Tirant lo Blanc (Der Weiße Ritter)
Koproduktion von Institut Ramon Llull, Teatre Romea (Barcelona), Hebbel am Ufer (Berlin), Stadtverwaltung Viladecans und schauspielfrankfurt aus Anlass der Frankfurter Buchmesse 2007
Besuchte Vorstellung: 5. Oktober 07 (Uraufführung)
„Ich bin von Liebe so gefangen, dass ich im Leben tot bin“ (Gesang der Karmesina)
„Tirant lo Blanc“ ist ein gigantisches Erzählwerk und Urbild aller späteren spanischer Ritterromane. In 487 Kapitel beschreibt der Katalane Joanot Martorell (1413/15–1468) darin die Geschichte einer fiktiven Zentralgestalt: dem Weißen Ritter. Die Realhistorie nicht genau nehmend, gelingt es dem Weißen Ritter Konstantinopel, das Bollwerk der östlichen Christenheit, in einer Folge von abenteuerlichen Ereignissen (kämpferischer, politischer und erotischer Art) vor dem Untergang zu retten (wobei er dabei unter das Joch der Liebe gerät, weil er sich in die Tochter des griechischen Kaisers verliebt). In den Roman eingebunden ist eine Schilderung der sozialen und moralischen Ordnung des Mittelalters.
Der vor einem halben Jahrtausend geschriebene Roman ist einer der ersten Romane in Altkatalanisch. Im Rahmen der diesjährigen Internationalen Frankfurter Buchmesse, mit der Region Katalonien als Gast, entstand nun eine Bühnenversion. Für den Regisseur Calixto Bieito gleicht „Tirant le Blanc“ einem Epos wie dem der Nibelungen. Zusammengefasst sei es ein Roman „über die Freude am Töten, sich in Schale zu werfen und darüber zu vögeln (in dieser Reihenfolge)“. Ein nahezu drei Generationen umfassendes Team hat aus der Vorlage ein gut dreistündiges Extrakt gebildet: Bieito (Jahrgang 1963) erarbeitete mit dem jüngeren Marc Rosisch (Jahrgang 1973) die dramaturgische Umsetzung, der ältere Carles Santos (Jahrgang 1940) komponierte die begleitende und untermalende Musik (bestehend aus Arien, Oratorienähnlichen Chorpassagen und Pop-Balladen).
Herausgekommen ist ein überaus sinnliches Stück, das Schauspiel, Musiktheater, Installation, Show und Performance ist; facettenreich, mit Sprüngen, Brüchen und einer gehörigen Portion Humor. Da „Theater Kampf und Gewalt nicht aseptisch zeigen kann“ (Elisabeth Schweeger in der einführenden Pressekonferenz zum Stück), gibt es bei dieser Inszenierung realitätsnahe Kampfszenen, in deren Folge das (Theater-) Blut nur so spritzt. Der Gewalt ist die körperliche Lust gleichgesetzt. Ob Brust oder Penis, zu sehen gibt es allerhand, auch was manch einer vielleicht gar nicht sehen will, wie das Ekel erregende Zerfetzen eines gehäuteten Hasen. Die Sinnlichkeit ist hier vor allem körperlicher Natur, aber nicht nur. Auch Essen und Trinken, sich Wohlfühlen und das Leben genießen ist genauso wichtig. An diese Form der Sinnlichkeit können einzelne Besucher in Form einer genüsslichen Portion Paella, mundendem Rotwein und leckerem katalanischen Gebäck teilhaben.
Um dieses Opus der Sinnlichkeit bestmöglich zeigen zu können, wurde der Zuschauerraum des schauspielfrankfurt so stark verändert, dass er kaum wieder zu erkennen ist (Bühnenbild: Alfons Flores). Die vordere Hälfte der Sitze wurde entfernt, dafür ein von der Bühne kommender Laufsteg bis in die Mitte hinein verlängert. Die Zuschauer sitzen nun wie bei einer Modenschau um die in den Zuschauerraum ragenden Teil des Stegs herum, zum Teil ganz nah am Geschehen. Der Steg endet im Bühnenbereich an einer hohen Videoleinwand, dessen Bilder auch auf zwei seitlich angebrachten TV-Blöcken laufen (neben denen auch die Tafeln für die deutschen Übertitel hängen).
Mehr an Bühne gibt es zunächst nicht. Dafür Videobilder einer Nachtfahrt mit Fokus auf die Fahrbahn, eine der Verbindung zwischen Mittelalter und Moderne: die Reise (oder Irrfahrt) der Menschen geht gewandelt stets weiter. Später bekommt der Ritter ein ihm würdiges Pferd. Eine Garnitur aus Stahltisch, Spüle und Herd verwandelt den Steg zur Gemeinschaftsküche (währenddessen Bilder vom kuriosen Tomatenfest aus dem spanischen Bunol auf der Videoleinwand laufen).
Nach der Pause torkelt der Weiße Ritter im Video in seiner Ritterkluft an einem tunesischen Sandstrand voller Touristen herum (ein weiterer Bezug Bieitos zur Gegenwart: Kritik an der Landschaftszerstörung an der Küste der Mittelmeerländer durch den Tourismus), währenddessen sich der Laufsteg zur Landstrasse mit markierten Mittelstreifen gewandelt hat. Für das Finale fährt aus dem Hintergrund effektvoll ein überdimensionaler, mehrgliedriger Schaukasten, ein „Altarbild des Lebens“ vor, in dem die Figuren ein letztes Mal für die Mannigfaltigkeit des Spiels des Lebens und des Todes stehen.
Bieito bietet eine Masse an Einfällen, die nur sehr schwer alle zu erfassen sind. Bei allen plakativen Momenten gibt es aber auch immer wieder Momente der Stille, des bedächtigen Innehalten und der Poesie, etwa wenn Karmesina (knapp in weiß gekleidet) mit orange leuchtenden Spielbällen die Bühne betritt und singend beklagt, dass die Liebe (das tiefe Empfinden) sie unterjocht habe.
Für die Bühnenfassung wurde Martorells Text freizügig auf vier Erzähler verteilt, die erzählen und schauspielern gekonnt verbinden und die Grenze dazwischen aufheben: die Blume des Rittertums (furios kämpferisch: Belén Fabra), Diafebus (die katalanische Lebensart repräsentierend: Lluis Villanueva), Fräulein Meineslebenslust (zurückhaltend: Roser Cami) und Eliseu (die blinde Organistin im weißen Hochzeitskleid: Alicia Ferrer), die diese Geschichte als ihren Traum erzählt.
Die Kaiserin (vergnüglich und charmant: Begoña Alberdi) ist natürlich in festen Händen und bei ihrem Herrn Kaiser (gebieterisch: Carles Canut), dennoch ist auch sie nicht zufrieden, reizen sie trotz ihren reiferen Alters dennoch andere Männer, nicht zuletzt der Knappenanwärter und Sohn Hipòlit (an der Grenze zum Erwachsenwerden: Nao Albet). Wo die reife Witwe (eisern: Victòria Pagès) ihre Begierden zunächst noch unterdrückt (und sich später resigniert volltrunken in eine Wanne legt), kreisen die jungfräuliche Prinzessin Karmesina (absolut modern, trendig, mit Rastalocken und im knappen Tutu überaus sinnlich: Beth Rodergas) und Estefania (leidenschaftlich: Marta Domingo) intensiver um den Ritter. Nur zu gerne würde Estefania mit Karmesina tauschen und sich dem Weißen Ritter hingeben.
Nicht zu vergessen: Josep Ferrer (Herr von Agramunt), Mingo Ràfols (Herzog von Mazedonien) und Alina Furman (Die schöne Agnés). Über all diesen steht Tirant lo Blanc. Fast schon ein wenig der Welt entrückt gibt ihn Joan Negrié (mit seinen Locken ein wenig an den jungen Roger Daltrey erinnernd) keusch, kampfstark, verstört, unsicher ob er geliebt wird, begehrend, verliebt und sich hingebend. Bei alledem überzeugt er mit seinem großen Maß an Autorität in der Stimme und seiner darstellerischer Präsenz.
Die Kostüme von Mercè Paloma reichen von Kettenhemden, wertvollen Brokatkleidern, Roben von katholischen Geistlichen hin zu gegenwärtiger Alltags- und Sportkleidung, Reiz- und Unterwäsche.
Theater ist noch immer ein sinnliches und emotionales Erlebnis – „das muss man zulassen können. Mut zu Emotionen ist eine Herausforderung an das Theater heute.“ (Brigitte Fürle, künstlerische Leiterin der Berliner „Spielzeit Europa“ in einem aktuellen Interview mit dem Tagesspiegel). Diesen Mut haben Bieito und die ungemein spiel- und sangesfreudige Darsteller bei diesem Spiel des endlosen Begehrens, der Enttäuschung und der ungezügelten Sinnlichkeit, des Credo auf die Liebe und Feste, zweifellos bewiesen.
Markus Gründig, Oktober 07
Infos zum Stück
Jugend ohne Gott
schauspielfrankfurt in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt/Main (Ausbildungsbereich Schauspiel)
Besuchte Vorstellung: 29. September 07 (Premiere)
“Wenn kein Charakter mehr geduldet wird, sondern nur der Gehorsam, geht die Wahrheit, und die Lüge kommt.“ (aus: Jugend ohne Gott)
Der österreichische Schriftsteller Ödön von Horváth ist vor allem durch seine sozialkritischen „Volksstücke“ bekannt (z.B. Geschichten aus dem Wiener Wald, Glaube Liebe Hoffnung und Kasimir und Karoline). Sein Roman „Jugend ohne Gott“ erschien 1937 und befasst sich mit dem nationalsozialistischen Ungeist und seinen Auswirkungen auf die soziale Verantwortlichkeit der Menschen. Hier ist es die bürgerliche Mitte, die ihren Status Quo behalten will und deshalb zu Mitläufern im System wird. Ein Mordfall verstärkt zunächst noch das vorherrschende, falsche Denken. Doch es gibt auch eine Gruppe, die einen Klub gründet, wo all das gelesen und besprochen wird, was offiziell verboten ist. Und es gibt Menschen denen ihr Schicksal egal ist, solange sie mit sich im Reinen sind und damit zum Vorbild für andere werden.
So bietet der Roman gute Voraussetzungen für eine dramaturgische Umsetzung, wie jetzt geschehen in einer Koproduktion von schauspielfrankfurt und dem Ausbildungsbereich Schauspiel der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst.
Die Inszenierung zeigt vage nationalsozialistische Andeutungen (wie die Einheitstrachten der Schüler), Jungregisseurin Julia Hölscher präsentiert das Stück jedoch mehr als zeitlose Situationsbeschreibung von Menschen ohne Utopien und Glauben, was der Inszenierung einen sehr gegenwärtigen Charakter verleiht. Gespielt wird in der schmidtstrasse 12, der Außenspielstätte des schauspielfrankfurt. Der Grundraum dieser Spielstätte wurde für die Saison 2007/2008 von Bernd Schneider gestaltet, die Ausstattung übernahm Ulli Smid. Das Publikum sitzt auf Tribünen im Halbkreis um die ansonsten leere Spielfläche, fast einem antiken Auditorium gleich. An der rückwärtigen Seite steht eine große, hölzerne Halfpipe (Joep van Lieshouts Doppelzimmerblockhütte aus der letzten Spielzeit wurde zum Kiosk umgebaut, die Pausenbar präsentiert sich jetzt als Bio-Lounge mit kleinen Tischen und einfachen Gartenstühlen auf Kunstrasen).
Ein großes Maß an Dynamik kennzeichnet diese Inszenierung. Sternförmig rennen die Jugendlichen aus allen Ecken zwischen den Zuschauern in diesen Raum hinein und mit viel Schwung auf die Halfpipe, um genauso schnell wieder zu verschwinden, innezuhalten oder etwa einen höfischen Tanz vorzuführen. Im Focus steht der junge und idealistische Lehrer, dargestellt von Stefko Hanushevsky, zu Beginn klangschön und sarkastisch ein „Zum Geburtstag viel Glück“ anstimmend. Er zeigt mit großer Intensität des Lehrers Entwicklung vom Unbekümmerten zum Geläuterten. Wie er bei den Jugendlichen steht, das ist ihm letztlich unbekannt. Freunde hat er zumindest in der Person von Frau Feldwebel, die sogar gern mehr mit ihm anfangen würde (beherzt und durchgreifend: Nadja Dankers) und im Pfarrer und Julius Caesar (in einer Doppelrolle, weise kommentierend: Michael Lucke).
Konsequenterweise tragen die Mitläufer im System keine Namen, lediglich Buchstaben unterscheiden sie. Hart sind sie in ihren Äußerungen, den Worthülsen des angesagten Zeitgeistes folgend. R (Friederike Ott) ist eine fordernde Mitschwimmerin im System. N (Sebastian Klein) ein von seinen Eltern angetriebener Aufstacheler. Z (Raùl Semmler) gibt sich nach außen hart, hat aber eine sensible innere Seite. B (Victoria Schmidt) überrascht mit neuen Ansichten und T (Moritz Peters) ist ein Erlebnisforscher mit fatalen Folgen. Aus dem Rahmen fällt die aus der Besserungsanstalt entflohene Eva (Judith Nederkofler), in ihrer Wildheit und Lebenslust.
Markus Gründig, September 07
Emilia Galotti
schauspielfrankfurt
Besuchte Vorstellung: 28. September 07 (Premiere)
Hugo von Hofmannsthal sagte zur Sprache in Lessings „Emila Galotti“, die für ihn weniger durch Seelenhaftes oder durch dunkle Naturlaute, als vielmehr durch pointierte Wendungen bestach: „sie hat ein solches geistiges Leben in sich, dass sie aus dem Stück etwas Unverwesliches gemacht hat“. Regisseur Niklaus Helbing versetzt bei seinem Regiedebüt am schauspielfrankfurt denn auch entsprechend das 235 Jahre alte Trauerspiel in die Neuzeit und präsentierte es publikumsnah als schwungvolle Komödie. Wären da nicht die altertümlich anmutenden Namen der Figuren (und das seit jeher diskutierte Ende), so würde das Alter des Stücks gar nicht mehr auffallen. Der Konflikt zwischen bürgerlicher Welt und höfischer Intrige, die moralisch-aufklärerische Belehrung Lessings tritt zurück zugunsten einer spritzigen Kriminalgeschichte.
Für die höfische und bürgerliche Welt hat Dirk Thiele auf der Drehbühne eine aufwändige Welt mit sechziger Jahre Chic geschaffen. So residiert der Prinz auf seinem Lustschloss in einem weiten Raum mit großen Glasscheiben und Blick ins Grüne und auch die Galottis wohnen in ihrer bürgerlichen Welt recht mondän, in einem durch die Tapeten leicht antik anmutenden Raum (Anspielung auf die literarische Vorlage?). Geschwungene, weiße Wände verbinden diese Räume, sie bieten Schlupflöcher und Türen. Ein weiteres Verbindungselement ist die Musik von Martin Gantenbein, die zwischen sechziger Partyjazz und sphärischen Klängen wechselt und insbesondere den Prinzen immer wieder zum grooven bringt. Aljoscha Stadelmann gibt ihn passend nicht als Herrschernatur. In seinem zart lila Anzug (Kostüme: Regine Schneebeli) zeigt er sich vielmehr als charmanter und lustgetriebener Gebieter. Mit fiesem Spiel wartet in bewährter Qualität und kantigem Profil Wilhelm Eilers als gewissensloser Marinelli auf, wohingehend Joachim Nimtzs Odoardo Galotti zwischen den Frauen hin und her schwankt. Da ist einerseits seine Frau Claudia, die Viola von der Burg mit viel Anmut und Charme spielt. Andererseits gibt es auch noch die sarkastische, mündige Gräfin Orsina, deren Verletzung, Gebrochenheit und trotz alledem starker Kämpfernatur Sascha Icks stilvoll umsetzt. Die dritte Frau im Leben Odoardos ist seine Tochter Emilia, hier von Anne Müller (im bunten Kleid und mit futuristischen Schuhen aufwartend) als von Anfang an über ihre pubertären Gefühlsstürme Verstörte. Dazu in Doppelrollen dabei: Özgür Karadeniz und Mathias Max Herrmann.
Am Ende uneingeschränkter Beifall für Darsteller und das Regieteam: für einen leichtgängig aufbereiteten Klassiker mit hohem Unterhaltungswert.
Markus Gründig, September 07
Heaven (zu Tristan)
schauspielfrankfurt in Koproduktion mit dem Berliner Maxim Gorki Theater
Besuchte Vorstellung: 12. September 07 (Premiere / Uraufführung)
Nach drei Stunden und zehn Minuten Spieldauer gibt es stürmischen Beifall im Kleinen Haus des schauspielfrankfurt: für die bravourösen Schauspieler, aber auch für das Kreativteam um den Regisseur Armin Petras, der zudem in Doppelfunktion auf der Bühne stand. Sein Autoren-Alter-Ego Fritz Kater hat das Stück geschrieben.
Fritz Kater ist ein erfolgreicher Autor, schon viele seiner Stücke erhielten Einladungen zu den bedeutendsten Theaterfestivals, wie zu den Mühlheimer Theatertagen oder den Berliner Festspielen. Gut vorstellbar, dass auch „Heaven (zu Tristan)“ eine Einladung zu einem wichtigen Theaterfestival erhalten wird.
Fritz Katers Schreibstil hat Petra Kohse von der Zeitschrift „Theater der Zeit“ einst treffend beschrieben: „Fritz Kater ist als Dramatiker ein DJ, sein Schreiben ist Sampling, hochkulturell ausgedrückt: Er ist ein Eklektiker, der auf der Klaviatur des Bestehenden komponiert.“ Was heißt, Petras Texte sind offen, er nutzt gegenwärtiges und vergangenes Material und formt so seine Geschichten. Das Ganze geht mit schnellem Tempo vonstatten, äußerste Konzentration ist gefragt. Wem es doch zu schnell ging: Im Programmheft ist weiteres Textmaterial nebst einem ausführlichen Glossar zum Nachlesen enthalten. Dabei sind seine Texte anspruchsvoll, aber nie so abgehoben, dass sie nicht verständlich wären. Da gibt sich Petras sympathisch ganz als Mann des gemeinen Volks.
Für „Heaven( zu Tristan)“ nutzt er die gegenwärtige Ausblutung Ostdeutschlands durch den „Westwegzug“ der jüngeren Generation, was fatalen Folgen für die, die dableiben (müssen) hat. Anhand der Industrieregion Wolfen stellt Kater einzelne Schicksale vor und mengt historische Fakten, wie beispielsweise die Geschichte der Wissenschaftlerin Marietta Blau, oder auch mystische Dichtungen (Tristan-Geschichte), fließend unter. Er führt Menschen vor, deren Lebensgrundlage durch die Insolvenz ihres Arbeitgebers oder durch die Schließung des Krankenhauses, verloren ging, die aus der Lebensbahn geworfen wurden, die einen Suizid hinter sich haben oder unmittelbar davor stehen, die abhauen und krank zurückkehren, die unbekümmert weiter machen, aber auch welche, die eine Initiative für einen Neuanfang wagen. So wie der Titel einerseits Hoffnung, Freude und den Glauben an das Gute impliziert, macht der Zusatz „zu Tristan“ ihn zunichte, scheitert Tristan doch tragisch, beklagt wird der Verlust von Utopien und ein Leben das nicht zu steuern, sondern nur zu ertragen ist.
Die einzelnen Schicksale scheinen zunächst losgelöst voneinander zu sein, doch ihre Verbindung wird zum Ende hin immer klarer. Trotz allen Ernstes und brutaler Gewalt kommt die typische Kater/Petras-Slapstick und –Drastik nicht zu kurz, mit Heliumgas wird dem Lachen noch nachgeholfen.
Vom Text wie von der Szene her gibt es etliches zum Lachen, aber es gibt auch nicht zu knapp etliche Skurrilitäten, wie blutige Fleischfetzen, erbrochene Leberkässtullen, mollig nackte Männerbäuche und verkommende, im gesellschaftlichen Abseits stehende Individuen.
Die Probleme Ostdeutschlands sind in der prosperierenden Wirtschaftsmetropole Frankfurt weit weg. In Berlin, wo das Stück ab November gezeigt wird, sieht die Sache schon anders aus, da sind sie wesentlich präsenter. Im Laufe des Stückes verschwindet aber der Osten aus dem Kopf des Zuschauers und die gezeigten Lebensprobleme, Sehnsüchte und Träume bekommen eine universelle Natur.
Trashig das Bühnenbild von Patricia Talacko und Bernd Schneider (beide auch Kostüme): wesentliches Element ist ein mächtiger Betonklotz als Stellvertreter für den Ost-Plattenbaustil. Der Klotz dient als Projektionsfläche für eingespielte Videos (Niklas Ritter), die eine trostlose, entmenschlichte Welt zeigen. Ein Meer aus leeren Plastikflaschen dient als Schwimmbadersatz (denn das wurde genauso dicht gemacht). Einen Himmel mit vielen Lichtern gibt es auch, doch er bleibt unerreichbar. Zum Finale sind nicht nur die Darsteller in schwarzen Kostümen als würden sie zu einer Beerdigung gehen, auch der Klotz wird mit einer schwarzen Folie abgedeckt, Licht aus, Ende.
Die Rollen wurden mit großartigen Charakterschauspielern besetzt. Vom Ensemble des schauspielfrankfurt ist einzig Susanne Böwe dabei, die hier als Helga feinfühlend und ergreifend zu erleben ist. Bekanntester Gast ist Fritzi Haberlandt, in der Rolle der um ihren Verflossenen nachtrauernden Simone. Peter Kurth (Königsforst, ein zurückhaltender, stiller Mensch, der aber auch ganz gehörig die Sau rauslassen kann), Ronald Kukulies (Robert, der optimistische) und Yvon Jansen (Sarah, die scheinbar glückliche) sind dem Frankfurter Publikum bereits von anderen Inszenierungen bekannt. In einer nahezu Stummen Rolle Juliane Pemelfort als saufender Herumhängling und menschliche Nähe suchender Micha. Mut zur Entstellung beweist Max Simonischek, der Andres Adlercreutzes fertige Existenz beängstigend realistisch darbietet.
Musik, von Wagner bis Hard’nHeavy, untermalt die Stimmung. Led Zepplins „Stairway to heaven“ erklingt gar zweifach. Was bleibt ist die Erkenntnis, daß der Weg zum Himmel weit und tückisch ist.
Markus Gründig, September 07
Medea
schauspielfrankfurt
Besuchte Vorstellung: 6. September 07
Kathleen Turner und Michael Douglas lieferten sich als Ehepaar Oliver und Barbara Rose in der tiefschwarzen US-Komödie „Der Rosenkrieg“ einen bitterlichen Kampf in der gegenseitigen Vernichtung ihres Hab und Guts. Unter Ausnutzung aller rechtlicher Möglichkeiten machten sie sich das Leben so schwer wie nur möglich und schreckten auch nicht vor der Zerstörung lieb gewonnene Gegenstände zurück.
Subtiler, aber nicht minder brutal – im Gegenteil – ist Euripides Ehedrama „Medea“ (im Griechischen: Medeia), geschrieben 431 v.Chr. Ein auf Gesetzten beruhendes Rechtssystem, das das System der individuellen Rache ablöste war erst im Entstehen. Obwohl die starke Medea in vielen Sachen ihrer Zeit voraus war, gilt dies nicht für ihr Rechtsverständnis. Im Innersten durch den Ehebruch ihres geliebten Mannes tief gebrochen, kennt sie nur die Rache, koste sie was sie wolle – und wenn es die eigenen Kinder sind. Gleichwohl brachte Euripides Auseinandersetzung mit der Sophistik seinem Medea-Drama eine bedeutende Wende im Vergleich zu den Tragödien von Aischylos oder Sophokles: die Auseinandersetzung mit der Psyche des Individuums (als Triebmotor für sein Handeln) mit der Vernunft und den sich daraus ergebenden Konflikten. Das Drama spielt sich in der menschlichen Seele ab.
Urs Troller (Regie) und Stefanie Wilhelm (Bühne) zeigen Medea im Kleinen Haus nicht als Tragödie im antiken Gewand, schon gar nicht als gewalttätiges und Blut spritzendes Effekttheater. Zusammen mit den heutigen Kostümen von Katharina Weißenborn (gleichberechtigt trägt Medea eine schwarze Hose, Jason einen schwarzen Anzug und beide dazu weiße Hemden), wirkt das Stück eher wie ein modernes Ehedrama. Gefühle werden auf der Bühne nicht offen ausgelebt, kultiviert regiert das gesprochene Wort. Tief aus dem Inneren der Hauptprotagonistin kommend, berührt es und macht betroffen, so gegenwärtig erscheint Euripides Text. Als willensstarke, emanzipierte Medea ist Friederike Kammer zu erleben, die großartig ihren Seelenzustand auszudrücken vermag (im Kleinen Haus brillierte sie zuletzt als Marquise de Merteuil in Heiner Müllers Quartett, Regie auch hier: Urs Troller). Erneut ist ihr Partner Oliver Kraushaar, hier in der Rolle des Jason. Ein Typ „Mann von gestern“, der naiv seinem patriarchalischem Denken verhaftet ist (was mitunter zu sarkastischen Lachen seitens der Damen im Publikum führt).
Gespielt wird auf nahezu leerer, offener Bühne. Zwei seitliche Betonpfeiler wurden im Umfang stark vergrößert. Zwischen diesen läuft Medea schon vor Beginn ungeduldig auf Jason wartend, hin und her, kurzes Innehalten um gellend nach Jason zu rufen. Später wird es Jason sein, der schockiert zwischen diesen Säulen herumtaumelt. Hinter einer Wand aus Plexiglasscheiben (die eine kühle Atmosphäre wie an einem Flughafen oder auf einer Messe vermitteln) sitzt der Chor: zwölf attraktive Damen (in schwarzen Anzügen und Kostümen, mit weißen Blusen/Hemden, top Frisuren und mondänen Brillen). Sie beobachten das Geschehen haarscharf und kommentieren es gelegentlich (typisch für Euripides: Die Bedeutung des Chors tritt zurück). Vor dieser Glaswand stehen zwei schwarz angemalte Bierzeltbänke. Das Volk schaut zu, was in der Welt passiert, greift nicht ein, bleibt passiv.
Einen emotionalen Kontrast gibt es zweifach. Einmal durch die rötlich eingefärbten, unstrukturiert verlegten, Holzplanken, die den Bühnenboden nahezu vollständig bedecken und darauf hinweisen, dass hier schon früher Grauenhaftes passiert sein muss. Ein anderes Mal durch die Vertraute (im beige schimmernden Kleid), die Abak Safaei-Rad warmherzig und willensstark wie ihre Herrin spielt. Zwei Buben sind als Spielbälle ihrer Eltern, die meiste Zeit über stumm mit auf der Bühne. Felix von Manteuffel gibt einen großprotzigen König Kreon und Andreas Haase Medeas neuen Überlebenspartner König Aigeus.
Markus Gründig, September 07
Cat on a Hot Tin Roof
English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 1. September 07 (Premiere)
Drama Comedy at its best
Hätte ein deutscher Autor die Geschichte des Alkoholikers Brick und seiner Familie geschrieben, würde der Titel vielleicht „Die Leiden des jungen Brick“ heißen. Amerikaner haben einen anderen Blick auf Unterhaltung und Kultur und so nannte Tennessee Williams seinen Roman verführerisch „Cat on a Hot Tin Roof“ – Die Katze auf dem heißen Blechdach“. Williams erzählt in diesem Stück den Abend vor „Big Daddys“ Geburtstag, eines reichen Plantagenbesitzers in den US-Südstaaten. Sohn Brick leidet unter der Verlogenheit (mendacity) im Kreis der Familie und verschließt sich gegen alle, selbst gegen seine Frau Maggie. Doch diese kämpft und ist „die Katze auf dem heißen Blechdach“. Verlogenheit, Heuchelei und Selbsttäuschung innerhalb dieser Familie stehen hier für Krankheiten der Gesellschaft.
Der Roman erschien 1955, Weltruhm erlangte die Verfilmung von 1958 mit Elizabeth Taylor (Maggie) und Paul Newmann (Brick). Im Film, wie auch bei der Broadwayaufführung im Jahr 1955, wurde jedoch ein wesentlicher Aspekt abweichend vom Buch geglättet: die unterschwellige Homosexualität Bricks. Diesbezüglich haben sich die gesellschaftlichen Einstellungen geändert (wenn auch nicht überall).
Das English Theatre Frankfurt eröffnete mit diesem Klassiker jetzt seine neue Spielzeit. Hinsichtlich der Stücke ist die Spielzeit eine rein US-amerikanische. Was die US-Generalkonsulin Jo Ellen Powell natürlich erfreut. Bei ihrer Begrüßungsansprache unmittelbar vor der Premiere dankte sie hierfür ihrem Freund Daniel Nicolai (Artistic und Executive Director des English Theatre). Die für diese Inszenierung aus New York eingeflogenen US-Schauspieler sieht Powell kurzerhand als Kulturbotschafter.
In New York fand das Casting statt, wo sich das Kreativteam die besten Charakterschauspieler aussuchen konnte. Dabei hat es voll ins Schwarze getroffen, denn eine passendere Besetzung ist kaum vorstellbar. Elia Kazan ( er führte bei der Broadwayinszenierung von 1955 Regie) sagte einst zu Peggy Cosgrave, sie würde einmal eine super Big Mama geben. Würde er sie jetzt hier sehen, könnte er sich zufrieden auf die Schulter klopfen. In ihrer energiegeladenen, ungestümen Herzlichkeit, erobert sie die Herzen der Zuschauer. In dieser Familie einzig klar denkend ist der unumstrittene Herr im Haus, Big Daddy, auch wenn sich ihm die traurigen Wahrheiten nur langsam erschließen. John Robert Tillotson spielt ihn überaus kraftvoll, ergreifend in der Szene im dritten Akt, wo er mit Sohn Brick um die Wahrheit ringt.
Letzterer wird vom jungen Quincy Dunn-Baker verkörpert, der unnahbar ausgiebig seine Seelenschmerzen pflegt und sich dem Alkohol hingibt, damit es im Kopf „click“ macht und er die Welt besser ertragen kann. In seinem weißen Morgenmantel macht er eine gute Figur. Schließlich kann er alles Aufgestaute aussprechen, der Wahrheit und damit letztlich sich selbst, immer näher kommen. Wesentlich redegewandter ist seine Frau Maggie, die, komme was wolle, für ihn und sich kämpft. Amy Lynn Stewart überzeugt mit ihrer inneren Stärke, ihrem innigen Charme und mit ihren spitzen Seitenhieben gegen die überdrehte Übermutter Mae (herrlich zickig: Jessica Wortham) und Schwager Gooper (ganz der Businessmann: Jay Russell) .In weiteren Rollen dabei: Philip Lewis (Doctor), James Morgan (Preacher) und fünf herzallerliebste Kreischbacken.
Die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Missstände sind universeller Art und damit ungebunden an Ort und Zeit. Regisseur Jonathan Fox (Director der Ensemble Theater Company von Santa Barbara) verzichtete auf eigenständige Aktualisierungen und eine Ortsverlegung. So spielt das Stück zu seiner Entstehungszeit im Haus einer US-Südstaatenfamilie. Die bereits im Roman angelegte Mischung aus Tragödie und komödiantischen Elementen weiß er geschickt auszuloten und in Szene zu setzen.
Bühnenbildner Neil Prince kreierte einen typisch amerikanischen Wohnraum dieser Zeit: mit großem Bett, Couch, Radio und Schminktisch. Die Wände sind mit großen Lamellen versehen (schließlich haben hier die Wände Ohren). Sie sind nicht miteinander verbunden, wodurch der Raum aufgelockert wird und größer erscheint. Die Decken fallen perspektivisch nach hinten ab, hinter der Balkonbrüstung sind die weiten Felder Big Daddys sichtbar.
Am Ende lang anhaltender und herzlicher Applaus: für eine gelungene Inszenierung, die zu Herzen geht, berührt und last, but not least: amüsiert. Ein wunderbarer Auftakt für eine vielversprechende Saison im größten englischsprachigen Theater auf dem Kontinent.
Markus Gründig, September 07
Iphigenie auf Tauris
schauspielfrankfurt im Bockenheimer Depot
Besuchte Vorstellung: 30. August 07 (Premiere)
Goethes streng durchkomponierte „Iphigenie auf Tauris“ gilt als Inbegriff der Weimarer Klassik und als das vollendetste Beispiel antikisierender Dramatik in deutsche Sprache. Dabei ist sie „kein Weihespiel wohlklingender Sentenzen – sondern eine vom Mythos umhüllte Utopie“ (Werner Keller). Anders als bei der antiken Vorlage schließt Goethes Humanität auch die Barbaren mit ein, er nannte seine „Iphigenie auf Tauris“ gar „verteufelt human“ und dokumentierte mit der zur Lüge unfähigen, reinen Priesterin besonders eindrucksvoll sein Humanitätsideal (Reclam). Gehobene Sprache bestimmt das Stück mehr wie sichtbare Bühnenaktion, verinnerlichte Seelenzustände ersetzen äußeres Geschehen.
Als zweites Stück zur Auftaktfestwoche goethe ffm und der neuen Spielzeit folgte im schauspielfrankfurt die Iphigenie den Wahlverwandtschaften. Beides harte Brocken für eine szenische Umsetzung. Die Premiere der Iphigenie fand im Bockenheimer Depot statt, einem ehemaligem Straßenbahndepot. Die dreischiffige Anlage ist ein über hundertjähriges Industrie-Denkmal, das Mittelschiff mit 12m Höhe verleiht dem Innenraum kathedralen Charakter. Die Regisseurin und Choreografin Wanda Golonka erwies sich bei der szenischen Umsetzung mal wieder als außergewöhnliche Raumkünstlerin, schaffte sie es doch, die Iphigenie mit reduzierten Mitteln eindrucksvoll umzusetzen (sie zeichnet verantwortlich für Regie, Raum und Kostüme). Das Publikum sitzt sich von den beiden Kopfteilen aus jeweils gegenüber. König Thoas kommt lautlos mit einer eleganten, weißen Fahrradrikscha in den weiten Raum hereingefahren, steckt sein Revier ab. Sein Reich besteht aus einer Handvoll Tische, wo er „seine Suppe kocht“. In einem Lichtkegel stehend verteilt Iphigenie mit kraftvollen Armbewegungen feine Holzspäne, die im geblichen Licht rötlich wirken, um kreisförmig ihr Gebiet abzustecken. Im Halbdunkeln spielen die Freunde Orest und Pylades während ihrer Unterhaltung heiter Ball, geben sich später mit weißen, verbandsähnlichen Masken, kämpferisch. Schließlich gibt es noch eine Frau, die tänzelnd das Geschehen beobachtet und kommentiert. Wenige Scheinwerfer, etwas Trockeneis und riesige Bambusstäbe reichen aus, eine ferne, längst vergangene Welt auferstehen zu lassen und Goethes Text zur Geltung zu bringen.
Alle fünf Darsteller vermittelten die gehobene, alltagsferner Sprache, auf höchstem Niveau. Jeder mit unterschiedlicher Klangfarbe, lebendig und authentisch gesprochen. Herausragende ist die Besetzung. Die Rolle der Iphigenie wird von einem Mann gespielt. Falilou Seck, in Frankreich geboren, in Bonn aufgewachsen und mit einem aus dem Senegal stammenden Vater, vermittelt das Fremde, das Andersartige, das gerade die Iphigenie auszeichnet, bemerkenswert. Georgette Dee gibt des König Thoas, zwar mit langer Haartracht aber in keinster Weise als Diseuse sondern sehr männlich. Wahre Kampfnaturen sind Orest und Pylades, die dies Oberkörperfrei auch optisch vermitteln (mit seinem Brustumfang könnte Bert Tischendorff auch als Sportmodel sein Geld verdienen, sein Sixpack ist auch aus der Ferne noch gut zu sehen). Der Zeit entsprechend, tragen die vier helle Röcke. Aus dem Rahmen fällt Jennifer Minetti, die als Frau Hosen trägt (nebst ausgefallenen Schmetterlingssonnenschirm). Ihre Rolle ist in der Iphigenie eigentlich nicht vorgesehen, hier spricht sie u.a. Heiner Müllers Prosatext „Hör mir zu, sagte der Dämon…“ (nach E.A. Poe).
Markus Gründig, August 07
Die Wahlverwandtschaften
schauspielfrankfurt
Besuchte Vorstellung: 28. September 07 (Premiere)
Frankfurt/Main besinnt sich seines bekanntesten Sohnes: Johann Wolfgang von Goethe, ebenda am 28. August 1749 geboren. Auf Initiative von Dr. Elisabeth Schweeger veranstalten die Stadt Frankfurt, das schauspielfrankfurt und das Freie Deutsche Hochstift / Frankfurter Goethe-Museum nun alle zwei Jahre ein Goethe-Festival. Ziel hierbei ist, das Bewusstsein für Goethe in Frankfurt zu stärken und seinen Stellenwert wie seine Präsenz zu hinterfragen. Als Logo für die Festwoche dient ein Pudel und somit die Frage „Was ist des Rätsels Lösung“ (im Faust I begegnete Faust bei seinem Spaziergang mit Wagner Mephistopheles, der sich den beiden in Gestalt eines schwarzen Pudels näherte).
An Goethes Geburtstag eröffnete das schauspielfrankfurt die Auftakt-Festwoche und die neue Spielzeit mit seinen Wahlverwandtschaften, ein Roman, den Goethe sechzigjährig geschrieben hat. In zwei Teilen mit jeweils achtzehn Kapiteln geht es dabei um die Ambivalenz zwischen gesellschaftlichen Zwängen und individuellen Empfindungen, um erotische Beziehungen, die sich mit der fatalen Kraft eines Naturvorgangs entwickeln. Thomas Mann bezeichnete die Wahlverwandtschaften gar als den „höchsten“ Roman der deutschen Literatur.
Regisseur Martin Nimz (inszenierte am schauspielfrankfurt u.a. „Wer hat Angst vor Virginia Woolfe? und Hexenjagd) nutzt für seine Inszenierung die knapp zweihundert Jahre alte Textvorlage Goethes sehr werktreu, verzichtet auf Aktualisierungen und lässt so Goethes wunderbar poetischen Sprachstil auf großer Bühne aufleben.
Im ersten, längeren Teil (der sich inhaltlich mit dem ersten Teil des Romans deckt), übernehmen die Darsteller die im Roman aus wechselnder Perspektive erzählten Geschehnisse als die ihrigen. Zwischendurch kommt immer wieder aber auch ein Erzähler zu Wort. Entweder aus dem Off über Lautsprecher, oder ein Darsteller übernimmt die Rolle des Erzählers, mitunter unmittelbar aus den Wahlverwandtschaften vorlesend. Dabei wird auch sehr schnell gesprochen (vor allem von Charlotte, Sabine Waibel), so dass ein sehr konzentriertes Zuhören erforderlich ist. Aufgrund der großen Bühne und des eigentlich kammerspielartigen Charakter des Stücks, sprechen alle Darsteller über Mikroports, wodurch auch die leisen, intimen Töne eine starke Wirkung entfalten.
Nach der Pause (juchhu es gibt sie doch noch! – in der vergangenen Spielzeit wurden bei fast allen Inszenierungen die Pausen gestrichen) folgt Nimz dem unausweichlichen Fortgang der Dinge auf sehr konsequenter Weise: die Schauspieler sind nunmehr stille Statisten, die dem Streben ihrer Natur folgen. Bis auf ein paar gestammelter Worte Ottilies bleiben sie allesamt sprachlos, allein der Erzähler ist, mit längeren Pausen, aus dem Off zu hören. Auch gibt es keine Lichtwechsel mehr, sondern eine große Leuchte strahlt zur Bühnenmitte herab. Allein eine Pflanze, die für die Außenwelt von Gärten und Wiesen steht, ändert sich im Fortgang der Jahreszeiten. Sie grünt, blüht, verliert die Blätter und ergrünt von neuem. Zumindest in der Natur geht das Leben weiter, über den Tod von Eduard und Ottilie hinaus.
So wie das Stück angelegt ist, zwischen szenischer Lesung und Spiel, müssen sich die Darsteller oftmals zurücknehmen, ihr Potential ist größer, als sie hier zeigen können.
Sabine Waibel gibt die Charlotte als durchaus berechnende, starke Frau, die aber gleichsam Opfer ihrer Gefühle ist (und nervös eine Zigarette nach der anderen raucht). Matthias Redlhammer ist ein charmanter Eduard, der schließlich seine Träume vom realen Leben nicht zu unterscheiden weiß. Christian Kuchenbuch hat es als unbeschwerter Hauptmann leichter, Sandra Bayrhammer gibt eine, lange Zeit schweigsame, in sich versunkene Ottilie. Einen fröhlichen Farbtupfer, nicht nur optisch, bilden die Baronesse (Leslie Malton) und der Graf (Heiner Stadelmann). In weiteren Rollen: Roland Bayer, Ingolf Müller-Beck, Sebastian Schindegger und Julia Penner.
Die Darsteller spielen in aktueller Kleidung (Kostüme: Cornelia Brückner), wirken mehr wie Yuppies denn wie Landadel. Charlotte trägt ein ärmelloses blaues und eng anliegendes Abendkleid, Eduard einen Businessanzug. Der Hauptmann zur ordentlichen Hose aufgelockert ein helles T-Shirt und Ottilie ein sommerliches Kleid, später dann zurückhaltend ein dunkelblaues Langarmshirt und einen Rock. Das in wilder Ehe lebende Paar, bestehend aus der Baronesse und dem Grafen erscheint kontrastreich in Weiß und Türkis. Zur Darstellung der lasziven Spaßgesellschaft lassen die Damen die Hüllen fallen, zeigen ihre gute Figur im Bikini und genießen eine Sektdusche.
Das Bühnenbild von Olaf Altmann ist sehr reduziert und nüchtern gehalten. Die große Hauptbühne des schauspielfrankfurt ist mit ihren schwarzen Wänden, Versorgungsleitungen und den Kabelsträngen der Technik ungeschminkt, unverhüllt einsehbar. Zwei lange Podeste aus Sperrholz dienen als Tische, Sitzgelegenheit und Laufsteg. Doch sie bedeuten mehr, spiegeln sie doch die magnetische Anziehung und Abstoßung der Pole „plus“ und „minus“ wider, verdeutlichen die Gefühlswelt des Quartetts zwischen respektvollen Abstand, zarter Annäherung und Gefühlsverwirrung. So drehen sich die beiden Objekte im Laufe des Stückes und nehmen immer wieder neue Positionen ein. Zwar kommen sie sich auch sehr nah, eine nahtlose Berührung gibt es aber nicht, ganz so wie auch die vier Hauptprotagonisten letztlich einsam bleiben.
Markus Gründig, August 07
Ariadnes Faden, Arthurs Schwester Marie & der “ächte” Naxos-Schmirgel
Theater Willy Praml, Frankfurt/M
Besuchte Vorstellung: 16. August 07 (Premiere)
Frankfurt/Main ist weithin als bedeutende Messe-, Dienstleistungs und Finanzmetropole bekannt. Doch Frankfurt ist auch eine Stadt, in der die Kunst und die Wissenschaft stark gefördert werden. Und auch die Industrie ist hier schon immer beheimatet, insbesondere die chemische Industrie. Das neue Mertonviertel in Frankfurt-Niederursel erinnert an Wilhelm Merton, den Gründer der Metallgesellschaft AG (und späteren Lurgi AG). Die Aventis SA und die Celanese AG gehen auf die Farbwerke Höchst AG zurück und Firmen wie die Seifen- und Kosmetikhersteller Mouson und Jade hatten hier ihre Produktionsstätten. Die Degussa, Messer Griesheim, Firma Schleusser, Adler-Werke sind nur einige weitere Namen, die für die Industrie-Geschichte Frankfurts stehen. Von hier in die weite Welt wurden einst auch die Spezial- und Präzisionsmaschinen der Naxos-Union exportiert, ein Unternehmen dass 1871 von Julius Pfungst in Frankfurt/Main gegründet wurde. Seit dem Ende der Tätigkeiten in Frankfurt im Jahre 1989 liegen die Flächen im Stadtteil Bornheim weitestgehend brach. Jetzt sollen die Bauten, bis auf die zentrale Halle, abgerissen werden. Ein weiteres Zeugnis der Industriearchitektur in Frankfurt/M wird dann verschwunden sein.
Die Naxoshalle wird seit dem Jahr 2000 vom Theater Willy Praml als Spielstätte genutzt. Die Tarzan-Inszenierung sorgte in 2000 für einen furiosen Einstand, später folgten u.a. Quartett, Nibelungen II, Maria Stuart und Wilhelm Meister.
Als Reminiszenz an die lieb gewordene Spielstätte und die Stadt Frankfurt zeigt das Theater nun zum 100-jährigen Bestehen der Halle „Ariadnes Faden, Arthurs Schwester Marie und der „ächte“ Naxos-Schmirgel“. Erscheint der Titel zunächst umständlich, handelt es sich hierbei doch nur um eine theatrale Führung durch Raum und Zeit der Frankfurter Firma Naxos-Union (stets eng verbunden mit der Inhaberfamilie Pfungst).
Der Abend besteht aus drei Teilen. Im kurzen ersten Teil, fallen die Schauspieler (wie oft beim Theater Willy Praml eine alle Altersschichten umfassende Mischung aus Profis und Laien) mit Plastikumhängen wie Besucher in die weite Halle ein und berichten von der guten Stimmung in dem ehemaligen Familienbetrieb und der Gemeinschaft untereinander („Wir wollen niemals auseinander gehen“).
Im zweiten Teil wird das Publikum in zwei Gruppen aufgeteilt und die Sitzplätze werden verlassen. Für die nächsten 1 ¾ Stunden kann sich nun jeder Zuschauer mit Hilfe eines informativen Planes durch die Halle, die Nebengebäude und das Außengelände bewegen. An fünfzehn Stationen werden in Performances von sieben- bis einundzwanzigminütiger Dauer Aspekte der Firma und der Inhaberfamilie beleuchtet. So singt Ariadne (Anneli Reichel) über das Firmenlogo. Julius Pfungst (Reinhold Behling) berichtet von seiner Ankunft 1859 in Frankfurt und über seine Ehe mit Rosette (Maria Ochs), die amüsant in Bürgermanier Friedrich Stolzes „Wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei!“ singend vorträgt. Eingebunden in das Lied sind die unternehmerischen Anfänge (mit Assistent Peter Straß), zu deren Beginn etliche Hemmnisse (wie der kostspielige Erwerb des Frankfurter Bürgerrechts)überwunden werden mussten.
Die Vielgestaltigkeit des Sohns der Eheleute, Arthur Pfungst, wurde auf vier Stationen verteilt: Arthur in Italien (Viktor Vössing), Arthur, der Poet (Johannes Chr. Maier), Arthur, der Freigeist (Tim Stegmann) und Arthur, der Buddhist (Enad Marouf als Tänzer; auch in den Teilen eins und drei). Dramatisch geht es in Yamas Reich zu, bei dem der Prolog aus Arthur Pfungsts nie aufgeführtem Stück über den brahmanichen Knaben Nacikétas von Hans Leo Kemmerzell, Emilie Stefaner und Michael Weber gespielt wird.
Arthurs Schwester, Marie Eleonore Pfungst, übernahm nach seinem Tod die Firma. Sie engagierte sich nicht nur in der Firma (Marie, die Chefin: Anja Spriestersbach) sondern auch als Frauenrechtlerin (Marie Justitia: Jeannette Schmid). Mit Aufkommen des Nationalsozialismus begann ihr Leidensweg (Marie, die Entmachtete: Birgit Heuser), sie starb 1943 entkräftet 80jährig im KZ Theresienstadt (Marie, ihr Ende: Hertha Georg). Das dunkle Kapitel der Zwangsarbeiter in der Firma wird dabei nicht ausgelassen (Polin: Irene Buresch).
Im dritten Teil geht es für das Publikum zurück auf die Sitzplätze. Die Jahre 1945 – 1989 zeigen den Aufschwung nach dem Krieg, verbunden mit mehr Sozialleistungen, Urlaub und Schlagern der 50-er und 60-er Jahre, die den Zeitgeist widerspiegeln. Das Ende der Firma am Stammsitz in der Wittelsbacher Allee hat mehrere Ursachen: Manager, Beratern, Banken, dazu sich gewandelte Märkte, die zunehmende Automatisierung und immer stärker der Preisdruck.
Am Schluss hat der Zuschauer nicht nur Industriearchitektur besichtigt, sondern auch gelernt, was es mit Ariadnes Faden, Arthurs Schwester Marie und dem „ächten“ Naxos-Schmirgel auf sich hat.
Markus Gründig, August 07