Gelungene Zeitreise am Schauspiel Frankfurt: »Aus Staub« von Jan Neumann

Aus Staub ~ Schauspiel Frankfurt ~ v.l. Julia Staufer, Altine Emini, Sebastian Kuschmann, Friederike Ott, Uwe Zerwer, Sebastian Reiss (© Felix Grünschloß)

Autor, Regisseur und Schauspieler Jan Neumann war von 2004 bis 2009 Ensemblemitglied am Schauspiel Frankfurt, wo er auch seine Stücke Goldfischen, Liebesruh und Kredit inszenierte. Inzwischen ist er Hausregisseur am Deutschen Nationaltheater Weimar. Nach einer längeren Pause hat er mit Aus Staub erneut für das Schauspiel Frankfurt ein maßgeschneidertes Stück geschrieben und es auch selbst inszeniert.

Es ist ein ganz besonderes Stück, das eng mit der Geschichte von Frankfurt und seinen Bürgern verbunden ist. Strenggenommen handelt es sich um eine Stückentwicklung. An dieser haben nicht nur die sechs Darsteller aktiv mitgewirkt, auch die Arbeit der Dramaturgin Ursula Thinnes und die Recherchen bei Bürgern und Experten flossen mit ein. Zwar gab es natürlich ein grobes Konzept, aber die erste Probe soll tatsächlich mit einem leeren Blatt Papier begonnen haben, mit dem aktuellen Spielzeitthema „Umbrüche – Wie sind wir geworden, wer wir sind?“ im Hinterkopf. Den szenischen Improvisationen folgend schrieb Neumann dann Abend für Abend an Aus Staub, das den verschiedenen gesellschaftlichen Umbrüchen der vergangenen 70 Jahre nachspürt. In kleinteiligen Szenen, die Persönliches mit Gesellschaftlichem verbinden, werden diese Umbrüche engagiert und äußerst unterhaltsam dargeboten.

Äußerer Rahmen ist eine Dreizimmerwohnung in der Frankfurter Schubertstraße 45 (natürlich ist diese Hausnummer kein Zufall) und deren unterschiedliche Bewohner innerhalb der vergangenen 70 Jahre. Es beginnt mit der Stunde Null, auch die Schubertstraße 45 musste wiederaufgebaut werden. Geholfen haben dabei TVG-Steine, Steine der Trümmer-Verwertungs-Gesellschaft mbH Frankfurt am Main. Aus den Unmengen an Trümmerschutt den es nach den Bombenangriffen gegeben hatte, wurde nach Kriegende 20 Jahre lang Unmengen neuen Baumaterials geschaffen. Die Steine waren ob ihrer besonderen Festigkeit sehr gut für einen Hausbau geeignet und so finden sich in den Nachkriegshäusern Spuren und Staub vergangener Zeiten. Ohne Einhaltung einer chronologischen Folge werden  sodann collagenartig einzelne Episoden gezeigt, die beim Zuschauer selber Erinnerungen an diese Zeit und die eigene Vergangenheit auslösen, die unterhaltsam mit der jüngeren Geschichte spielen und Vergangenes vor Augen führt und deutlich machen, dass viele damaligen Themen auch heute noch aktuell sind.

Die Bühne von Dorothee Curio zeigt ein Zimmer dieser Wohnung, allerdings mit deutlich absurden Bezügen. Es gibt nicht nur sieben Türen (in verschiedenen Jahrzehnten gefertigt), auch eine vorzeitig endende Treppe (die letzten Stufen fehlen), eine Flügeltür im Hintergrund ist viel zu hoch angelegt und nur über einen Tisch zugänglich, die wenigen Fenster sind viel zu hoch und für den Raum viel zu klein, wie auch die Wände eher wie eine provisorische Fassade wirken, gleichzeitig aber auch den ständigen Wechsel der Bewohner widerspiegeln. Ein Reh liegt im Raum, das Bildnis eines Krokodils ziert eine Wand. Unschuld und Gefahr umgibt gewissermaßen allgegenwärtig die Bewohner.

Und diese sind sehr unterschiedlich. Sei es der jung und mit wenigen Sprachkenntnissen in Frankfurt angekommene italienische Gastarbeiter (humorvoll: Altine Emini), der erst hier so richtig italienisches Eis, Pizza und Spagetti kennenlernt, die sich auf Höchstform quasselnde Soziologiestudentin, die sich für die Rechte der Frauen stark macht (vielversprechend: Julia Staufer vom Studiojahr Schauspiel) oder der coole und erfolgreiche Unternehmensberater, der dann doch Narben und Wunden in seiner Seele erahnt (lässig: Sebastian Kuschmann).
Die tolle Ensembleleistung spiegelt sich besonders in der Familienszene, wenn der Vater nach der Wende in Cottbus beim Aufbau Ost mithelfen soll und deshalb die ganze Familie mit nach Brandenburg ziehen soll. Die Bilder der Ostdeutschen animiert sie zu herzhaften Lachern, dabei sehen sie selber wie eine Karikatur aus (Kostüme: Nini von Selzam). Immerhin der Sohn (kumpelhaft: Sebastian Reiss) kann sich freuen, künftig im eigenen Zimmer ungestört entspannen zu können. Ernster sind die über mehrere Jahre sich erstreckenden Begegnungen zwischen der singenden („Es geht besser, besser, besser“, dem Wirtschaftswunderschlager von Caterina Valente und Silvio Francesco) alleinerziehenden Mutter (dauerlächelnd und strahlend: Friederike Ott) und ihrem Sohn (eine langsam sich entwickelnde Demenz glaubhaft darstellend: Uwe Zerwer).

Dazu werden weitere Umbrüche spielerisch gestreift, wie die Studentenbewegung und die Hausbesetzungen, die Ölkrise und 9/11. Am Ende verkünden Leuchtbuchstaben am Bühnenhimmel „We are still here“. Der Geist der Bewohner lebt in der Stadt weiter, auch wenn das Haus Schubertstraße 45 bald einem Hochhausneubau weichen muss.
Großer Zuspruch vom Publikum für diese Zeitreise, für pausenlose 105 Minuten, die nachdenklich stimmen und gleichzeitig wunderbar unterhalten.

Markus Gründig, Oktober 18

Aus Staub
Von: Jan Neumann
Premiere/Uraufführung am Schauspiel Frankfurt: 29. September 18
Besprochene Aufführung: 30. September 18

Regie: Jan Neumann
Bühne: Dorothee Curio
Kostüme: Nini von Selzam
Musik: Thomas Osterhoff
Dramaturgie: Ursula Thinnes

Mit: Altine Emini, Sebastian Kuschmann, Friederike Ott, Sebastian Reiss, Julia Staufer, Uwe Zerwer

www.schauspielfrankfurt.de