skurriler Filka mit sadistischer Neigung, Tenor AJ Glueckert als unglücklicher Skuratov, Tenor Peter Marsh als Šapkin / Der fröhliche Sträfling und Bassbariton Brandon Cedel als Sträfling 1. Die einzige singende Frau, Sopranistin Karen Vuong, berührt in der Hosenrolle des Aljeja. Den Höhepunkt setzt Bariton Johannes Martin Kränzle als Šiškov mit seiner unter die Haut gehenden Erzählung über den Mord an seiner Frau im dritten Akt.
Am Ende viel Applaus für dieses ungewöhnliche Kollektivdrama und die kantige, originelle Klangsprache Janáčeks.
Markus Gründig, April 18
L´Africaine ~ Vasco da Gama
Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 2. März 18
Mit Gioachino Rossini, Giuseppe Verdi und Richard Wagner zählt der 1791 in Vodelsdorf (bei Berlin) geborene Giacomo Meyerbeer (Jakob Liebmann Meyer Beer) zu den wirkungsmächtigsten Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts. Als führender Komponist der französischen Grande Opéra, deren ungekrönter König er war (ab 1831 lebte er in Paris), feierte er immense Erfolge. Seinem kometenhaften Aufstieg in den Opernolymp folgte Jahre später ein jäher Absturz in die Vergessenheit. Dass er oftmals alle verfügbaren theatralische Mittel für seine Opernereignisse mit panoramaartigen Großszenen einsetzte, brachte die Kritik derjenigen gegen ihn auf, die die idealisierte Tonkunst in Gefahr sahen. Wobei seine größten Kritiker aus Deutschland stammten. Komponisten wie Richard Wagner, der in Paris keinen vergleichbaren Erfolg feiern konnte, und Robert Schumann wetterten gegen Meyerbeer. Ab dem 20. Jahrhundert wurden seine Werke immer weniger gespielt. In der Zeit des Nationalsozialismus waren sie ganz verboten und selbst nach 1945 sind sie auch nur selten auf den Spielplänen zu finden.
Die Uraufführung seiner letzten Grande Opéra L´Africaine im Jahr 1865 erlebte Meyerbeer nicht mehr, er starb ein Jahr zuvor. Dabei beschäftigte sich Meyerbeer mehr als zwei Jahrzehnte mit ihr. Doch die Fülle des Stoffes, nach einem Libretto von Eugène Scribe, sorgte schließlich dafür, dass sie unvollendet blieb (die Uraufführungsfassung wurde aus dem umfangreichen Material vom Komponisten François-Joseph Fétis zusammengestellt). Schon 1866 wurde L´Africaine auch an der Oper Frankfurt gespielt (der heutigen Alten Oper), nach 1945 gab es bislang jedoch nur eine konzertante Aufführung von ihr (1976). An der Oper Chemnitz wurde im Februar 2013 erstmals die revidierte Fassung nach der historisch-kritischen Edition von Jürgen Schläder gezeigt (unter dem Titel Vasco da Gama). Dieses Material liegt auch der Neuinszenierung der Oper Frankfurt zugrunde, die wiederum L´Africaine als Titel und Vasco da Gama als Untertitel führt.
L´Africaine verbindet sehr frei die Entdeckungsreisen des portugiesischen Seefahrers Vasco da Gama (* um 1469 – 1524) mit einer fiktiven Dreiecksliebesgeschichte. Wenige Jahre nachdem Christopher Columbus Amerika entdeckt hatte (1492), tat da Gama gleiches mit der Umrundung des afrikanischen Kap der Hoffnung (1497, um einen Seeweg nach Indien zu finden). In der Oper steht der Entdecker Vasco da Gama zwischen einer Frau aus seiner Heimat und einer Frau aus dem fernen Afrika, der titelgebenden Afrikanerin.
Regisseur Tobias Kratzer, der bereits Meyerbeers Opern Les Hugenotts in Nürnberg und Le Prophète in Karlsruhe inszeniert hat, verzichtet in seiner fantasievollen Inszenierung für die Oper Frankfurt nicht nur auf jeglichen historischen Kolorit, er setzt sie ganz in der Zukunft an. Die Filme Star Wars (Vorspanntitel) und Avatar (das fremde Volk besteht aus blauen Wesen) lassen grüßen. Mondäne Räume im Sternenflottenkommando auf dem Planeten Erde als Saal der Admiralität in Lissabon, eine Raumschiffkommandobrücke anstelle eines Segelschiffs und eine kühle Pflanzenwelt für Sélinkas Inselreich (Bühnenbild und Kostüme: Rainer Sellmaier; Video: Manuel Braun) lassen sehr gut die Gedanken auf ferne und fremde Welten aufkommen und verstören nicht. Das Thema Kolonisierung wird gewissermaßen weitergeführt, schließlich ist der Platz und die Ressourcen der Erde endlich und wer weiß, welche unbekannte Galaxien im Weltraum noch zu entdecken sind.
Ein alle fünf Akte (Spielzeit sind inklusive zwei Pausen beinahe fünf Stunden) durchziehendes Thema ist eine vergoldete Aluminiumplatte, wie sie an der Außenseite der 1972 gestarteten amerikanischen Raumsonde Pionier 10 angebracht wurde (mit Ziel Jupiter). Eine Kopie wird zur Ouvertüre auf den Vorhang projiziert, später gilt sie als Heiligtum auf Sélinkas Insel. Bevor der erste Ton ansetzt, ertönen in vielen Sprachen unserer Welt herzliche Grüße an alle. Doch schnell wird klar, diese Freundlichkeit ist nur vordergründig, dahinter lauert der Mensch mit seiner Gier und seinen Trieben nach Macht und Reichtum.
Bei aller Faszination für die wirklich ausgefallenen Optiken, wann sieht man schon einmal durch das All schwebende Astronauten in der Oper, die in Bann ziehenden großen Chortableaus (Einstudierung Chor und Extrachor: Tilman Michael) und den sängerischen Einzelleistungen, lohnt es sich auch ganz bewusst, sich auf das subtile Spiel des unter der Leitung von Antonello Manacorda agierenden Frankfurter Oper- und Museumsorchester zu konzentrieren. Denn Meyerbeers Stil zeichnet eine gelungene Mischung aus italienischen, französischen und deutschen Stilelemente aus, es ist eine emotional sehr ansprechende Musik, mit glanzvollen lyrischen Melodienbögen, wie bei der bekannten Arie „Ô Paradis“ (die hier mit zum Teil anderen Text gesungen wird).
Die Sängerbesetzung korrespondiert mit dem fantastischen Bühnengeschehen. Allen voran Mezzosopranistin Claudia Mahnke, deren hervorragende Verkörperung der Judith in Béla Bartóks Herzog Blaubarts Burg unvergessen ist, als Afrikanerin Selika. Zwar ist sie optisch unter der blauen Schminke und mit Alienperücke kaum zu erkennen, ihre starke körperliche und stimmliche Präsenz beeindruckt dennoch immens. Sein Debüt an der Oper Frankfurt gibt bei dieser Produktion der US-amerikanische Tenor Michael Spyres in der Rolle des Vasco da Gama. Seine kraftvolle Stimme dosiert er ausgewogen und mit viel Glanz. Bariton Brian Mulligan war zum Spielzeitbeginn bereits in Verdis Il trovatore als Conte di Luna zu Gast an der Oper Frankfurt. Hier gibt er nun einen muskelbepackten Sklaven Nelusko und kann dabei auch hier mit profunder Stimme für sich einnehmen. Ihr Deutschland-Debüt gibt hier die kanadische Sopranistin Kirsten MacKinnon (Ines), sie wird ab der kommenden Spielzeit zum Ensemble der Oper Frankfurt gehören. Schöne Koloraturen gelingen ihr mühelos. Drei Bässe verkörpern hier starke Männerrollen. Allen voran Andreas Bauer als markanter Präsident des Staatsrates (Don Pedro), aber auch Thomas Faulkner als auf alt getrimmter umsorgender General Don Diego (den Vater von Ines) und mit großer Autorität Magnús Baldvinsson als Großinquisitor von Lissabon und als Oberpriester des Brahma. Tenor Michael McCown gibt ein umsichtiges Ratsmitglied (Don Alvar) und Tenor Isaac Lee ragt als erster Matrose (hier natürlich im weißen Weltraumanzug) hervor. Vom Opernstudio bezaubert Mezzosopranistin Bianca Andrew als Dienerin der Ines (Anna).
Am Ende opfert sich Selika, und damit auch ihr Volk, den Portugiesen auf. Einer rührenden Traumsequenz, bei der sich Selika und Vasco im All vereinen, folgt nüchterne Realität. Regisseur Tobias Kratzer geht auch hier weiter und gibt der Liebe keine Chance. Nicht nur, dass Nelusko nicht gemeinsam mit Selika stirbt, vielmehr kehrt Vasco da Gama mit Gefolgsleuten zurück, metzelt das Volk nieder und hisst seine Flagge auf der nun eingenommenen Insel.
Sehr viel Applaus im sehr gut besuchten Opernhaus.
Markus Gründig, März 18
A Wintery Spring / Il serpente di Bronzo
Oper Frankfurt im Bockenheimer Depot
Besuchte Vorstellung: 24. Februar 18
Which One Are You?
Nach Händels Rinaldo und Trojahns Enrico zeigt die Oper Frankfurt als dritte Produktion der aktuellen Spielzeit im Bockenheimer Depot derzeit einen außergewöhnlichen Doppelabend: Das als Kompositionsauftrag von der Oper Frankfurt und dem Ensemble Modern entstandene A Wintery Spring von Saed Haddas (* 1972) als Uraufführung und die geistliche Barockkantate Il Serpente di Bronzo von Jan Dismas Zelenka (1679-1745). Was auf den ersten Blick als ein harter Kontrast erscheint, entpuppt sich dann doch als eine gelungene und passende Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Werke.
Mit Saed Haddad konnten die Oper Frankfurt und das Ensemble Modern einen zeitgenössischen Komponisten gewinnen, der in seinem musikalischen Œuvre verschiedene Welten verbindet. Die seiner Herkunft, er wurde im Libanon geboren, und die seiner Gegenwart (er lebt seit langem in Berlin). Bezeichnend ist dabei aber viel mehr sein Bestreben, musikalisch „ein Gleichgewicht von physischen (wie Schönheit, Energie, Zauber, Spannung, Virtuosität usw.) und metaphysischen (das Existenzielle, das Geistige und das Transzendentale) Eigenschaften auszudrücken“g (Dan Albertson).
Thema seines als Dramatisches Lamento bezeichneten A Wintery Spring ist der Arabische Frühling, der im Jahr 2010 in Ländern wie Ägypten, Libyen und Tunesien die Hoffnung auf demokratische politische Verhältnisse und Verbesserung der Menschenrechtslage zwar weckte, aber alsbald kläglich scheiterte. Das knappe Libretto formte Saed Haddad aus Texten des Malers, Dichters und Philosophen Khalil Gibran (1883 – 1931), einem zwischen der arabischen und westlichen Welt Wandelnder wie er selbst. Obwohl die Texte lange vor dem Arabischen Frühling verfasst wurden, passen sie dennoch sehr gut, um die Strukturen und Verhältnisse in der arabischen Welt zu befragen. Eine konkrete Geschichte wird dabei nicht erzählt. Die drei auftretenden Figuren tragen deshalb auch nur die Bezeichnung ihrer Stimmlage. Und der rein musikalische Anteil überwiegt. Saed Haddads Musik weist zwar auch eruptive Klangentfaltungen und Dissonanzen aus, überwiegend wirkt sie aber behutsam, innig und verzaubernd. Es macht sehr viel Freude, sich ihr hinzugeben. Zumal das Ensemble Modern unter der Leitung des versierten Dirigenten Franck Ollu die unterschiedlichen Stimmungen und Klangfarben behutsam und schön plastisch herausspielt.
Regisseurin Corinna Tezel bebildert dieses Lamento über den nicht erfolgreichen Arabischen Frühling und die Frage nach dem eigenen Standpunkt (auf einem LED Schriftband wird die Frage “Which One Are You?” gestellt) behutsam. Die Bühne von Stephanie Rauch deutet archaische Wüstenlandschaft an, gleicht einem großen Sandhügel an Meer und Landschaft, nah an einer industriellen Zone, mit wohnlichen Strukturen (in Form von Bassins/Quellen). Später kommt als Bezug zur Gegenwart ein Schreibtisch mit Laptop ins Spiel. Die drei Protagonisten tragen arabisch anmutende Gewänder und zeitgemäße Kleidung (Kostüme: Wojciech Dziedzic). Das Libretto und weitere Texte werden auf Bildschirme projiziert (sind aber auch in einem Beigabetext im Programmheft nachzulesen), wie auch Bildsequenzen aus der arabischen Welt eingespielt werden (Video: Mario Spiegel).
Alison King, vom Opernstudio Frankfurt, gibt eine anmutige Sopranstimme, Brandon Cedel einen markanten Bassbariton, Gastsängerin Deanna Pauletto beeindruckt mit ihrer warmen, runden und tiefen Altstimme.
Auch Jan Dismas Zelenkas Kantate Il Serpente di Bronzo gleicht einem Lamento. Der Text von Stefano Benedetto Pallavicini nimmt Bezug zum 21. Kapitel aus dem 4. Buch Mose (Altes Testament). Das Volk Israel irrt durch die Wüste, dürstet nach Wasser und sehnt sich nach Ägypten zurück. Als Strafe für ihr großes Lamentieren wird es von feurigen Schlangen gebissen. Mose legte jedoch ein Wort ein und schafft auf Befehl Gottes eine bronzene Schlange, durch deren Anblick niemand sterben muss. Stephanie Rauchs Wüstenlandschaft, hier um einen langen Steg erweitert, passt für die nach ihrer Identität Suchenden hier mindestens so sehr, wie im ersten Stück. Mit Aufnahmen aus einem Luxusurlaubsressort weist Regisseurin Corinna Tetzel das Volk als heutiges, selbstsüchtiges und verwöhntes Volk aus, um es später mit über den Kopf gestülpten Masken als charakterlose Wesen zu bezeichnen.
Wie das Frankfurter Opern- und Museumsorchester in der Vergangenheit schon bewiesen hat, dass es alle musikalischen Stile bedienen kann, so zeigt sich hier auch das für Neue Musik weltweit gefragte Ensemble Modern flexibel und spielt, in etwas abgewandter Besetzung als im ersten Stück, erstmals Alte Musik. Denn der zu Unrecht in Vergessenheit geratene Komponist Jan Dismas Zelenka war ein Zeitgenosse Johann Sebastian Bachs und Henry Purcells, weshalb seine Kantate lI serpente di bronzo zum Barock zählt.
Bassbariton Brandon Cedel gibt hier zudem einen umsichtigen Dio (Gott). Mezzosopranistin Judita Nagyová nimmt als eine sich um ihre Früchte sorgende Namuel für sich ein, Mezzosopranistin Cecelia Hall als eine die Verhältnisse hinterfragende Egla. Seine ausgewogene und in Spitzentönen voll tönende Countertenorstimme bringt Dmitry Egorov als sich nach der Vergangenheit sehnender und Golf spielender Azaria ein. Tenor Michael Porter ist als Mose nahezu die ganze Zeit über präsent und verleiht seinen Arien innigen Ausdruck. In beiden Stücken werden die jeweils kurzen Chorpassagen täuschend echt aus dem Off eingespielt (Ton und Aufnahmeleitung Vokalensembles: Felix Dreher).
Für beide Stück viel Applaus.
Markus Gründig, Februar 18
Rigoletto
Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 3. Februar 18 (Wiederaufnahme)
Ein ausverkauftes Haus zur Wiederaufnahmepremiere spricht eine deutliche Sprache. Giuseppe Verdis Rigoletto ist ein Publikumsschlager, erst recht in der Inszenierung von Hendrik Müller, im sakral wie weltlich anmutenden Bühnenbild von Rifail Ajdarpasic, den Lack- und Leder-Kostümen von Katharina Weissenborn und mit so ausgezeichneten Sängern, wie die der Oper Frankfurt. Kein Wunder, dass auch die folgenden Aufführungstermine im Februar bereits sind nahezu alle ausverkauft sind. Lediglich für die drei restlichen Aufführungen dieser Spielzeit (im März) gibt es aktuell noch eine größere Kartenauswahl. Hendrik Müllers Inszenierung zeigt eine skrupellose, selbstsüchtige Gesellschaft, die im Libretto von Francesco Maria Piave, nach Victor Hugos Drama „Le Roi s‘amuse“ zwar schon angelegt ist, hier aber deutlich verschärft gezeigt wird.
Mit Alexander Priors Debüt an der Oper Frankfurt hat diese einen aufstrebenden Star verpflichtet. Der gebürtige Brite, Jahrgang 1992 (!), komponiert schon seit Kindheitstagen. Sein im Auftrag des Moskauer Staatsballetts entstandenes Ballett Mowgli erhielt internationale Anerkennung, da war er gerade einmal 13 Jahre alt. Er war seit Sergei Prokofjew der jüngste Schüler des Konservatoriums in St. Petersburg, der im Alter von 17 Jahren als Dirigent ausgezeichnet wurde. Seit dieser Spielzeit leitet er das kanadische Edmonton Symphony Orchestra. Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester führt er mit großen Gesten, Verve und sehr sängerfreundlich. Am besten beschreibt er die Zusammenarbeit mit dem Haus aber selbst auf seiner Facebookseite, zwei Tage vor der Wiederaufnahmepremiere: „The cast is just outstanding and it’s been a privilege ans joy to make music and theatre with them, the entire team is so talented and upbeat, and the orchestra is both sweet and lovely as could be and a truly luxurious, powerhouse-sound producing group with a tone that is flexible but rich and dark, warm and luscious… pure delight!“.
Ein sehr geglücktes Hausdebüt gab der italienische Bariton Franco Vassallo bereits vor einem Jahr, als er bei der konzertanten Aufführung von Verdis Ernani kurzfristig für den erkrankten Quinn Kelsey als Don Carlo eingesprungen war. Jetzt trumpft er als innig um seine Tochter sorgender buckeliger Hofnarr Rigoletto auf, dass selbst im Publikum sitzende Ensemblemitglieder lautstark „Bravo, bravo“ rufen. Diese Rolle verkörperte er u. a. schon an den Opernhäusern in Dresden, Hamburg und München. Als Gilda ist erneut das ehemalige Ensemblemitglied Brenda Rae zu erleben, die diese Rolle schon in der Premierenserie vor einem Jahr verkörperte. Ihre ausgefeilte Pianissimokultur und Ausdrucksvielfalt ist schlichtweg atemberaubend.
Die Deutsche Oper Berlin, die Sächsische Staatsoper Dresden, die Bayerische Staatsoper München, die Wiener Staatsoper und das Opernhaus Zürich sind nur einige der Häuser, an denen der koreanischen Tenor Yosep Kang bereits als Herzog von Mantua das Publikum begeisterte. Bei seinem Debüt an der Oper Frankfurt war er bei seiner Auftrittsarie noch etwas zurückhaltend, was möglicherweise seiner Position auf dem linksseitigen Balkon geschuldet war. Denn im Folgenden zeigt er sich in seiner Paraderolle überaus präsent und überzeugte mit wohlklingendem Schmelz und modulationsreicher, strahlender Tenorstimme (mit den Hits „Questa o quella“ und „La donna è mobile“).
Mit vornehmer Zurückhaltung gestaltete der Bass Kihwan Sim die Rolle des Auftragsmörders Sparafucile zwar souverän, dürfte sich hier vokal durchaus finsterer und stärker geben, das kann er gewöhnlich ja ohne Probleme. Als Sparafuciles Schwester Maddalena sorgt Maria Pantiukhova für kurze anrührende Momente, wie auch die Giovanna der Nina Tarandek rollenbedingt nur kurz zu Wort kommt und vor allem mit ihrem Spiel als geschäftstüchtige Gouvernante, die stets die äußere Form wahrt, in Erinnerung bleibt.
Stimm- und spielstark bringen sich nicht nur die weiteren Herren (Magnús Baldvinsson erneut als fluchender Graf von Monterone, Mikolaj Trabka als Edelmann Marullo mit rauen Sitten, Michael McCown erneut als Höfling Borsa, Iain MacNeil als Graf von Ceprano, sowie Bianca Andrew als Gräfin von Ceprano) ein, sondern auch der von Tilman Michael einstudierte Chor der Oper Frankfurt.
In den Folgevorstellungen kommen zum Teil auch weitere Sänger zum Einsatz (als besonderes Highlight am 11. und 17. Februar 2018 mit Željko Lucic in der Titelrolle).
Frenetischer Applaus!
Markus Gründig, Februar 18
Roberto Devereux
Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 2. Februar 18 (Premiere)
„Schatten der Liebe ~ Feuer des Gesangs“
Joachim Reiber
Der 1797 geborene italienische Komponist Gaetano Donizetti gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des Belcanto, jenes Stils, der wie kein anderer auf Wohlklang und Brillanz der Stimme abzielt („bel canto“ heißt übersetzt so viel wie „schöner Gesang“). Von seinem umfangreichen Œuvre (mit 70 Bühnenwerken) bekannt: vor allem seine Opern L’elisir d’amore (von 1832), Lucrezia Borgia (1833) und Lucia di Lammermoor (1835). Die jetzt an der Oper Frankfurt konzertant dargebotene, 1837 entstandene, Oper Roberto Devereux gehört zu den eher unbekannteren Werken. Sie zählt, zusammen mit Anna Bolena und Maria Stuarda zu den Tudor-Opern Donizettis, die alle Figuren des englischen Königshauses thematisieren. In Roberto Devereux ist die englische Königin Elisabeth I. (* 1533) die zentrale Figur, deren unglückliche Liebe zum wesentlich jüngeren 2. Earl of Essex, eben jenen titelgebenden Roberto Devereux (* 1565) tragisch endet. Wobei die Oper natürlich kein historisches Abbild liefert. Dafür aber ein Feuerwerk an hoch expressiven Gefühlsexplosionen. Im Vergleich zur aktuellen szenischen Darbietung von Strauss´ Oper Capriccio an der Oper Frankfurt mit ihrem ausgedehnten Parlandostil, ein diametraler Gegensatz.
Im Fokus befinden sich bei dieser Oper eindeutig die Solisten. Der Chor der Oper Frankfurt (Einstudierung: Tilman Michael), wie das Frankfurter Opern- und Museumsorchester (Musikalische Leitung: Giuliano Carella), stehen bei diesem Werk hingegen nicht nur physisch leicht im Hintergrund, auch wenn sie mit schönem Gesang und ebensolchen Klängen aufwarten.
Für die zwei konzertanten Aufführungstermine von Roberto Devereux verpflichtete die Oper Frankfurt Ensemblemitglieder und Gäste. In der Titelrolle glänzt Ensemblemitglied Mario Chang mit seiner geschmeidigen Stimme in allen Lagen. Der Tenor wird im März erneut an der New Yorker Metropolitan Opera zu erleben sein (als Lord Arturo Bucklaw in Donizettis Lucia di Lammermoor).
Für die Rolle der Elisabetta war zunächst Adela Zaharia eingeplant, doch übernahm nun die gebürtige Kanadierin Ambur Braid diese Rolle. Nach ihrem Debüt als Königin der Nacht (in Mozarts Zauberflöte) an der Oper Frankfurt, machte sie im vergangenen Jahr als agile Königin im giftgrünen Outfit mit ihren Koloraturen in Kreneks Das geheime Königsreich auf sich aufmerksam und wird erfreulicherweise ab der nächsten Spielzeit zum Ensemble der Oper Frankfurt gehören. Als Elisabetta I. ist sie eine Wucht, in erster Linie gesanglich, aber auch mimisch. Von herzallerliebst bis zur wilden Furie zeigt die Koloratursopranistin alle Gefühle der von Eifersucht zerriebenen Herrscherin mit beeindruckenden Spitzentönen und Pianissimo (wobei sie eine sehr junge Elisabetta I. darstellt).
Zurück nach Frankfurt kehrte, zumindest für diese Aufführungen, die britische Mezzosopranistin Alice Coote. Die weltweit gefeierte Sängerin verleiht Robertos Geliebter Sara nicht nur stimmlich großen Anmut und Würde. Der gebürtige spanische Bariton Juan Jesús Rodríguez gab als vermeintlich um seine Ehre verletzter Duca di Nottingham, also dem Ehemann von Sara, ein eindrucksvolles Debüt an der Oper Frankfurt.
Die vier klangstarken Hauptprotagonisten wurden unterstützt von Tenor Ingyu Hwang (Lord Cecil), Bass und Ensemblemitglied Daniel Mirosław (Sir Gualtiero Raleigh) und Bass Thesele Kemane vom Opernstudio der Oper Frankfurt (Ein Page / Vertrauter Nottinghams).
Nach reichlich Zwischenapplaus großer Jubel, inklusive Bravo-Rufen und vereinzelten Standing Ovations, für dieses klanggewaltige Fest des Belcanto.
Markus Gründig, Februar 18
La clemenza di Tito
Staatstheater Mainz
Besuchte Vorstellung: 27. Januar 18 (Premiere)
Am Tag seines 262. Geburtstages feierte Mozarts Spätwerk La clemenza di Tito in einer Inszenierung von Katrin Sedlbauer Premiere am Staatstheater Mainz. Als Auftragswerk für die Kaiserkrönung Leopolds II. in nur 17 Tagen komponiert, wurde diese Opera seria zwar vor der Zauberflöte am 6. September 1791 in Prag uraufgeführt, doch war zu diesem Zeitpunkt die Arbeit an der Zauberflöte schon fast beendet, weshalb La clemenza di Tito als letzte Oper des Genies betrachtet wird. In Zeiten von umstrittenen Präsidenten wie Kim Jong-un, Wladimir Putin oder Donald Trump mutet es schon kurios an, wenn die Clemenza, also die Milde, zur obersten Herrschertugend erhoben wird. In Mozarts Oper mit dem Libretto von Caterino Mazzolà (nach Pietro Metastasio) erscheint das Thema in einem historischen Gewand und entwirft, verbunden mit einigen Liebeskonflikten, die Utopie von einem neuen Herrscherbild.
Für die junge Regisseurin Katrin Sedlbauer, die 2015 am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen Schaf („Musiktheater für Kinder von 4 – 7 Jahren“) inszenierte und bisher vor allem als Regieassistentin arbeitete, ist La clemenza di Tito die erste große Inszenierung. Ein toller Einstand! Dabei kommt ihre Inszenierung im Bühnenbild von Stefan Heyne betont nüchtern daher. Aber sie setzt mit einfachen Mitteln ergreifende Akzente und gibt den Sängern eine große Bühne, um ihr Können zu beweisen.
Zahlreiche große Trennwände aus Glas in schmalen Stahlrahmen beherrschen die Bühne. Sie weisen alle eine leichte Biegung auf und stehen in unterschiedlichen Positionen. Durch Einsatz der Drehbühne ergeben sich so die unterschiedlichen Handlungsorte. Wie ein, einem Trichter ähnlichen, eng zulaufender Raum mit einem Rednerpult und einer Spiegelwand im Hintergrund für Titus‘e Bereich, oder einen quer stehenden, wellenförmigen für die nach Macht strebende Vitellia. Mit geschicktem Einsatz von Hintergrundbeleuchtung/Projektionen und einer Feuerschale (Licht: Ulrich Schneider) entstehen reizvolle Effekte. Geschlossene Räume gibt es nicht, denn hinter den Glaswänden, deren Glas nicht vollständig transparent ist, lauern mitunter einzelne Figuren oder gar das Volk. Die langjährige, tiefe Verbindung zwischen Tito Vespasiano und Sesto wird durch Kinder angedeutet, die u. a. während der Ouvertüre fechten und so von einer frühen Verbindung zwischen den beiden zeugt (zu denen sich ein Mädchen, als die junge Vitellia, gesellt).
Ein besonderer Moment ist das Ende des ersten Akts, wenn Sesto nach seiner Tat zusammenbricht. Hier erscheint nicht nur die junge Vitellia in einem blutverschmierten Hemdchen, sondern die Stimme des Volkes, die zunächst behutsam, dann sich dramatisch steigernd, den Klassiker der italienischen Partisanenbewegung anstimmt: „Bella Ciao“. Und auch zum Ende des zweiten Akts setzt Katrin Sedlbauer ein deutliches Zeichen. Zur Versöhnungsfeier stehen Sesto und Vitellia nicht nebeneinander. Vitellia, über sich selbst erschüttert, sinkt in ihrem langen Hochzeitsschleier zusammen, während sich Tito mit einer blutenden Hand neben sie stellt.
Kapellmeister Samuel Hogarth und das Philharmonische Staatsorchester Mainz sorgen dafür, dass die Sänger glänzen können und Mozarts Musik, die den Figuren in ihr Herz schauen lässt, mit feinem Sinn und Verve erklingt. Letztlich ist diese Produktion aber wegen der schönen und starken Stimmen aus dem Ensemble des Staatstheater Mainz gelungen. Der gebürtige US-amerikanische Tenor (und Komponist) Steven Ebel gibt einen jugendlich wirkenden Tito Vespasiano, der die Unbedarftheit der Figur sehr schön widerspiegelt, gleichwohl stimmlich sehr prägnant ist. Bass Stephan Bootz, mit dünnen blonden Haarsträhnen versehen, ist ein finstrer Publio. Doch die Herren werden von den Damen stimmlich übertrumpft. Sopranistin Nadja Stefanoff ist im üppigen goldenen Reifkleid eine dominante, intrigante und die Macht anstrebende Vitellia par excellence. Optisch passt zwar die deutlich kleinere Mezzosopranistin Geneviève King in der Hosenrolle des in sich zerrissenen Sesto zwar nicht wirklich zur Vitellia, darüber muss man einfach hinwegsehen, was bei ihrer Stimmgewalt kein Problem ist. Für die innig vorgetragene „Parto“-Arie erhielt sie den ersten Zwischenapplaus. Und auch Alexandra Samouilidou in der Hosenrolle des Servilia besticht mit betörenden Tönen, wie auch Vero Miller als Annio aufhören lässt.
Nicht zuletzt bringt sich der von Sebastian Hernandez-Laverny einstudierte Chor des Staatstheater Mainz klangstark und spielfreudig in heutigen Abendroben (Kostüme: Kirsten Dephoff) ein.
Starker und lang anhaltender Applaus und vereinzelt Standing Ovations, für Ensemble und Regieteam gleichermaßen.
Markus Gründig, Januar 18
Enrico
Oper Frankfurt im Bockenheimer Depot
Besuchte Vorstellung: 25. Januar 18
Bevor Ende Februar im Bockenheim die Uraufführung von A Wintery Spring / Il serpente di bronzo stattfindet, gibt es zuvor ein weiteres Werk der Moderne zu entdecken: Enrico. Die dramatische Komödie in neun Szenen von Manfred Trojahn entstand als Auftragswerk des SWR für die Schwetzinger Festspiele, wo sie, als Koproduktion mit der Bayerischen Staatsoper, 1991 uraufgeführt wurde. Das Libretto von Claus H. Henneberg beruht auf dem Drama Enrico IV des italienischen Nobelpreisträgers Luigi Pirandello (aus dem Jahr 1922).
Der Stoff könnte auch hollywoodreif mit Starbesetzung verfilmt werden: Während einer Maskerade stürzt ein Mann. Anschließend glaubt er, die als Maske dargestellte Person Heinrich der IV. (1050 – 1106, bekannt durch seinen Bußgang zur Burg Canossa, der zum geflügelten Wort für einen erniedrigenden Bittgang wurde) tatsächlich zu sein. Nach 20 Jahren hat er die Chance, zu seinem alten Charakter zurückzukehren, doch ein Mord verdammt ihn dazu, für immer als Verrückter zu gelten.
Dabei geht es um die allgemein gültige Frage, welche Identität ein jeder verkörpert. Wann ist man authentisch, so, wie man ist. Denn niemand ist in einer Gesellschaft frei, ständig und überall der zu sein, der man wirklich ist. Gegenüber Eltern, Kindern, Freunden oder auf der Arbeit, überall gibt man ein anderes Bild ab. Enrico treibt dies Spiel um Identität auf die Spitze und zahlt am Ende einen hohen Preis dafür.
Für das an die Commedia dell’arte angelehnte Possenspiel komponierte der 1949 im niedersächsischen Cremlingen geborene Dirigent und Komponist Manfred Trojahn eine anspruchsvolle, komplexe und vielseitige Musik, die mit einer großen Bandbreite aufwartet und Musikern und Sängern sehr viel abverlangt. Trojahn leugnet nicht Komponisten wie Rossini, Strauss, Britten oder Legeti, fand bei dieser, seiner ersten, Oper einen eigenen Stil. Zum furiosen Wechsel von Witz und Tragik in der Handlung, korrespondiert die Musik mit eruptiven, expressiven Klanggewalten und dunkel melancholischen Stimmungen (wie das bezaubernde Querflötensolo zu Enricos Selbstreflexion „Jetzt musste man beim Mond“). Die hier spielenden 27 Musiker des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters vermitteln Trojahns Klanguniversum unter der musikalischen Leitung von Roland Böer überaus eindrucksvoll.
Die Bühne von Britta Tönne zeigt als Thronsaal das Halbrund einer Bibliothek mitsamt Galerie, Wendeltreppe und großem, historisch anmutenden, Leuchtkranz. Bei Verena Polkowskis Kostümen spinnen die Gewänder der Damen einen losen Bezug zum frühen Mittelalter (der Zeit Heinrichs IV.). Der Wissensreichtum der imposant zur Schau gestellten Bücher bleibt unangetastet, wo es um Persönlichkeitsstörungen wie bei Enrico geht. Dieser Ort ist für ihn eher ein Gefängnis. Für Klarheit reicht ein Blick ins Freie, in die Weite des Lebens. Doch dieser am Ende vorgeführte Ausblick kommt für ihn zu spät.
Mit 11 Darstellern gibt es eine recht große Besetzung. Regisseur Tobias Heyder setzt sie subtil ein. In der Titelrolle leistet Tenor Holger Falk Außerordentliches, sowohl darstellerisch, wie auch als Sänger. Freuen kann man sich über Juanita Lascarro als Enricos frühere Geliebte Marchesa Matilda Spina und Angela Vallone als Matildas Tochter Frida. Sebastian Geyer legt sich als Barone Tito Belcredi mächtig ins Zeug, Dietrich Volle ebenso, als beflissener Dottore. Mit viel Energie dabei ist der Landolfo des Peter Marsh und der Carlo di Nolli des Theo Lebow. Mit kurzen aber prägnanten Auftritten zeigt sich die Dienerschaft (Bertoldo: Samuel Levine; Arialdo: Björn Bürger; Ordulfo: Frederic Jost; Giovanni: Doğuş Güney).
Großer und lang anhaltender Beifall!
Markus Gründig, Januar 18
Capriccio
Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 18. Januar 18
Lange ist es her, das Richard Strauss´ Capriccio in Frankfurt gespielt wurde. Nach 1945 gab es bisher erst zwei Inszenierungen (die am 24. März 1979 bzw. am 23. März 1962 ihre Premiere feierten). Auch an anderen Häusern wird das Stück, das 1941 entstand und 1942 in München uraufgeführt wurde, selten gespielt. Die Chance, dieses geistreiche und humorvolle, von Strauss selbst als „Konversationsstück mit Musik“ bezeichnete Werk zu sehen, lohnt sich allemal. Auch wenn der hier von ihm in Höchstform vollendete Parlandostil mit langem Atem vorgeführt wird (der Einakter dauert 150 Minuten, die ohne Pause gegeben werden).
Die Idee zu Capriccio stammt von Stefan Zweig. Da dieser 1934 vor der nationalsozialistischen Diktatur ins Exil geflohen war, stand er für Strauss als Librettist nicht zur Verfügung. Der österreichische Dirigent und Theaterleiter Clemens Krauss wurde mit der Verfassung des Librettos betraut (Kraus war von 1924-1929 Intendant der Oper Frankfurt).
Thema des Konversationsstücks ist die alte Frage, ob in der Oper der Musik oder dem Wort der Vorrang gehört. Dieser Disput wird hier vom Musiker Flamand (kraftvoll: Tenor AJ Glueckert) und Dichter Olivier (einnehmend strahlend: Bariton Daniel Schmutzhard) vor der reichen verwitweten Gräfin Madeleine (die gefeierte Straussinterpretin Camilla Nylund in Höchstform, mit großer Erhabenheit in Ausdruck und Stimme) verhandelt, die schließlich entscheiden soll, welcher Seite (bzw. welchem Mann) sie ihre Gunst zuwenden möchte.
Für die Regie konnte die Oper Frankfurt Brigitte Fassbaender gewinnen, zweifelsohne ein Glücksgriff. Die große Sängerin und ehemalige Intendantin wurde am 29. Oktober 2017 in der Hamburger Elbphilharmonie bei der 24. Echo-Klassik-Verleihung für ihr Lebenswerk gewürdigt (die Laudatio hielt Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt). Ihre Inszenierung ist nicht weltfremd. Sie lässt die Handlung sehr behutsam in der Zeit der Entstehung, während der deutschen Besetzung Frankreichs, spielen (nicht wie von Strauss vorgegeben um das Jahr 1775, dem Zeitraum des Beginns von Glucks Opernreformen), schließlich kann sich Brigitte Fassbaender nicht der Tatsache entziehen, dass Krauss und Strauss Mitläufer und Nutznießer des nationalsozialistischen Systems waren. Dadurch hat Fassbaender dem Werk eine tiefere Bedeutung verliehen und die ohnehin schon große Rolle der Gräfin aufgewertet. Sie ist hier nicht nur eine Gesellschaftsdame, die gepflegt Konversationen führt, sondern sie ist auch eine sich für ihr Land engagierende Frau, die im Hintergrund schon längst Kontakt zur Widerstandsbewegung aufgenommen hat und sich ihr am Ende vollständig anschließt.
Andeutungen zum Nationalsozialismus und den 2. Weltkrieg gibt es nur wenige (wie in Form von zwei Hitlergrüßen, ines Hitlerbärtchens und Bildprojektionen zerstörter Städte). Dass die acht Diener/Musiker in ihren Koffern schweres Waffengerät statt Musikinstrumente haben, wird erst später deutlich, passt aber zur klugen Umsetzung. Dank Besuche von einer jungen Tänzerin (anmutig: Katharina Wiedenhofer) und eines italienischen gefräßigen Gesangduos (spiel- und stimmstark: Sopranistin Sydney Mancasola und Tenor Mario Chang) werden die geistreichen Konversationen wunderbar aufgelockert.
Die Bühne von Johannes Leiacker zeigt einen herrschaftlichen Gartensaal im Winter, mit etwas Interieur und zu geeisten Glasfenstern an den Seiten und der Decke (und zum Teil kahlen Pflanzen). Ein prachtvoller Vorhang ziert die Bühne während des eröffnenden Streichersextett, später ist eine Kopie davon auf der im Hintergrund gelegenen Bühne im Gartensaal zu sehen (dort aber bereits mit ersten Kriegsspuren, in Form von Rußstreifen, versehen). Die letzte Szene gehört Madeleine, entsprechend wird ihr Gartensaal während des Zwischenspiels nach hinten vergrößert: Er wirkt beeindruckend – wie in die Länge gezogen. Hier erscheint Madeleine zunächst in einem prachtvollen Rokokokleid (Kostüme auch Johannes Leiacker), um sich dann aber für einen schlichten Mantel und eine Baskenmütze zu entscheiden…
Als mondäne Schauspielerin Clairon verzaubert Mezzosopranistn Tanja Ariane Baumgartner. Bassbariton Gordon Bintner gibt einen energiegeladenen Bruder der Gräfin. Den erfahrenen Theaterdirektor La Roche verkörpert Alfred Reiter mit Nachdruck. Tenor Graham Clark gibt den Monsieur Taupe passend doppeldeutig. Mit Noblesse zieht der Haushofmeister des Bariton Gurgen Baveyan, Alumnus des Frankfurter Opernstudios, die Fäden für der Gräfin Zukunft.
Bei dieser Produktion leitet der ebenfalls Strauss-erfahrene Generalmusikdirektor Sebastian Weigle das Frankfurter Opern- und Museumsorchester. Hier gefallen ganz besonders das Streichersextett zu Beginn, die außerordentliche „Mondschein Musik“ und die subtile Begleitung des umfangreichen Konversationsgesangs.
Starker Beifall für das ansprechend umgesetzte und glänzend präsentierte scherzhafte Musikstück mit Niveau.
Markus Gründig, Januar 18
Der Mieter
Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 16. November 17
Berauschende Symbiose von Libretto, Musik und Inszenierung
Die Uraufführung von Arnulf Herrmanns Oper Der Mieter ist der Höhepunkt der aktuellen Spielzeit an der Oper Frankfurt. Zumindest nach ihrem Intendanten Bernd Loebe, wie er im 3sat kulturzeit-Interview verlautbarte. Und er hat recht damit! Zwar gibt es unter seiner Ägide regelmäßig zeitgenössische Werke an der Oper Frankfurt zu erleben, auch Uraufführungen, doch eine derartig berauschende und gelungene Symbiose von Libretto, Musik und Inszenierung gelingt nur sehr selten. Der Mieter an der Oper Frankfurt bietet ansprechende und spektakuläre musikalische Klangwelten, die überaus synchron mit der in den Bann ziehenden Handlung auf der Bühne verbunden sind. Traum und Realität sind in der surreal anmutenden Szenerie kaum zu unterscheiden. Es gibt zahlreiche kafkaesk wirkende Bilder und Momente. Die sich stets steigernde Spannung lässt fast schon auf den Schriftsteller Stephen King schließen. Doch das Libretto stammt vom österreichischen Dramatiker Händl Klaus (* 1969). Er griff dafür Motive des Romans Le Locataire chimérique (deutscher Titel nur Der Mieter) von Roland Topor aus dem Jahre 1964 zurück (der 1976 von und mit Roman Polański verfilmt wurde). Der Begriff Schimäre, für Trugbild, Hirngespinst oder leere Wahnvorstellung, weist schon von vornherein darauf hin, dass es sich hierbei um einen ganz besonderen Mieter handeln muss und dass es nicht um tagespolitische Themen der Wohnungspolitik geht.
Die Handlung ist schnell erzählt. Ein Mieter bezieht in einem größeren Mietshaus eine neue Wohnung, deren Vorbesitzerin mit einem Sprung durch ein Fenster Suizid verübt hat. Von den Nachbarn gemobbt, nimmt der Mieter immer mehr die Figur der Vormieterin an, mit fatalen Folgen… Als zusätzliches Serviceangebot der Oper Frankfurt werden bei diesem Stück die Übertitel auch in englischer Sprache angezeigt.
Die Oper entstand als Auftragswerk der Oper Frankfurt. Für die Musik wurde Arnulf Herrmann verpflichtet. Dessen Werk Wasser, ein „Musiktheater in 13 Bildern“, wurde vor fünf Jahren bei der Münchener Biennale uraufgeführt und war, da es als Koproduktion mit der Oper Frankfurt entstand, auch an der Oper Frankfurt (im Frankfurt LAB) zu sehen. Herrmann hat für Der Mieter sein musikalisches Spektrum deutlich erweitert (zudem ist Der Mieter mit zwei Stunden Spieldauer doppelt so lang wie Wasser). Schon beim Entstehungsprozeß gab es eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Komponisten, dem Librettisten und dem Regieteam (Regisseur Johannes Erath und Bühnenbildner Kaspar Glarner). Diese endete in einem fulminanten Ergebnis, bei dem Musik, Gesang und die Handlung perfekt ineinander greifen (Licht; Joachim Klein; Video: Bibi Abel; Sounddesign: Josh Jürgen Martin). Es ist ein multimediales Ereignis, bei dem Videoprojektionen fast omnipräsent sind und bei dem zusätzliche Lautsprecher nicht nur im Bühnenbereich, sondern auch im Zuschauerraum platziert sind (allerdings keine Musiker, wie 2015 bei Lachemanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern). Dabei ist alles präzise aufeinander abgestimmt. Die Außen- und Innenwelt wird teilweise parallel gezeigt, wodurch der zunehmende Identitätsverlust des Mieters verdeutlich wird (z. B. wenn der Mieter überdimensional vergrößert klaustrophobisch eng in einer Kiste kauert, gleichzeitig aber von der Hausgemeinschaft argwöhnisch betrachtet wird). Die verstärkten Geräusche sind mitunter befremdlich, so dass man sich zwischendurch fragen kann: Hat da etwa der Sitznachbar gekruschpelt oder gehört das jetzt zum Stück? Zwar wurde diese Uraufführungs-Produktion vom Südwestrundfunk (SWR2) in Koproduktion mit dem Hessischen Rundfunk (hr2), dem Westdeutschen Rundfunk (WDR3) und Deutschlandfunk Kultur (DLF Kultur) aufgezeichnet (wobei alle Sendetermine noch nicht feststehen), doch kann eine gesendete Aufzeichnung keinesfalls einen Liveeindruck ersetzen.
Arnulf Herrmanns Musik ist modern und vielschichtig. Es dröhnt und wummert wie in einem Science-Fiction-Film. Ein besonderes Augenmerk liegt auf Geräuschen, die im Gegensatz zu Buch oder Film, in der Oper ein integraler Bestandteil sind. Abgestimmt mit der Handlung, wird so beispielsweise das Tropfen eines Wasserhahns oder das Klopfen von Nachbarn zu einem akustischen Ereignis. In der Partitur finden sich Anmerkungen des Komponisten zu den vier besonderen Klangmaterialien, die im Verlauf der Oper immer wieder zum Einsatz kommen.
So werden die Klopfgeräusche der Nachbarn teilweise liveelektronisch auf der Bühne über Funksensoren ausgelöst. Später wandeln sich die variantenreichen Klopfgeräusche in instrumentale Perkussionsklänge. Metallisches Hämmern, als Variante bzw. Steigerung des Klopfens, steht für das Hämmern der Arbeiter bei der Reparatur des zerborstenden Glasdachs. Das Knirschen zerbrechenden Glases erfolgt in Zeitlupe, mit einer ca. einminütigen Sequenz von in Zeitlupe zerbrechenden Glases. Dazu gibt es verschiedene Zuspielungen von weißem Rauschen und Radiosequenzen.
Spielte bei Wasser das Ensemble Modern, so sorgt bei Der Mieter das Frankfurter Opern- und Museumsorchester in großer Besetzung für die ungewohnten Hörerlebnisse (unter der musikalischen Leitung des japanischen Dirigenten Kazushi Ono).
Auf der Bühne passiert viel, nicht nur durch die in Bann ziehende Videoprojektionen (wie das animierte Meer von Augen). Nach einer eingespielten Wohnungsbesichtigung stellt sich die illustre Hausgemeinschaft gut gelaunt im Treppenhaus vor. Auf einer Drehbühne zieht sie etagenweise aufgestellt, vorüber. Manche von Ihnen tragen Kleidung in knalligen Farben. Ein großer Stilmix weist auf eine an sich aufgeschlossene, tolerante Gesellschaft von Individualisten hin (Kostüme: Katharina Tasch). Erste Zweifel kommen dem Mieter in der Kaffeehausszene, wo ihm der übermütig schwankende Kellner (wieder sehr präsent: Sebastian Geyer) eine heiße Schokolade statt des gewünschten Kaffees vorsetzt. Seine Wohnung ist letztlich nur ein beleuchteter Zimmerboden, der allerdings wie ein Kunstobjekt zur Geltung kommt. Am Ende verliert der Mieter tatsächlich den Boden unter den Füßen.
Für die überaus anspruchsvolle Titelrolle wurde kein Gast verpflichtet, sondern der junge Bariton Björn Bürger, der zur Saison 2013/14 direkt nach seinem Studium an der HfMDK Frankfurt in das Ensemble aufgenommen wurde. Darstellerisch und sängerisch ist er stark gefordert, was ihm aber zu keiner Zeit anzumerken ist. Die große Bandbreite an Tönen und unterschiedlichen Tonfarben meistert er so souverän, wie er auch den im Wahn endenden Mieter Georg authentisch verkörpert.
Ihr Debüt an der Oper Frankfurt gibt bei dieser Produktion die Sopranistin Anja Petersen in der Rolle der Vormieterin Johanna. Sie ist mit ihrer Partie, die intensiv Zartes wie Schwebendes vermittelt (sie ist ja eine Tote), schon länger vertraut, sang sie doch deren im Stück verteilten „Drei Gesänge am offenen Fenster“ bereits 2014 in München (wo sie kurzfristig für eine erkrankte Kollegin eingesprungen war). Wie selbstverständlich sind auch die weiteren Rollen glänzend besetzt. Mit Mezzosopranistin Claudia Mahnke als Nachbarin Frau Greiner, gegen die Unterschriften gesammelt werden, Alfred Reiter mit beeindruckend fundierter Baßstimme als vehementer Hausbesitzer Herr Zenk, Hanna Schwarz als Hauswirtin Frau Bach, Judita Nagyová als Nachbarin Frau Dorn, Michael Porter und Theo Lebow als das Freundesduo Körner und Krell, sowie Miki Stojanov (Mitglied des Philharmonia Chor Wien) als Nachbar Herr Kögel. Als Chor ist bei dieser Produktion, ob der intensiven Probenphase, der von Walter Zeh einstudierte Philharmonia Chor Wien zugegen, der sich klangstark und spielfreudig bestens präsentiert.
Am Ende lang anhaltender und intensiver Applaus.
Markus Gründig, November 17
Peter Grimes
Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 8. Oktober 17 (Premiere)
Die Bodenlosigkeit des Outcast
(Norbert Abels)
Peter Grimes ist zurück in Frankfurt, allerdings nicht in Form einer Wiederaufnahme. Die letzte Neuinszenierung dieser Oper gab es unter der Intendanz von Dr. Martin Steinhoff im Juni 2001 (unter der Musikalischen Leitung von Sian Edwards und in der Regie von David Mouchtar-Samorai, die Titelrolle gab John Treleaven). Unter Intendant Bernd Loebe wurden zwar schon fast alle Bühnenwerke Benjamin Brittens entweder im Opernhaus oder im Bockenheimer Depot gezeigt, bislang jedoch noch kein Peter Grimes. Für die Neuinszenierung kehrte der britische Regisseur Keith Warner zurück, der hier u. a. auch schon Brittens letzte Oper, Death in Venice inszeniert hat.
Peter Grimes ist Brittens erste Oper (der die Operette Paul Bunyan voranging; sie wurde vor einem Jahr im Bockenheimer Depot gespielt.) und entstand in den Jahren 1942 bis 1944. Uraufgeführt wurde sie im zerbombten London am 7. Juni 1945. Das von Benjamin Britten und dem Dramatiker Montagu Slater entwickelte Libretto basiert auf George Crabbes Verserzählung The Borough. Der englische Dichter Crabbe (1754-1832) stammte aus der gleichen, nordöstlich von London, an der englischen Ostküste, gelegenen Grafschaft Suffolk. Crabbes Erzählung handelt von einem rauen Dorfwüstling, der Lehrbuben ermordet hat und von der Meute in den Tod getrieben wird. Bei Britten und Slaters ist die Figur des Peter Grimes nicht nur wesentlich differenzierter angelegt, bei ihnen ist die Schuld am Tod der Lehrbuben nicht erwiesen, das ist der wesentliche Unterschied. Peter Grimes ist anders als die anderen Dorfbewohner und schon das allein macht ihn schon verdächtig. Chefdramaturg Prof. Dr. Norbert Abels veröffentlichte diesen Sommer eine wunderbare Biografie über Benjamin Britten (beim renommierten Musikverlag Boosey & Hawkes). Das Kapitel über die Oper Peter Grimes betitelte er mit „Die Bodenlosigkeit des Outcast“ und trifft damit den Kern der Figur. Der Fischer Peter Grimes, der das Verbrechen (englisch „crime“) gewissermaßen schon im Namen trägt (und im 3. Akt voller Verzweiflung aus sich herausschreit), ist ein Außenseiter, ein Ausgestoßener, der zudem noch innerlich zerrissen ist und den Verdrängtes plagt. Er findet nirgends Halt, weder bei Leuten aus seinem Dorf, selbst nicht bei der ihn liebenden Ellen, noch in der Kirche oder in der Natur. Die Wucht des gegen ihn aufgebrachten Misstrauens, die einer Hexenjagd gleicht, ist er schutzlos ausgeliefert. Um der angefeuerten Wut des Mobs zu entgehen, geht er freiwillig in den Tod.
Gibt es auch zahlreiche Bezüge zur Gegenwart, Keith Warner verortet das Stück ganz klassisch an der englischen Ostküste im 19. Jahrhundert. Die Dorfbewohner, deren Lebensunterhalt vom Meer abhängt, tragen dunkle Kleidung, die Damen fast alle schwarz (mitsamt Kopfbedeckung). Etwas Farbe enthalten lediglich die armfreien Kleider der Animierdamen (aufreizend: Sydney Mancasola und Angela Vallone) in Aunties (der Wahrheit ins Gesicht sehend: Jane Henschel) Gasthaus „Zum Eber“ (Kostüme: Jon Morrell).
Die Rauheit der See und die bedrückende Atmosphäre im Küstendorf spiegeln sich auch im schlichten und dennoch großartig wirkenden Bühnenbild von Ashley Martin-Davis wider. Stimmungsvolle abstrakte Landschaften auf Vorhängen im Hintergrund (die bei Bedarf einfach herunterfallen), ansonsten eine wenig ausgeleuchtete (Licht: Olaf Winter) weite Landschaft und als Fixpunkt ein Konstrukt, das hauptsächlich als Mole interpretiert werden kann, als langer Steg vom Festland ins Meer. Hier ist es zunächst eine zum Publikum hin ansteigende Fläche mit Handläufen oben. Später klappt dieses mobile Konstrukt auf und schafft somit einen Raum für die Wirtshausszene. Es steht auch für die geordnete Welt der Dorfgemeinschaft, die Peter Grimes verschlossen ist und die er mit aller Kraft zur Seite zu schieben versucht. Im vorderen Teil ist der Himmel mit Platten bedeckt, aus der sich eine wie eine Tür öffnet. Ein für Peter Grimes unerreichbarer Fluchtpunkt. Für die entscheidende Szene an den Klippen fährt ein großer Stapel Europaletten aus dem Boden hoch, dieser symbolisiert gleichzeitig die Hütte von Peter Grimes. Sein eigentliches Zuhause ist aber ein einfacher Kahn, der die ganze Zeit über präsent ist.
In der Titelrolle sorgt Ensemblemitglied Vincent Wolfsteiner für Furore. Der Tenor gibt hier, wie viele andere auch, sein Rollendebüt. Die ohnehin anspruchsvolle Partie füllt er mit seinem lyrischen Timbre und mit einer unter die Haut gehenden Ausdrucksstärke: als sensibler, introvertierter Zweifler, wie als unbeherrschter Kraftstrotz.
Die Witwe und Lehrerin Ellen Orford gibt Sopranistin Sara Jakubiak sehr zart und einfühlsam, bezaubert nicht nur in der „Embroidery“-Arie, bei der sie über den zu Tode gekommenen Jungen sinniert. Bariton Iurii Samoilov bringt sich klangstark als stets gut aufgelegter Apotheker und Quacksalber Ned Keene ein. Neben den weiteren Sängern, James Rutherford als gegenüber Peter Grimes nicht feindlich eingestellter Captain Balstrode, AJ Glueckert als vehementer und trinkfreudiger Methodistenprediger Bob Boles in einer Art Fellmorgenmantel, Clive Bayley als Friedensrichter und Freudenhausbesucher Swallow, Hedwig Fassbaender als opiumsüchtige Sittenwächterin Mrs. „Nabob“ Sedley, Peter Marsh als energischer Reverend Horace Adams, Barnaby Rea als Polizist Hobson und Theodor Landes als Lehrjunge, ist auch der vom Schauspiel Frankfurt bestens bekannte Michael Benthin in der stummen Rolle des Dr. Crabbe zu erleben.
Ein besonderes Erlebnis ist die bestens dargebotene Musik Brittens. Seien es orkanartige Sturmwolken oder der Klang der Brandung, musikalisch sorgt Generalmusikdirektor Sebastian Weigle am Pult des Frankfurter Opern- und Museumorchesters für überaus differenzierte Klangwelten zur akustischen Darstellung der Naturgewalten: Energie pur. Expressive Ausbrüche, schwelgerische Melodik und zart unterlegte Töne zu den Arioso-Gesängen, all dies wird vom Orchester äußerst subtil dargeboten. Ein Bonus für die Zuschauer sind die sechs orchestralen Interludes, die hier szenisch bebildert gegeben werden (und die Britten später eigens als „Four Sea Interludes“ veröffentlichte). Mit Titeln wie „Dämmerung“ oder „Sturm“ weisen sie auf den Charakter der Musik hin. Ob verteilt im weiten Bühnenraum oder frontal an der Rampe, der um den Extrachor verstärkte Chor der Oper Frankfurt als Bewohner der Ortschaft und Fischer rundet das erstklassige Gesamtpaket trefflich ab (Einstudierung: Tilman Michael) und behauptet sich als tragende Kraft inmitten der orchestralen Stürme.
Nachdem sich Peter Grimes final dem Meer zugewandt hat, der letzte Vorhang (Mondlichtstimmung) gefallen ist und Grimes effektvoll im Nebel verschwunden ist, kehrt die bigotte Dorfbevölkerung zurück, froh, ein scheinbares Problem weniger zu haben. Ein imposantes Schlussbild. Sehr starker und lang anhaltender Beifall für alle Beteiligten.
Markus Gründig, September 17
Rinaldo
Oper Frankfurt im Bockenheimer Depot
Besuchte Vorstellung: 22. September 17
Seit 2010 zeigen die Flying Steps die Tanzperformance Red Bull Flying Bach zur Musik aus Bachs Sammlung Das Wohltemperierte Klavier. Neben Contemporary Dance zeichnet sich das Programm in erster Linie mit atemberaubenden Breakdance Elementen aus. Die Show wurde weltweit bereits von über einer halben Million Menschen begeistert aufgenommen. Die Neuinszenierung von Georg Friedrich Händels Dramma per musica in drei Akten Rinaldo an der Oper Frankfurt in der Außenspielstätte Bockenheimer Depot knüpft zwar in keiner Weise an Red Bull Flying Bach an, dennoch ist sie ungewöhnlich bewegungsreich und tänzerisch angelegt. Regisseur Ted Huffman, der mit dieser Produktion sein Deutschlanddebüt gibt, und Choreograf Adam Weinert haben hier eine überaus dynamische Rinaldo-Version geschaffen. Neben sechs Sängern sind auch acht Tänzerinnen und Tänzer beteiligt (Sonoko Kamimura, Orla Mc Carthy, Evie Poaros, Natalia Rodina, Nicholas Bruder, Vivien Letarnec, James McGinn, Davon Rainey). Und die Grenzen verlaufen fließend, will heißen, auch die Sänger sind überdurchschnittlich körperlich eingebunden und gefordert.
Mit dem jungen polnischen Countertenor Jakub Józef Orlinski (laut BILD 26 Jahre) in der Titelrolle weist die Produktion einen ganz außerordentlichen Trumpf auf. Er ist nicht nur ein bereits mehrfach ausgezeichneter Sänger, sondern auch ein mehrfach prämierter Breakdancer. Zwar verzichtet er in der Oper auf typische Breakdance Powermoves, doch noch bevor er den ersten Ton erklingen lässt, liefert er sich erst einmal während der Ouvertüre mit einem nicht näher bezeichneten Feind einen Battle, der seine hervorragende körperliche Verfassung belegt. Und schon dieser Battle auf der großen leeren und schrägen Bühnenfläche hat es in sich. Sie wird fast schon poetisch erschlossen. Das sich Auflauern und die Angriffe erfolgen in zur Musik angepassten Tempi und werden durch Freeze Bewegungen ergänzt. Wie selbstverständlich schlägt Orlinski hierbei mehrfach Vorwärts- und Rückwärtssalti: Dass er anschließend noch eine überaus anspruchsvolle und umfangreiche Partie zu singen hat, scheint ihn nicht zu kümmern.
Die eigentlich in und um Jerusalem während der Belagerung im ersten Kreuzzug (um das Jahr 1100) spielende Handlung wurde von Ted Huffmann in eine unbestimmte Zeit ohne Kreuzritter verlegt. Die barfüssig auftretenden Darsteller tragen mehrheitlich ärmellose Westen und kurze Pumphosen (beide silberfarben glänzend und mit Verzierungen). Die gute Almirena ein weißes Kleid wie aus einer Plastikfolie und die böse Zauberin Armida ein schwarzes Paillettenkleid mit abnehmbarem Reifrock aus schwarzen Federn (wobei die Pailletten mit einer besonderen „Zaubereigenschaft“ aufwarten: Gedreht zeigen sie ihre weiße Rückseite und so kann aus Armida schnell Almirena werden, wonach dann auch die Materialart von Almirenas Kleid Sinn ergibt; Kostüme: Raphaela Rose).
Die von Bühnenbildnerin Annemarie Woods eingerichtete überdimensionale Spielfläche ist weitestgehend frei von Kulissen (abgesehen von portablen Bäumen für den Ort der Wonne, taucht nur im 3. Akt geheimnisvoll ein Schiffsbug auf), ist aber stets voller Leben. Zwar gibt es weder ein Stadttor, Meerufer, grauenvoller Berg mit Schloss und Wasserfällen, von Pferden gezogenen Wagen, noch feuerspeiende Drachen. Doch immerhin wie im Libretto von Giacomo Rossi angegeben, eine Meerjungfrau. Mit der szenisch überaus geglückten Einbindung der Tänzer und wenigen, aber effektiv wirkenden theatralen Mitteln (Nebel und farbiges Licht) entstehen fortlaufend überaus beeindruckende Optiken (Licht: Joachim Klein). Einige Symbole haben einen religiösen Bezug. So überlässt die reine Almirena einen roten Apfel der Versuchung einem zur dunklen Macht gehörenden Vogel,ein Hirsch kann als Symboltier Christi, der das Böse aufdeckt, verstanden werden.
Die drei Furien sind stumme Rollen, dennoch machen sie mit ihren Beinahe-Glatzen, weiß geschminkten Gesichtern und ihren überaus geschmeidigen, auf allen vieren kriechenden Bewegungen immensen Eindruck. Sie runden Adam Weinerts detailliert Choreografie zu jeder Phrase von Händels Musik bestens ab.
Das sich neben Almirena auch die böse Zauberin Armida in Rinaldo verliebt, ist erst recht kein Wunder, wenn man Countertenor Jakub Józef Orlinski in der Rolle des Rinaldo erlebt. Er singt, trotz seines intensiven körperlichen Einsatzes und seines ausdrucksstarken Spiels, mit elegantem Legato, samtiger Stimmfülle und mit vielen Klangfarben. Ein Höhepunkt ist nach dem Verlust der Geliebten die Arie „Cara sposa, amante cara“. Almirena gibt mit einnehmender Grazie die Sopranistin Karen Vuong. Sie ist, wie die weiteren Sänger, Ensemblemitglied der Oper Frankfurt. Sie bezaubert mit ihrer Suche nach Rinaldo („Augelletti, che cantate“), wie auch mit dem ihr Schicksal beklagenden „Lascia ch’io pianga“. Zusammen bilden Vuong und Orlinski ein bezauberndes Paar, dem man die Liebesglückmomente unter Baumwipfeln nur zu gerne gönnt. Einen imposanten Auftritt mit Höllenfeuer im Hintergrund hat die zürnende Armida der Sopranistin der Elizabeth Reiter. Die dritte Frau ist als solche gar nicht zu erkennen. Mezzosopranistin Julia Dawson ist als christlicher General Goffredo ein alter Greis, mit körperlangem Bart und kaputter Hüfte (der trotz Stöcken nicht aufrecht gehen kann und zum Sitzen gestützt werden muss). Goffredos fürsorglicher und Anteil nehmender Bruder Eustazio ist hier mit dem Bass Daniel Miroslaw besetzt. Bassbariton Brandon Cedel gibt im schwarzen Mantel einen finsteren Argante (König von Jerusalem und Liebhaber Armidas). Simone Di Felice, seit Beginn dieser Spielzeit Kapellmeister, leitet das auf zahlreichen historischen Instrumenten spielende Frankfurter Opern- und Museumsorchester, bei dem besonders die Continuo-Gruppe (Cembalo: Andreas Küppers, Laute: Toshinori Ozaki, Violoncello: Philipp Bosbach, Barockfagott: Barbara Meditz) auf sich aufmerksam macht.
Am Ende tosender, lautstarker Applaus, Getrampel und Standing Ovations. Wer bisher noch keine Karte für eine der verbleibenden Vorstellungen hat, kann nur auf eine Wiederaufnahme in den nächsten Jahren hoffen, denn alle Vorstellungen sind ausverkauft.
Markus Gründig, September 17
Schönerland
Staatstheater Wiesbaden
Besuchte Vorstellung: 16. Septemebr 17 (Uraufführung)
Bereits vor drei Jahren gab es erste Gespräche zwischen dem Intendanten Uwe Eric Laufenberg und dem deutsch-dänischen Komponisten Søren Nils Eichberg, im Sommer 2015 wurde an Eichberg dann vom Staatstheater Wiesbaden der Auftrag für eine Opernneukomposition vergeben. Auch wenn die Top 100 Opern die Basis eines jeden Opernbetriebs darstellen, muss die Kunstform Oper auch Neues bringen. Dies bekräftigte Laufenberg bei einem Pressegespräch im Weißen Salon des Staatstheater Wiesbaden unmittelbar vor der Uraufführung von Schönerland, unter Anwesenheit des Komponisten Eichberg, der Librettistin Therese Schmidt und der Regisseurin Johanna Wehner. Dabei ist ihm wichtig, dass das Publikum sich öffnet und die Scheu vor Neuem verliert. Unter den Top-5 ausgewählten Komponisten für die geplante Uraufführung, stand Søren Nils Eichberg an erster Stelle. Er war von 2010 bis 2015 der erste Hauskomponist in der Geschichte des Dänischen Rundfunk-Sinfonie-Orchesters. Im November 2014 wurde Eichbergs Kammeroper Glare („A taut operatic thriller“) an der Londoner Royal Opera Covent Garden uraufgeführt. Hilary Hahns Deutsche-Grammophon-Album „27 Encores“ mit seiner Komposition „Levitation“ wurde mit dem amerikanischen GRAMMY-Award ausgezeichnet. Schönerland ist eine zeitgenössische Oper. Aber, wie Eichberg ausführte, keine Newsopera. Das in ihr thematisierte Flüchtlingsthema ist universell und zeitlos, auch wenn es zwischen Auftragsvergabe und Uraufführung ständig die Tagesnachrichten beeinflusste.
Das jegliche Klischees vermeidende deutsche Libretto von Therese Schmidt entstand im engen Austausch mit Søren Nils Eichberg. Und auch noch im Probenprozess wurde es erweitert, als sich herausstellte, welch großartige Stimme die Besetzung die Figur der Stückeschreiberin, Sopranistin Britta Stallmeister (ehemaliges langjähriges Ensemblemitglied der Oper Frankfurt), hat. Für sie wurde die Partie extra erweitert und so zeigt sie eindrucksvoll die tiefe Betroffenheit der Menschen gegenüber derjenigen, die auf der Suche nach einer neuen Heimat und einem neuen Leben sind.
In zehn Bildern wird die Geschichte von Flüchtlingen erzählt. Doch nicht nur, und das macht dieses Werk besonders, ihre Schicksale, sondern auch wie deren Geschichte die Empfangenden verändert. Und dabei bleibt es nicht, der Theaterbetrieb selbst wird gleich mit einbezogen. So gibt es neben der bereits erwähnten Stückeschreiberin auch einen Komponisten (ambitioniert: Erik Biegel) und, was nicht alltäglich auf der Bühne ist, die Figur des Intendanten. Der hier vom etwas unterforderten Bariton Thomas de Vries verkörpert wird und der passend zum Haus, als Intendant natürlich einen Schal trägt. Und auch die Schlussworte der Oper, „Vielen Dank, wir melden uns“, spielen auf Sitten und Unsitten im Theaterbetrieb an.
Regisseurin Johanna Wehner bekam zwar erst nach einem Zerwürfnis mit dem ursprünglichen Regisseur das Angebot, diese Uraufführung szenisch zu gestalten. Im Nachhinein zeigten sich aber alle Beteiligten über diese Wahl außerordentlich glücklich. Schönerland ist für sie weniger ein Ort als ein Zustand von Frieden, Freiheit und Sicherheit. Und auf der Suche sind nicht nur diejenigen, die ihre Heimat verlassen haben, für Wehner ist jeder irgendwann ein Suchender.
Entsprechend losgelöst von einem konkreten Ort ist das Bühnenbild von Volker Hintermeier. Auf zwei Ebenen zeigt es unten die karge Welt der Menschen ohne Heimat und oben die Welt der Menschen mit Heimat (aus Container bestehend). Der Weg von unten nach oben (umgekehrt ist gar nicht vorgesehen) ist nicht für jeden zu schaffen, viele werden kurz vor dem Ziel zurückgewiesen oder schaffen es erst gar nicht bis dahin. Alte und gebrechliche Menschen haben schon gar keine Chance zu fliehen. Doch wer trifft die Wahl, wer darf mit ins rettende Boot? Dies ist eine der Fragen, die dieses Werk aufwirft und die Zuschauer auffordert, ihren Denkhorizont zu erweitern oder mit der ironisierenden Zurschaustellung folkloristischer Bräuche in farbenfrohen Kostümen (Kostüme: Miriam Draxl) die eigene Position zu überdenken.
Die eindringlichste Figur ist die der Saida (Die Glückliche), eine Frau, die auf der Flucht ihre Identität verloren hat. Verkörpert wird sie emotionsstark von der griechischen Sopranistin Eleni Calenos, die hierbei ihr Deutschlanddebüt gibt. Eindringlich ist auch der Vortrag von Bertolt Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ durch den anonymen Syrer (in einer reinen Sprechrolle sehr präsent: Feras Zarka). Den unerbittlich das Gute festhaltende Dariush gibt mit leichten Pathos Tenor Aaron Cawley. An dieser Ensembleoper sind viele weitere Sänger beteiligt, wie die Mezzosopranistin Romina Boscolo (Aliyah: die Erhabene, Frieden), Bassbariton Florian Küppers (Omid: die Hoffnung) oder Mezzosopranistin Andrea Baker (Kader: das Schicksal). Sie fügen sich mit den weiteren Sängern und dem Chor harmonisch ein. Der Chor hat hier einen großen Anteil und Chorleiter Albert Horne ist zugleich auch der musikalische Leiter bei Schönerland. Durch die intensive Vorbereitung mit den Sängern und dem Orchester ist er mit dem Werk außerordentlich gut vertraut und bringt nicht nur die Sänger, sondern auch die Musiker des Hessischen Staatsorchester Wiesbaden zur Hochform. Dabei ist die vielschichtige Musik Eichbergs zwar modern, aber ansprechend und mit viel rhythmischen Stimmungen. Am Ende sehr viel Applaus für alle Beteiligten.
Markus Gründig, September 17
Il trovatore
Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 14. September 17
Es ist eine Weile her, dass Il travatore in der Oper Frankfurt gespielt wurde. Die letzte Neuinszenierung feierte im Jahr 2000 Premiere, es inszenierte Antonio Calenda unter der musikalischen Leitung von Paolo Carignani. Jetzt, zum aktuellen Saisonstart, ist Il travatore in einer Neuinszenierung von David Bösch zu erleben, die in Koproduktion mit dem London Royal Opera House Covent Garden entstand (und dort im Dezember 2016 Premiere feierte). Schon allein, dass dieses weltweit herausragende Haus mit der Oper Frankfurt koproduziert, ehrt nicht nur die Frankfurter Oper, es ist vielmehr ein Beleg für das hohe künstlerische Niveau des Hauses am Willy-Brandt-Platz.
Verdis Il travatore (Der Troubadour) ist ein wahrer Klassiker, über Maßen beliebt wegen seiner schönen, sich aneinanderreihenden Melodien, mit so bekannten Hits wie „Di quella pira“ oder dem Zigeunerchor („Vedi! Le fosche notturne spoglie“). Gleichwohl ist dies auch eine Krux für eine szenische Umsetzung. Denn primär ging es Verdi beim Troubadour darum, mit leidenschaftlichen Gefühlsentladungen ein Höchstmaß an szenischer Wirkung zu erzielen und nur sekundär um eine klare Logik bei der Handlungsführung. Die klassische Dreiecksgeschichte, zwei Männer (die, wie sich zum Schluss herausstellt, auch noch Brüder sind) begehren die gleiche Frau, ist ein Konflikt, wie er in vielen Opern Verdis vorkommt. Aber insbesonders bei Il Travatore gibt es kaum szenische Handlungen im Sinne einer die Geschehnisse vorantreibenden Erzählung, kaum Charaktere, die sich entwickeln.
Insoweit hat David Bösch, der an der Oper Frankfurt schon erfolgreich Antonio Vivaldis Orlando furioso, Engelbert Humperdincks Königskinder und zuletzt Richard Wagners Der fliegende Holländer inszenierte, eine schöne, poetisch gezeichnete Umsetzung gefunden (die auch nicht das Publikum verstört, sondern begeistert).
Im Programmheft spricht David Bösch im Interview mit der für die dramaturgische Betreuung zuständigen Deborah Einspieler von einem Land von Feuer und Eis, in der er die Handlung angesiedelt hat. Das Bühnenbild von Patrick Bannwart fügt sich zu seinen vorherigen Arbeiten hier (Königskinder und Der fliegende Holländer) gut ein. Alle Szenen spielen in der Nacht, es ist stets dunkel und es herrscht eine winterliche Atmosphäre. Kahle Bäume zieren große Eisblumen, es schneit und nicht nur die Soldaten tragen wärmende Mäntel. Hinzu kommt kontrastierend Feuer als Element des Lebens und des Hoffens stark zur Geltung. Sei es als kleines Lagerfeuer oder als imposant auffahrender Scheiterhaufen oder, wie zum grandiosen Finale, als überdimensionales flammendes Herz. Und ist die Musik auch verführerisch süß, das Land des Grafen Luna ist durch einen auffahrenden Panzer, ausgelegten Stacheldraht und Holzkreuzen für Verstorbene, kriegerisch verortet. Graf Luna übt, ganz zeitgemäß, einen Personenkult auf seine Anhänger aus, denn Panzer und Helme tragen seinen Namen. Doch Bösch belässt es nicht bei der äußeren Kälte: Projektionen im Hintergrund zeichnen Bilder vom Gefühlsleben der Protagonisten. Richtig bunt wird es einzig in der Welt der Zigeuner, die mit wenig materiellen Werten scheinbar die wesentlich glücklicheren Menschen sind. Bizarr ist die Schar der Nonnen, deren Trachten wie eine Kreuzung zwischen Hochzeitskleidern (Bräute Jesu) und Todeskitteln scheinen (Kostüme: Meentje Nielsen).
Zu einem unbedingten Muss für einen Vorstellungsbesuch sorgen die Sänger dieser Premierenserie. Eine starke Sängerleistung zieht sich durch die gesamte Aufführung. Ensemblemitglied Kihwan Sim nimmt gleich im ersten Akt als abgründiger Ferrando mit seinem kultivierten Bass stark für sich ein. Der US-amerikanische Bariton Brian Mulligan gibt mit geschmeidiger Stimme einen kämpferischen Conte di Luna. Der sardische Tenor Piero Pretti ist mit dieser Produktion zum ersten Mal Gast an der Oper Frankfurt. Er schafft es, aus der Figur des Manrico einen überzeugenden Charakter zu machen und er hat eine schöne wie auch kräftige Stimme. Ensemblemitglied Tanja Ariane Baumgartner konnte krankheitsbedingt in den ersten Aufführungen nicht die Azucena geben. Für sie konnte die Oper Frankfurt kurzfristig die US-amerikanische Mezzosopranistin Marianne Cornetti, die hier erstmals und hoffentlich nicht zum letzten Mal, zu hören war. Sie gilt als eine der führenden Mezzosopranistinnen im Verdi-Repertoire und bewies dies auch dem Frankfurter Publikum. Am eindrucksvollsten ist allerdings Elza van den Heever als Leonora, eine Partie, die derzeit auch Anna Netrebko an der Wiener Staatsoper gibt. Elza van den Heever ist vielen Frankfurtern noch als Ensemblemitglied in guter Erinnerung. So frei und leichtfüßig, wie sie sich auf der Bühne als Leonora bewegt, so befreit singt sie auch die schwere Partie, zeigt dabei eine wunderbar leuchtende Höhe und Stimmstärke in allen Lagen. Hinzu kommt eine immense darstellerische Ausdruckskraft, insbesonders im vierten Akt. Alison King ist Mitglied im Opernstudio, doch schon in der vergangenen Spielzeit konnte sie auf sich aufmerksam machen, beispielsweise als Erste Dame (Die Zauberflöte) oder Musetta (La Bohème). Hier gibt sie souverän Leonoras Zofe Ines.
Der von Tilman Michael einstudierte Chor der Oper Frankfurt gefällt ganz besonders durch sein gelöstes Spiel als Zigeunervolk im 2. Akt. Am Pult des Frankfurter Opern- und Museumsorchester steht bei dieser Aufführungsserie der italienische Dirigent Jader Bignamini, der hier bei der konzertanten Aufführung von Verdis Oberto im Februar 2016 sein Deutschlanddebüt gegeben hat (und im November an der New Yorker Metropolitan Opera mit Madame Butterfly debütieren wird). Er agiert mit schönem Gespür für starke Momente und sehr sängerfreundlich. Nach reichlich Zwischenapplaus auch am Ende starker Beifall und großer Jubel.
Markus Gründig, September 17
Saul
Staatstheater Mainz
Besuchte Vorstellung: 27. August 17 (Premiere)
Die im US-amerikanischen Hartford (Conneticut) geborene Lydia Steier zählt zu den angesagtesten jüngeren Opernregisseurinnen. Am Staatstheater Mainz inszenierte sie zuletzt effektvoll Christoph Willibald Glucks Armide. Zuvor, im Januar 2015, die Deutsche Erstaufführung von Pascal Dusapin Perelà – Uomo di fumo, die bundesweit viel Beachtung erfuhr und für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST in der Kategorie „Beste Musiktheaterinszenierung des Jahres“ nominiert wurde. Letzteres gelang ihr auch mit der Inszenierung von Georg Friedrich Händels Oratorium Saul, die sie 2013 für das Oldenburgische Staatstheater erarbeitete. Nach weiteren Aufführungen in Heilbronn und Regensburg ist diese Inszenierung nun auch in Mainz zu sehen und dies zu recht.
Dabei hat dieses Oratorium eine besondere Bedeutung für die Stadt und sein Theater. In 2001, nur drei Tage nach den schrecklichen Anschlägen von 9/11, wurde damit der Mollerbau des Staatstheater Mainz wiedereröffnet (unter der musikalischen Leitung von Catherine Rückwardt, in einer Inszenierung von Georges Delnon und mit Simone Kermes als Merab).
Mit Delnons Inszenierung im schlichten Bühnenbild von Roland Aeschlimann hat Steiers Saul wenig gemein. Um Sauls Untergang zu zeigen, setzt Steier auf überzogene, grelle optische Effekte. Bühnenbildnerin Katharina Schlipf hat ihr einen prunkvollen Saal geschaffen, der barockes Leben pur imitiert und in dessen Hintergrund hoch oben, dem Sonnenkönig Ludwig XIV gleich, König Saul thront. Dieses Bild hat aber mit den neben dem König sitzenden seltsamen Figuren nicht nur von Beginn an Risse, es wird im Laufe der Handlung auch zunehmend dekonstruiert.
Von Äußerlichkeiten darf sich niemand beeinflussen lassen, weder die Figuren in dem Oratorium, noch die Zuschauer, zu denen Steier eine gedankliche Brücke schlägt. Die Welt ist in einem ständigen Wandel, Könige kommen, Könige gehen. Umso wichtiger ist es, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren, das gelingt nicht allen. Schon gar nicht den Figuren in Händels Saul, dessen Libretto von Charles Jennens im Wesentlichen auf der alttestamentarischen Erzählungen aus dem Buch 1. Samuel beruht. Weil König Saul nicht Gottes Rat folgt, eigensinnig und ungehorsam ist, wendet dieser seine Gunst von ihm ab. David, der erfolgreich Goliath geschlagen hat, steigt an seiner statt zum König auf und Saul geht mitsamt seiner Familie zugrunde. Für all das hat Steier drastische Bilder gefunden, die mit den barocken Kostümen von Ursula Kudrna zunächst eine dicke Puderschicht hervorzaubern. Die Dekonstruktion des schönen Scheins beginnt schon während der Ouvertüre. Die Jugend will ihren eigenen Weg gehen und hinterfragt das scheinheilige Getue der Erwachsenen. Neben dem hoch oben thronenden Saul erscheint auch seine Frau mit einem Kind. Beide sind ihrer gesellschaftlichen Position gemäß elegant gekleidet. Dann springt der Junge aus den Armen seiner Mutter, wirft sich seine prachtvolle Robe ab, sodass er schließlich nur in Shorts und T-Shirt dasteht, um sogleich seiner Mutter die Kleider vom Leib zu reißen…
Im ersten Akt ist es dann der hoch auf einem Rappen und in Rüstung unter dem Jubel des Volkes einziehende David, dem Äußerlichkeiten nicht wichtig sind und der nur zu gern auf Helm und Rüstung verzichtet und dessen zurückhaltende Art dem Volk zum Vorbild wird.
Mit drei zusätzlichen Neid-Figuren (lustvoll verführerisch und dämonisch: David Krohn, Lászlo Nágy, Léonard Schindler) hat Steier der Erstgeburt der Hölle, dem Neid, Gesichter gegeben. Wie die Neid-Zwitterwesen von ihren Opfern Besitz ergreifen und immer tiefer in ihre Seele vordringen, das wird hier hervorragend bildlich sichtbar.
Heldenbariton Derrick Ballard gibt den Saul erhaben und ausdrucksstark (er hat ihn bereits in Oldenburg gegeben, ist also bestens mit der Rolle vertraut). Wobei nicht nur Saul, sondern auch sein Sohn Jonathan vom Neid zerfressen wird (wenn David und Michal im Separee verschwinden). Drastisch ist Jonathans Ende. Erst wird er vom Pöbel übelst erniedrigt, geschlagen und getreten (wofür bei der Premiere ein Buhruf im Zuschauerraum zu vernehmen war) und dann vom eigenen Vater getötet. Der Tenor Steven Ebel verkörpert den auf den ersten Blick zart besaitet wirkenden Jonathan, der für David weit mehr als nur Begeisterung empfindet, mit großer Standfestigkeit und Emphase, auch wenn er am Ende mit seinen getöteten Geschwistern auf einem Leichenberg, unter einer Europalette aufgetürmt, mit einem Handhubwagen davongefahren wird. Marie-Christine Haase gibt eine treffliche Prinzessin Merab, die vehement ihren Rang verteidigt und auch mit ihren Koloraturen stark für sich einnehmen kann. Mit jugendlicher Frische (Blumenkranz im Haar) und mit lyrischem Sopran trumpft die Michal der Dorin Rahardja auf. Ein Highlight der Aufführung ist mit edlem Stimmmaterial Altus Alin Deleanu als David. Mit großer Innigkeit und Präsenz führt er Händels Melodienreichtum vor. Gleichwohl zeichnet Steier David nicht als unanfechtbaren Heiligen (Michals Liebe erwidert er mit einem Missbrauch). Einen kurzen imposanten Auftritt als gut genährte Hexe von Endor, an deren Brust sich die Neid-Figuren laben, hat Tenor Alexander Spemann, sowie Bass Georg Lickleder als aus dem Totenreich herbeigerufener Samuel.
Bei einem Oratorium und ganz besonders bei Saul, hat der Chor einen herausragenden und großen Anteil. Hier ertönt der von Sebastian Hernandez-Lavernyer einstudierte Chor des Staatstheater Mainz (vom Extrachor verstärkt) zu Beginn und als Letztes und bringt sich auch zwischendurch klangstark und sehr spielfreudig ein (wobei er oftmals frontal zum Publikum positioniert ist, was der Akustik freilich sehr entgegenkommt). Mit viel Enthusiasmus führt der Alte Musik Spezialist Andreas Spering das Philharmonische Staatsorchester Mainz.
Und auch das Schlussbild ist bezeichnend. Während der Chor „Halleluja“ singt und Gott preist, haben die Neid-Figuren bereits ihr nächstes Opfer gefunden: David.
Langer und kräftiger Applaus, auch uneingeschränkt für das Regieteam.
Markus Gründig, September 17
Die Entführung aus dem Serail
Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 27. August 17 (Wiederaufnahme-Premiere, 53. Aufführung)
Noch bevor Verdis Il trovatore (eine Koproduktion mit dem Royal Opera House Covent Garden London) die neue Spielzeit offiziell eröffnet, begann jetzt der Spielbetrieb an der Oper Frankfurt mit der Wiederaufnahme von Wolfgang Amadeus Mozarts Singspiel Die Entführung aus dem Serail. Das ist ein Klassiker im Opernrepertoire, der auch in Frankfurt regelmäßig gespielt wird. Seit 2003 in der Erfolgsinszenierung von Christof Loy, die in Koproduktion mit dem Opernhaus Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel entstand und die auch auf DVD erhältlich ist (mit Diana Damrau als Constanze). Dabei beschränkt sich das Bühnenbild und die Kostüme von Herbert Murauer auf das Nötigste, spielt nur sehr lose mit Bezügen zum Osmanischen Reich.
Den hohen Stellenwert von Mozarts Die Entführung aus dem Serail wird auch dadurch deutlich, dass diese Wiederaufnahmeserie vom Frankfurter Generalmusikdirektor Sebastian Weigle höchst persönlich geleitet wird (alternierend mit Kapellmeister Nikolai Petersen). Zum Ende der Spielzeit 2016/2017 war Weigle von der New Yorker Metropolitan Opera zum Dirigat für Aufführungen von Beethovens Fidelio und Strauss´ Der Rosenkavalier eingeladen worden. Mit diesem künstlerischen Erfolg im Nacken und mit der zurückliegenden Sommerpause führte er frisch gestärkt das Frankfurter Opern- und Museumsorchester zu einem spritzigen, lebhaften und die starken Emotionen der Figuren untermauerten Spiel an.
Viele Neubesetzungen gibt es bei dieser Aufführungsserie. Einzig der Schauspieler Christoph Quest ist von der Premierenserie 2003/2004 noch dabei. Die Sprechrolle des Bassa Selim ist ihm sehr vertraut, dennoch vermeidet er Routine und gibt ihn mit großer Würde. Für sein finales Urteil über die Gefangenen, sein Appell an die Humanität der Menschen, gab es bei der besuchten Wiederaufnahmepremiere einen Zwischenapplaus (den es, an anderen Stellen, auch für die Sänger gab).
Drei der fünf Sänger geben bei dieser Produktion ihr Hausdebüt. Die junge Gast-Sopranistin Irina Simmes, Ensemblemitglied des Theater Heidelberg, überzeugt mit ihren höhensicheren Koloraturen und zeichnet das Portrait einer eleganten, sehr gefassten, konzentriert wirkenden Konstanze (schön innig bei „Martern aller Arten“). Stark für sich einnehmen kann mit lyrischer Emphase der Tenor Thomas Blondelle, Ensemblemitglied der Deutschen Oper Berlin, als ihr Geliebter, der Edelmann Belmonte (wie bei der Arie „Ich baue ganz auf deine Stärke“). Dies trifft noch mehr auf die famose Zofe Bonde der Gloria Rehm, Ensemblemitglied des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, zu, die diese Rolle mit großer Hingabe und Leichtigkeit spielt und singt (hervorragend ihre Arie zur Ablehnung von Osmins „Durch Zärtlichkeit und Schmeicheln“).
Beim jungen Ensemblemitglied Michael Porter fällt nicht nur positiv auf, wie gut und deutlich der gebürtige US-Amerikaner inzwischen Deutsch spricht. Bei seinem Rollendebüt als Belmonts Bedienter Pedrillo gibt er sich souverän und mit hoher darstellerischer Präsenz (Arie „Frisch zum Kampfe, frisch zum Streite“). Die stärksten Sympathien, gemessen am Schlussapplaus, fallen dem Bass Andreas Bauer für seine Verkörperung des Aufsehers Osmin zu. Die Typveränderung durch abrasierte Kopfhaare und Dreitagebart, lassen ihn nicht nur kaum wiedererkennen, scheinbar hat sie auch enorm auf sein Auftreten und seine Stimme Einfluss genommen (vollends überzeugend die Arie „Solche hergelaufne Laffen“). Er gibt einen kernigeren und doch liebenswerten Osmin, den man sich besser kaum vorstellen kann. Großartig auch die Szene zu Beginn des 2. Aufzugs zwischen Osmin und Bonde, wo es für jeden spürbar zwischen ihnen knistert (Duett „Ich gehe, doch rate ich dir“). Und gar köstlich die Wein-Szene mit Osmin und Pedrillo (Duett: „Vivat Bacchus! Bacchus lebe!“).
Im Laufe der Aufführungsserie werden die Singrollen alternierend besetzt. Der von Tilman Michael einstudierte Chor ist bei seinen beiden kurzen Auftritten sehr präsent.
Am Ende der kurzweiligen dreieinhalbstündigen Aufführung viel und starker Applaus.
Markus Gründig, August 17
Carmen
Bregenzer Festspiele
Besuchte Vorstellung: 19. Juli 17 (Premiere)
„Die Liebe ist ein Zigeunerkind,
hat niemals Gesetzte gekannt;
wenn du mich nicht liebst,
liebe ich dich,
wenn ich dich liebe,
nimm dich in Acht!…“
aus Bizets Carmen
Georges Bizet Carmen zählt zu den populärsten Opern weltweit. Kein Wunder, dass sie nun bereits zum dritten Mal bei den Bregenzer Festspielen gespielt wird. Neben der populären Musik von Georges Bizet (wie Carmens „Sequidilla“ und „Habanera“, Don Josés „La fleur que tu m’avais jetée“ und Escamillos „Votre toast, je peux vous le rendre“) übt die Titelfigur eine ungeheure Faszination aus. Carmen ist viel mehr als eine klassische Femme fatal: eine vielschichtige, selbstbewusste Frau, die noch immer die Massen begeistert.
Schon vor der Premiere konnten die Bregenzer Festspiele vermerken, dass alle Carmen-Vorstellungen in 2017 ausverkauft sind. Von dem Stück profitieren nicht nur die Bregenzer Festspiele, die Stadt Bregenz und ihre Geschäftswelt (die das Carmen-Thema mit zahlreichen Schaufensterdekorationen vielfältig aufgegriffen hat), sondern auch die Tourismusregion Vorarlberg und der gesamte Bodenseekreis. „Die Bregenzer Festspiele sind ein Fixstern am österreichischen Kulturfirmament. Jahr für Jahr ist dieses musikalische Großereignis ein Anziehungspunkt für Musikbegeisterte aus aller Welt“, sagte der österreichische Kunst- und Kulturminister Thomas Drozda bei der Eröffnungsveranstaltung der Bregenzer Festspiele 2017.
Schon im Vorfeld sorgte das spektakuläre Bühnenbild mit seinen in die Luft geworfenen Spielkarten und zwei großen Händen für Aufsehen. Dafür verantwortlich zeichnet die britische Szenografin Es Devlin. Sie entwirft nicht nur weltweit Bühnenbilder für die bedeutendsten Theater- und Opernhäuser, sondern auch für Künstler wie Kanye West, Lady Gaga, Beyoncé, Rolling Stones, Adele und viele mehr. Bei den Olympischen Spielen 2012 in London gestaltete sie die Abschlussfeier. Für die Bregenzer Carmen ist ihr Hauptthema ein Kartenspiel, wie es im 3. Akt vorkommt, erweitert auf ein Spiel um Liebe und Verrat. Verbildlicht wird es hier durch 59 Spielkarten, die sowohl in die Luft geworfen so etwas wie eine Rückwand („Flying Cards“, mit jeweils einer Fläche von rund 30m²) bilden, wie auch der Boden aus zahlreichen übereinander geworfenen Spielkarten („Beach Cards“ und den versenkbaren „Mesh-Cards“) besteht. Zunächst wirken sie mit ihren orientalisch anmutenden Mustern schlicht. Zumal sie absichtlich mit Farbe und Rissen auf gebraucht getrimmt wurden. Im Laufe des Spiels werden sie zunehmend zu Projektionsflächen, auf denen Videos gespielt werden. Sechs überaus leistungsstarke Beamer sorgen vom Festspielhaus für außerordentlich beeindruckende Optiken, denn die Karten scheinen sich wie von selbst zu drehen oder zeigen, akkurat berechnet, live Porträts der Protagonisten oder Handlungsorte (Video: Luke Halls). Es ist das erste Mal, das bei den Bregenzer Festspielen Projektionen im großen Stil und über die gesamte Dauer der Vorstellung zum Einsatz kommen. Wobei sich niemand vor einer Videoflut fürchten muss, sie sind sehr dezent in den Handlungsablauf eingebunden. Umsäumt sind die Karten von zwei 18 bzw. 21 Meter hohen Frauenhänden (die rund 30 Meter entfernt stehen und den Originalhänden von Es Devlin nachempfunden sind). Auch sie sind nicht auf „perfekt“ gestylt, zeigen mit abgesplittertem Nagellack und Schmutz ganz bewusst, dass Carmen eine Frau der Arbeiterschicht ist. Die Größe der Bühne und der Spielkarten wird ganz besonders im dritten Akt deutlich, wenn sechs Stuntman (Wired Aerial Theatre, Stuntchoreografie: Ran Arthur Braun) auf den „Berggipfeln“ erscheinen und wie Figuren im Miniaturland wirken.
Seit vielen Jahren bewährt hat sich das innovative Soundsystem „Bregenz Open Acoustics“ der Bregenzer Festspiele, das mittels Richtungsmischer und hunderten von Lautsprechern, eine akustische Raumsimulation ermöglicht. Wo also jeweils ein Sänger gerade steht, lässt sich auch gut erhören. Selbst bei den harten Bedingungen wie sie am Premierenabend herrschten, mit lang anhaltendem und starkem Regen, bietet es einen beeindruckendes Klangerlebnis in der Weite des Raums. Nicht nur durch den Einsatz von Pyrotechnik gibt es wunderschöne Optiken, das Licht von Bruno Poet passt sich perfekt den Spielszenen und der Videoprojektionen an.
Diese Carmen-Inszenierung ist ein Gesamtkunstwerk, an dem auch der dänische Regisseur Kasper Holten einen großen Anteil hat. Mit den farbenfrohen Kostümen der dänischen Kostümbildnerin Anja Vang Kragh ist das Geschehen in die Zeit des spanischen Bürgerkriegs, ins Spanien der 1920er und 1930er Jahre verortet. Dabei bezieht Holten den Bodensee mehrfach mit ein. Da sich die vorderen Spielkarten in den See versenken lassen, finden mehrere Szenen effektvoll im seichten Wasser statt, später kommt Esscamillo singend auf einem Boot angefahren und Don José ertränkt Carmen im See. Der herausragendste Moment ist allerdings, wenn Carmen (allerdings gedoubelt), in voller Montur, mit einem beherzten Sprung ins Wasser vor den Soldaten flieht und galant davon schwimmt.
Denn neben den Hauptdarstellern, Tänzern und Statisten (Choreografie: Signe Fabricius) und den Stuntman sind auch drei Chöre an jeder Aufführung beteiligt. Zu Beginn kann der von Wolfgang Schwendinger einstudierte Kinderchor der Musikmittelschule Bregenz-Stadt für sich einnehmen, später kommen der Prager Philharmonische Chor (Einstudierung Lukáš Vasilek, zugespielt aus dem Festspielhaus) und der Bregenzer Festspielchor (Einstudierung: Benjamin Lack) hinzu. Paolo Carignani sorgt am Pult der ebenfalls im Festspielhaus spielenden Wiener Symphoniker mit viel Temperament für einen feurigen und leidenschaftlichen Carmen-Ton.
Bei dem der Premierenvorstellung sich anschließenden Künstlerempfang bedankte sich die Intendantin Elisabeth Sobotka ganz besonders bei allen auf der Bühne Beteiligten. Denn: Ist Wasser auch ein zentraler Bestandteil der Inszenierung, soviel wie davon während der Vorstellung vom Himmel strömte, bedurfte es aber nicht. Fast 90 der 120 minütigen Aufführung über regnete es stark, doch alle Darsteller zeigten sich für die 7000 Zuschauer davon unbeeindruckt und spielten und sangen, als wäre es eine laue Sommernacht in Sevilla.
Allen voran die französische Mezzosopranistin Gaëlle Arquez in der Titelrolle. Sie verbindet das Bild einer klassischen Carmen mit modernen Zügen und spielt und singt ausdrucksstark, voller Esprit und Sinnlichkeit. Mit intensivem Spiel überzeugt auch der schwedische Tenor Daniel Johansson in der Figur des zwischen leidenschaftlichem Schwärmen und Melancholie zerrissenen Serganten Don José. Dabei zeigt er sich stimmlich umso stabiler. Der US-amerikanische Bariton Scott Hendricks gibt mit passend dunkel gefärbter Stimme und agiler Stimmführung einen siegessicheren Torero Escamillo. Mit expressiven Tönen, teils von hoch oben gesungen, glänzt die Micaëla der russischen Sopranistin Elena Tsallagova.
In weiteren Rollen dabei: Jana Baumeister (Frasquita), Marion Lebègue (Mercédès), Sébastien Soulès (Zuniga), Rafael Fingerlos (Moralès), Simeon Esper (Remendado) und Dariusz Perczak (Dancaïro). In Anbetracht der 28 Vorstellungen innerhalb der Festspielzeit sind die meisten Rollen mehrfach besetzt.
Nach dem dramatischen Ende gab es starken Applaus für diese publikumsfreundliche Inszenierung.
Markus Gründig, Juli 17
Im Festspielprogramm wird auch mutig der Themenkomplex Flucht und Exodus aufgegriffen. „Die Kunst wendet sich nicht ab, sie schaut hin. Sie greift damit eine der großen Fragen unserer Zeit auf“, um noch einmal den österreichischen Kunst- und Kulturminister Thomas Drozda von der Eröffnung der Bregenzer Festspiele 2017 zu zitieren. So gibt es im Festspielhaus Gioachino Rossinis Moses in Ägypten in einer Inszenierung von Lotte de Heer in Zusammenarbeit mit dem Theaterkollektiv Hotel Modern zu sehen, die Uraufführung von Zesses Seglias To the Lighthouse durch das Opernatelier, Mozarts Die Hochzeit des Figaro im Voralbergtheater mit dem Opernstudio und zahlreiche Konzerte und Sonderveranstaltungen.