
Was ihr wollt
Dramatische Bühne Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 24. Oktober 08 (Premiere)
Vor ziemlich genau einem Jahr hatte Shakespeares „Was ihr wollt“ Premiere am schauspielfrankfurt, Corinna von Rad inszenierte die überirdische Komödie als Verwirrspiel in einem in die Jahre gekommenen Freizeitbad. Vergleicht man diese Inszenierung mit der aktuellen Inszenierung der Dramatischen Bühne, so könnte man denken, es handelt sich um zwei verschiedene Stücke, so unterschiedlich ist der interpretatorische Ansatz.
Die Dramatische Bühne verzichtet auf jegliche Dekoration und Bühne, spielt auf leerer Fläche. Nur ein paar wenige Wölkchen hoch oben vermitteln göttlichen Bezug, ein schmaler Vorhang dient sporadisch als Versteck und Schutzmauer. Ausgefallen sind dafür die Kostüme von Evi Schnatz (nach Entwürfen von Prisca Ludwig). Sei es nun Mode vom barocken Landadel oder versponnene Königstracht, das kunterbunte Sammelsurium kann frei nach des Stückes Titel interpretiert werden: man kann darin sehen, was man will. Beispielsweise edle Pracht wie bei Gräfin Olivia, militärische Korrektheit bei Cesario oder Verwegenes bei Sir Tobias Rülps. Dazu sind die Kostüme stets zweigeteilt, zwei Seelen wohnen ach in eines jeden Protagonisten Brust. Hier wurde die Doppeldeutigkeit künstlerisch verpackt: über jeweils zwei unterschiedlich geschminkte Gesichtshälften bis hin zu den Schuhen, wo jeder grundsätzlich am rechten einen anderen als am linken Fuß trägt.
Eine Dopplung gibt es auch szenischer Art. Die Darsteller spielen nicht nur real und in Echtzeit, die Handlung wird auch von aufwendig hergestellten Filmsequenzen untermauert, die auf einer großen Leinwand im Hintergrund laufen. Mit detektivischer Spürnase wird hier den Geheimnissen mal spaßig, mal ernsthaft, auf den wahren Grund gegangen, den selbst Shakespeare so klar nicht sah. Beispielsweise erfährt hier Fürst Orsinos Besessenheit bezüglich Gräfin Olivia ihre Aufdeckung, dass er nur in das Bild, das er von ihr im Kopf hatte, verliebt war, sie als Person aber gar nicht interessierte. Die Filmszenen sind mit der Handlung im Saal perfekt abgestimmt, sodass die Darsteller teilweise von der Leinwand in den Bühnenraum übertreten und so die Wahrnehmung zwischen realem und fiktivem verwischt wird.

Dramatische Bühne, Frankfurt
Orsino (Sarah Kortmann) und Fürst Orsino (Julian König)
Foto: Dramatische Bühne
Neben vielen melancholischen, nachdenklichen und besinnlichen Momenten (mit Exkursen über das Altern, der Notwendigkeit von Lügen beim Lieben, einer Liebesinvestitionsrechnung oder auch über das Regietheater ), überwiegen die lockeren, komischen und mitunter derb sexistischen Momente. Hausherr Thorsten Morawietz, der auch einen herrlich selbst überzogen Sir Thomas Rülps spielt, hat Shakespeares Vorlage für die Dramatische Bühne gekürzt und mit eigenen zeitgemäßen Texten abgerundet. Morawietzs dichterischen Geschick zu Dank, verlaufen die Übergänge kaum wahrnehmbar, quasi als hätte Shakespeare das Stück erst im Jahr 2008 geschrieben (und nicht vor über 400 Jahren).
Die Rolle des Zwillingsbruders Sebastian wurde gestrichen, ebenso folglich die des Antonio. Eine Doppelrolle hat Julian König inne, er gibt einen furchterregenden, gefühlserkalteten Orsino und zum Kontrast einen überaus lebenslustigen Malvolio. Sebastian Huther spielt einen musikalischen Sir Andrew Bleichenwang und avanciert mit seinem nachhaltigen Verlangen nach aufrichtiger Kritik zu seinem künstlerischen Vortrag zum Publikumsliebling. Armin Drogar agiert als eigenwilliger Narr. Voller Anmut und Schönheit glänzt die Gräfin Olivia der Simone Greiß, die in Sarah Kortmann (Cesario/Viola) eine ebenbürtige Mitstreiterin um das Herz der Männer hat.
Der Programmtext spricht von irrsinnige Komödiantik, Gedankenpracht und Sinneslust und das kommt gut hin: ein vergnüglicher wie anregender Abend.
Markus Gründig, Oktober 08
Leyla und Medschnun
theaterperipherie Frankfurt (in der Jugendkulturkirche Sankt Peter Frankfurt)
Besuchte Vorstellung: 18. Oktober 08 (Premiere)
Im Januar 08 startete Alexander Brill mit dem Stück „Ehrensache“ sein Theater theaterperipherie, das für migrantische und deutsche ZuschauerInnen gleichermaßen spielt und als Fortführung der bisherigen Arbeit des schüler-/lionsclub zu sehen ist.
Nun folgte das zweite Stück, das erneut in Zusammenarbeit mit dem schauspielfankfurt entstand und einen Teil des offiziellen Programms der Frankfurter Buchmesse 2008 bildete. Denn dieses Jahr war die Türkei Ehrengast der Frankfurter Buchmesse und so bot es sich an, ein Stück aus dieser Gegend zu inszenieren. Gegend deshalb, weil Leyla und Medschnun nicht explizit ein türkisches Stück ist. Es beruht auf dem gleichnamigen Romanen von Nizami (Persien, 12. Jh.n.Chr.) und Fuzuli (Türkei, 16. Jh.n.Chr.), die wiederum auf einer alten orientalischen Sage beruhen. Leyla und Medschnun bilden eine Art Äquivalent zu Romeo und Julia: die Liebe eines jungen Paares, die nicht sein darf und deren Geschichte deshalb tragisch endet.
Alexander Brill inszenierte nicht nur das Stück, er schrieb auch eine moderne Textfassung, die zwischen Versmaß und aktueller Jugendsprache pendelt, überwiegend in deutsch. Brill kombinierte das Ganze mit musikalischen Einlagen, die zwischen Pop, deutschem Rap und türkischen Volksweisen wechseln. Dabei arbeitete er mit jungen Schauspielern, die dem Stück entsprechend, alle einen migrantischen Hintergrund haben, die sozusagen von der Peripherie her kommen.

theaterperipherie, Frankfurt
Nufoual freundet sich mit Medschnun an (v.l.n.r.: Duran Özer, Ilyas Kariouh, Asif Hussain, Hadi Khanjanpour & Hadi El-Harake)
Foto: Seweryn
Auf der Raum beherrschenden Bühne in der Jugendkulturkirche Sankt Peter sind diese Darsteller alles andere als an der Peripherie. Hier spielen sie sich lustvoll in den Mittelpunkt.
Die Bühne besteht aus drei Teilen: einer großen Spielfläche mit Bistrotischen und Stühlen an einem Ende (für das Leben Zuhause, in der Schule, im Café und beim Geistlichen), einem Gerüst am anderen Ende (als imaginärer Berg und intimer Rückzugsort). Verbunden sind diese Spielflächen mit einem langen Steg, das Publikum sitzt jeweils in lediglich drei Reihen seitlich zu diesem Steg.
Vom ersten bis zum letzten Augenblick der Aufführung fesseln die jungen Laiendarsteller, die oftmals auch Doppelrollen spielen. Dabei legen sie auch artistisches Geschick an den Tag, wie der Rad schlagende Duran Özer, singen, tanzen, sind Mensch und Tier. Eine besondere Note erfährt die Inszenierung durch den Liebesboten Zeid, den der behinderte Tolga Tekin voller Intensität gibt.
Der patriarchalischen Ordnung entsprechen, überwiegen hier die Männer, die von Nadja Kaster in heutige Businessanzüge gesteckt wurden. Sie sind die Akteure, die Drahtzieher, Anstifter, Kämpfer und stummen Brettspieler (Arasch Farugie, Hadi El-Harake, Asif Hussain, Ilyas Kariouh). Dass die Frauen in diesem System durchaus ihren Mann stehen beweist Marzieh Alivirdi als Erzählerin, die das tragische Geschehen mit anzüchtigen Geschichten zu ergänzen weiß (Marzieh Alivirdi ist neben Arasch Farugie, Hadi Khanjanpour und Ilyas Kariouh derzeit auch in Die Kleinbürgerhochzeit zu erleben). Auch die Leyla der Deniz Kezer ist mehr als eine stumme Befehlsempfängerin, auch wenn sie lange Zeit eingeschlossen bleibt. Zwischen tauber Verliebtheit und wilden Sturm und Drang schwankend, besticht Hadi Khanjanpour als Kays/Medschnun.
Alexander Brill erzählt nicht nur die Geschichte von Leyla und dem über die Liebe verrückt gewordenen Kays, er stellt nebenbei auch Werte (nicht nur die von patriarchalischen Gesellschaften) und unser Denken über Kanaken zur Disposition. Das ganze erfolgt Dank dem beherzten und leidenschaftliche Spiel auf eine selbstverständliche Weise, die bezeichnend für das Zusammenleben der Multikulturen in Frankfurt ist.
Markus Gründig, Oktober 08
Die Kleinbürgerhochzeit
schauspielfrankfurt, lionsclub
Besuchte Vorstellung: 26. September 08 (Premiere)
„Warum sich plagen, dass schlägt doch auf den Magen“
Seit 1984 gibt es den lionsclub (vormals Schülerclub) unter der Leitung von Alexander Brill am schauspielfankfurt. 25 Jahre werden es nächstes Jahr sein. Ein Grund zum Feiern also und doch wird es zum Ende der laufenden Saison einen großen Schnitt geben: Die Ära des lionsclub in seiner jetzigen Form wird nicht fortgeführt. Alexander Brill wird jedoch mit dem bereits im Frühjahr gegründeten Theater theaterperipherie weiterhin in Frankfurt außergewöhnliche Theaterprojekte realisieren.
In der Saison 1985/86 inszenierte Brill schon einmal die Kleinbürgerhochzeit, Brechts frühen Einakter um die Rituale einer bürgerlichen Hochzeitsfeier, die vollkommen aus den Fugen gerät und im Streit und Chaos endet (das Stück hatte 1926 auch seine Uraufführung am schauspielfrankfurt). Die aktuelle Neuinszenierung trägt nun den gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung: Brill zeigt die Familiengroteske als Multikulti-Spektakel einer binationalen Ehe mit deutscher Braut und türkischen Bräutigam. Die Darsteller stammen aus Deutschland, Marokko, der Türkei und aus Afghanistan. Die Probleme der Familien sind aktuell wie eh und je. Aus gepflegter Konversation entwickeln sich spitze Anmerkungen und mit steigendem Alkoholgenuss wird auf Konventionen keine Rücksicht mehr genommen. Die Fetzen fliegen, Kleidungsstücke werden zerrissen und fast das ganze Mobiliar zertrümmert.

schauspielfrankfurt, lionsclub
Ensemble
Foto: Alexander Paul Englert ~ englert-fotografie.de
Alexander Brill zeichnet nicht nur für die Regie, sondern auch für das Bühnenbild verantwortlich: ein heller, kühler Wohnraum mit großer Tafel, Sofa, Schrank, TV-Gerät und einem Strauß roter Rosen. Hinter einem Fenster sieht man groß eine Straßenlaterne, seltsame Figuren (wie ein Mann im Morgenmantel, eine Fummeltrine oder Neonazi) laufen draußen vorbei. Muss ein seltsames Viertel sein, in dem diese Wohnung liegt.
Musik darf auf einer Hochzeitsfeier nicht fehlen und so sorgt ein Alleinunterhalter (Günter Lehr) für stimmungsvolle, zum Teil kontrastierende, musikalische Einlagen zwischen deutschem Liedgut und orientalischen Klängen. Das macht er mit so viel nervtötenden Weisheiten (wie: „Warum sich plagen, dass schlägt doch auf den Magen“), dass auch er mundtot gemacht wird.
Für eine authentische Problemdarstellung wird während der Aufführung immer wieder türkisch gesprochen. Das verstehen freilich nur wenige Zuschauer wörtlich, aus der Situation heraus lässt sich das Gesprochene meist auch so entziffern.
Unter dem spielfreudigen Ensemble sticht Anja Arncken als Braut am stärksten hervor. Wie sie versucht, die drohende Katastrophe aufzuhalten, wie sie leidet und verzweifelt und dennoch ihre innere Stärke behält, das macht sie sehr gut. Sehr souverän gibt Christoph Busch den etwas peinlichen, senilen Brautvater, der mit allgemeinen, pointenlosen Geschichten ablenken will und dabei doch nur zusätzliches Öl ins Feuer gießt. Mit viel Herzenswärme, aber ohne Bezug zur Braut: die Mutter des Bräutigams (Marzieh Alivirdi), die es partout nicht einsieht, sich dem deutschen „zum Wohle“ anzuschließen und bei ihrem „Salamati“ verhaftet. Als intrigante Zimtzicke sorgt die Freundin der Braut (schön böse: Janine Maschinsky) für den meisten Aufruhr.
Brill lässt die Darsteller in der auf eine gute Stunde gekürzte Aufführung sich hemmungslos austoben (wobei ein Schutzzaun vor grünem Rasen dafür sorgt, dass umherfliegende Möbelteile die Zuschauer nicht treffen), so dass der Abend mehr einem belustigendem Spektakel gleicht. Am Ende ist nichts mehr so wie es anfangs war und doch steckt in diesem reinigenden Chaos der Keim für eine nunmehr glückliche Beziehung.
Markus Gründig, September 08
Amphitryon
schauspielfrankfurt
Besuchte Vorstellung: 19. September 08 (Premiere)
Auf der Suche nach dem Ich
Auch ohne große Kenntnis der griechischen Mythologie ist die Geschichte von Amphitryon, die als der Klassiker unter den Verwechslungskomödien gilt, gut zu verstehen. Bereits der römische Dichter Plautus (um 254 – 184 v. Chr.) erzählte von ihr (und ergänzte sie um die Geschichte der Diener Soasis und Mercurius), viele weitere Bearbeitungen dieses Stoffes folgten, geht es doch um die stets aktuellen wie universellen Themen Treue und beharrliche Liebe, um unbeabsichtigte Untreue und erschlichene Gunst: beste Zutaten für ein frivoles Stück. Molières Fassung davon wurde 1668 in Paris uraufgeführt. Heinrich von Kleist wollte diese Version ursprünglich nur übersetzen, entschied sich dann aber für eine Weiterbearbeitung, indem er der Tragik Alkmenes stärkeres Gewicht verlieh und die Komik überwiegend auf die Nebenrollen verlagerte.

schauspielfrankfurt
Jupiter (Aljoscha Stadelmann) und Alkmene (Sabine Waibel)
Foto: Alexander Paul Englert ~ englert-fotografie.de
Am schauspielfrankfurt ist in der Interpretation von Florian Fiedler nun, nach einem musikalischen und effektvollen Auftakt, eine nachdenklich stimmende und nahezu mit poetischer Feder geführte Aufführung zu erleben.
Erhöhte und zentrale Figur bei Kleist ist Alkmene, Amphitryons Frau, die nach überirdischen Wonnen in ein großes Martyrium aus Verwirrung und Zweifel stürzt. Sabine Weibel lotet alle Tiefen dieser Figur aus, stets schwankend zwischen Verklärung und Desillusion: Die Liebe, ist sie nun real oder nur ein Traum? Ist der Traum von der Liebe größer als die Liebe zu einem Menschen je sein kann? Was tun, wenn selbst das Gefühl als Mittel der Erkenntnis versagt?
Initiator aller Verwirrung ist Jupiter, der in der Erscheinung des Amphitryon der Alkmene erscheint. Beide Rollen werden vom Vollblutschauspieler Aljoscha Stadelmann mit gewohnt ganzer Hingabe verkörpert. Jupiter charmant und sanftmütig, Amphitryon verzweifelt und aufbrausend.
Für Possen sorgt der ehrliche Gesell Soasis, den vortrefflich tölpelhaft Sebastian Schindegger gibt, schonungslos nicht nur die rechte und die linke Backe hin haltend. Mit fast pantomimischen Geschick will Soasis bei der eröffnenden Nachtszene mit seiner „Laterne“ ein Licht einfangen. Doch es gelingt ihm nicht, er stolpert und fällt, nicht nur bei der Suche nach dem Licht, sondern auch später bei der Suche nach seinem verlorenem Ich („Der eine macht mich zum Teufel, der andre mich zum Gott? – Ich bin der alte, wohlbekannte Esel Sosias!“). Merkur (Christian Kuchenbuch) treibt ihn nahezu an den Rand des Wahnsinns. Auch seine Gattin Charis (mit beherztem Spiel: Julia Penner) sorgt dafür, dass er seinen Verstand mehr und mehr in Frage stellt.
Eingerahmt und ergänzt ist das tragische Lustspiel von musikalischen Einlagen, die live von Martin Engelbach und Frank Wulff, teilweise unterstützt vom kleinen Chor der Darsteller, von der Bühnenseite her gespielt werden. Dabei sorgen zarte Kuscheltöne und aggressive laute Töne für eine stimmungsvolle Untermalung.
Hervorragend ist auch die Optik des Bühnenbilds von Maria-Alice Bahra gelungen. Zunächst wird vor dem Schloß des Amphitryon, einer Wand von aufgestapelten Schaumstoffmatratzen, gespielt. Die Wand kippt dann nach hinten um und gibt den Blick frei ins Innere: eine große „Spielfläche“, eingerahmt von herrschaftlich wirkenden, weißen, durchsichtigen Vorhängen. Der Boden aus Schaumstoff ist gefährlich, bietet keinen festen Grund unter den Füßen, so sinken die Darsteller immer wieder ein, geraten ins Stolpern und Straucheln, ganz so wie die Figuren, die sie verkörpern. Eine dezente und effektvolle Beleuchtung (Jan Walther), wie bei herab fallenden rosafarbenen Blättern oder einer rot-blauen Liebesszenen, verstärkt die starken visuellen Eindrücke.
Fiedler bietet keine Lösungen für die Suche nach dem wahren Ich, genauso wenig wie Kleist, Molière oder Plautus. Dennoch ist der neue Frankfurter Amphitryon ein überaus besinnlicher wie beschwingter Theaterabend, anregend zum Nachdenken über das eigene Ich im Wechselspiel mit dem geliebten Gegenüber.
Markus Gründig, September 08
Gaslight
English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 13. September 08 (Premiere)
Ein fesselnder Thriller
Einen „very british evening“ versprach Daniel John Nicolai, Intendant des English Theatre Frankfurt, vor Beginn der Eröffnungspremiere zur neuen Spielzeit, die mit Patrick Hamiltons 1938 uraufgeführtem Kriminalstück „Gaslight“ eröffnet wurde. Und das Versprechen wurde eingehalten: britisch der Autor, der Regisseur, die Darsteller (mit akzentfreier Aussprache) und die dargebotenen dunklen Seiten einer Ehe. Düstere Töne in Moll, die auch zu einer Edgar Allen Poe Schauererzählung passen würden, ertönen aus den Lautsprechern, während der Vorhang auffährt und den Blick auf ein vornehmes Wohnzimmer im Stil des viktorianischen England vom ausgehenden 19. Jahrhundert frei gibt. Terence Parsons Bühnenbild vermittelt eine perfekte Illusion, bedenkt man allein die begrenzte Fläche (vertikal wie horizontal) der kleinen Bühne im English Theatre. Die hohen Wände des Wohnzimmers tragen eine weinrote Tapete, drei Gaslampen erhellen den Raum, der lediglich ein Fenster hat, das zudem überwiegend mit einer Jalousie verdunkelt ist: besser ließe sich die düster und bedrohlich wirkende Grundstimmung in diesem Haus nicht darstellen. Die Gaslampen spielen einen zudem eine ganz besondere Rolle in diesem Thriller. Weltbekannt wurde „Gaslight“ durch die Verfilmung im Jahr 1944, mit Ingrid Bergmann in der Rolle der Paula Alquist.
Die Handlung spielt zu einer Zeit, in der die Rolle der Frau von Emanzipation und Wahlrecht noch weit entfernt war und der Herr des Hauses vom Dienstpersonal noch mit „Master“ angeredet wurde. Letzterer herrscht in „Gaslight“ nicht nur über das Personal, sondern auch über seine jüngere Ehefrau, die hier eine zunehmend verunsicherte, verängstigte und beinahe um ihren Verstand gebrachte, liebenswerte Dame aus wohlhabenden Kreisen ist.

English Theatre Frankfurt
Mr. Manningham (Robin Kermode), Mrs. Manningham (Caitlin Shannon) und Nancy (Mia Austen)
Foto: Bärbel Högner
Das Stück wurde für die Aufführung am English Theatre von drei auf zwei kommode Akte gekürzt. Regisseur Tim Hardy, in der vergangenen Saison mit Sonja Kraus in „A Picasso“ noch selber auf der Bühne des English Theatre Frankfurt, fächert von der ersten Minute an eine fesselnde Geschichte auf, die sich von Minute zu Minute zuspitzt und die Zuschauer bis zur großen Finalszene von Mrs. Manningham in Atem hält.
Caitlin Shannon verleiht der, selbst vor dem Personal bloß gestellten, Mrs. Manningham ein äußerst intensives Profil: leidend in Ihrer Verzweiflung und hoffnungsvoll fröhlich aufblühend, beispielsweise über den in Aussicht gestellten Theaterbesuch. Robin Kermode gibt einen großartigen zwielichtigen Mr. Manningham, schwankend zwischen liebevoller Fürsorge und einen egoistischen, abgründigen Schurken. Dazwischen reiht sich Roger Forbes als Inspektor a.D. Rough charmant und humorvoll ein. In weiteren Rollen gefallen Sarah Simpkins (Elizabeth) und Mia Austen (Nancy).
Vom famosen Ende der Geschichte sei an dieser Stelle nichts verraten, dies gilt es bis zum 9. November 08 im English Theatre Frankfurt selber zu erfahren.
Markus Gründig, September 08
Zum Teufel mit Goethe!
schauspielfrankfurt
Besuchte Vorstellung: 7. September 08
Vier Engel für Johann Wolfgang
Spiel, Spaß und Überraschung: das Kinder-Überraschungsei bietet drei in eins. Mit hingebungsvollem Spiel, köstlichem Spaß und singenden Schauspielern in völlig neuen Rollen beglückt Dietmar Löfflers neuer „Liederabend“ am schauspielfrankfurt das Publikum. Für das, was Löffler damit geschaffen hat, ist es schwer, eine passende Umschreibung zu finden, „Liederabend“ ist viel zu wenig. Ist der Abend mehr eine Show, ein Musical oder gar eine Revue? Einerlei, es ist ein „Goethe Update“, das weniger als ein Goethe-Light Abend bietet und doch eine augenzwinkernde Hommage an ihn ist. Der Titel des Stücks schickt den Dichterfürsten von vornherein in den Untergrund und statt hochanspruchsvoller Kultur gibt es locker, flockige Unbeschwertheit zum goutieren. Erquicklich und heiter ist der Abend für die Zuschauer, für die es selbst nach drei Zugaben noch endlos weiter gehen könnte. Anspruchsvoll und fordernd ist der Abend für die Darsteller, die mit größter Leidenschaft und Konzentration den schwierigen Grad zwischen äußerlicher Darstellung und innerlichem Befinden bewältigen, sängerisch als Solisten und im Chor glänzen (souverän am Klavier von Dietmar Loeffler begleitet oder acapella).

schauspielfrankfurt
Rupert “Bubi” Beltz (Stefko Hanushevsky), im Hintergrund v.l.n.r.: Margit Löschdörfer (Sandra Bayrhammer), Carla Gräfin von Diesel (Susanne Buchenberger), Christina Fux (Anita Iselin) und Elisa Splenditizio (Sascha Maria Icks)
Foto: Alexander Paul Englert ~ englert-fotografie.de
Multitalent Stefko Hanushevsky eröffnet (kaum wieder zu erkennen: mit Schnauzer, Koteletten, verstärkten Augenbraunen und zartem Kinnbart) als italienischer Herzensbrecher und TV-Moderator mit einem schwungvollen Medley mit Lokalkolorit aus „There’s no business like showbusiness“ (aus „Annie Get Your Gun“) und „New York, New York“ (aus dem gleichnamigen Film) diese außergewöhnliche Castingshow. Schließlich kann sich auch die Kultur nicht marktwirtschaftlichen Prinzipien verweigern. Das Casting findet im Fernsehstudio von GoTV statt, das Florian Parbs zweckmäßig mit Podium, Sesseln, Flatscreens und einem Flügel ausgestattet hat. Die vier Kandidatinnen um den Posten der Goethe-Institut Leiterin stehen ihm bezüglich ihrer Individualität in nichts nach. Sandra Bayrhammer vertritt als leicht spinnernde Hebamme Margit Löschdörfer im Hippi-Look (Blumenkleid und lange rot-braune Haare) die sozio-öko-Frauenfraktion, Susanne Buchenberger als Hirse anbauende Carla Gräfin von Kiesel (mit Hillary-Frisur und im konservativen Business-Kostüm) die Geschäftswelt, Sascha Maria Icks gibt mit eleganter Haarmähne im sandfarbenen Hosenanzug eine kämpferische Krisenjournalistin Elisa Splenditizio und Anita Iselin mit Lockenpracht im roten Kleid die leichtfüßige Discoqueen und Hygienefachfrau Christina Fux.
Der typgerecht ausgewählte Strauß bunter Lieder, die geschickt in die triviale Geschichte eingefügten wurden, spannt einen Bogen vom Musical (mit z.B. „All that Jazz“ aus „Chicago“ und „Hopelessly Devoted to You“ aus „Grease“) zum Pop (wie mit John Lennons „Imagine“ und Whitney Houstons „Saving all my love“). Doch auch klassische Lieder fehlen nicht ganz. Wenn sie mitunter auch mit viel Liebe zum Detail genial aufgepimpt wurden, wie bei der Aufgabe an die Bewerberinnen, jeweils Schuberts Vertonung von Goethes „Heideröslein“ zu interpretieren. Dies erfolgt mit Speer und Massai-Takten auf afrikanisch, besinnlich auf japanisch und prickelnd erotisch auf spanisch: allesamt wunderbare Bearbeitungen von Dietmar Loeffler. Berührende Momente gibt es auch. Eingeleitet von einer unter die Haut gehenden Darbietung von Eminems „Lose Yourself“ („Bubi“/Hanushevsky) müssen die Bewerberinnen vor dem Showdown ihre echten, tiefen Gefühle für Goethe offenbaren, was ihnen mit sinnlichen, liebessehnsüchtigen und innigen Interpretationen bestens glückt, allen voran Elisa/Icks mit „Meine Ruh ist hin (F. Schuberts „Gretchen am Spinnrad“)..
Markus Gründig, September 08
Torquato Tasso
schauspiel frankfurt
Besuchte Vorstellung: 28. August 08 (Premiere)
Johann Wolfgang Goethe hat in seiner Geburtsstadt Frankfurt/Main längst nicht den Rang, der ihm eigentlich zustehen sollte. Trotz Goethehaus und Goethemuseum ist der Dichterfürst im Bewusstsein vieler Frankfurter nur einer von vielen Klassikern, nicht aber „ihr“ Goethe. Dies zu ändern, ist Aufgabe der im vergangenen Jahr mit einem „Opener“ begonnenen Festwoche „goetheffm“, die auf Initiative von Schauspielintendantin Dr. Elisabeth Schweeger beruht.
An Goethes Geburtstag wurde die diesjährige „goetheffm“-Festwoche eröffnet, das schauspielfrankfurt präsentierte dazu Goethes Künstlerdrama „Torquato Tasso“ im Großen Haus. Regie führte Urs Troller, der am schauspielfrankfurt bereits im Kleinen Haus eindrucksvoll die Stücke „Quartett“ und „Medea“ inszeniert hat.
Wahrscheinlich hätte „Torquato Tasso“ auch besser ins Kleine Haus gepasst. Denn die Geschichte des stets sich hinterfragenden, wankelmütigen Torquato Tasso ist kein großes Drama. Goethe arbeite zehn Jahre daran und die Uraufführung erfolgte gar erst 17 Jahre nach der Fertigstellung. Trotz leidenschaftlicher Momente und ungezähmter Gefühlsausbrechungen berührt das in Versform und mit einigen Sprechpausen aufgeführte Stück kaum, zu fern bleiben die Figuren vom heutigen Leben.

schauspiel frankfurt
Torquato Tasso (Bert Tischendorf) und Leonore Sanvitale (Friederike Kammer)
Foto: AlexanderPaul Englert ~ englert-fotografie.de
Dabei hat Bühnenbildnerin Stefanie Wilhelm eine „Brücke“ zwischen Bühne und Zuschauerraum geschaffen. Gespielt wird auf einer großflächigen, einem Tablett ähnelnden, Podestfläche, die schräg stehend in den Zuschauerraum hinein ragt. Zusätzlich kippt diese Fläche nach vorne ab und verdeutlicht, dass die Welt im Lustschloss Belriguardo aus den Fugen geraten ist. Der lediglich durch eine, im warmen beige gehaltene, Wand begrenzte Einheitsraum an sich ist abstrakt und zeitlos. Der Boden ist mit weißen Tüchern abgedeckt, auf dem pastellfarbene Manuskriptblätter für des Künstlers Verdrossenheit über seinen Werk liegen. Ein langer Metalltisch (mit einem roten Bein), zwei Stühle und zwei farbige Büsten bilden die einzigen Requisiten für die fünf (gekürzten) Akte.
Die fünf Protagonisten (in moderner Geschäfts- und Abendkleidung, Kostüme: Katharina Weißenborn) spielen intensiv, allen voran Bert Tischendorf in der Hauptrolle des in sich zerrissenen, jammernden, fluchenden und sich fragenden Torquato Tasso. Für Tischendorf (Jahrgang 1979) ist es die bisher größte Rolle am schauspielfrankfurt, die er mit Bravour meistert. Hervorragend ist auch seine klare Artikulation und sein enormer, fast schon sportlicher, Körpereinsatz. Vielleicht ergeht es ihm wie seiner Kollegin Anne Müller, die jetzt als beste Nachwuchsschauspielerin ausgezeichnet wurde, das Können dazu, hat er allemal.
Mit souveränen Spiel gefallen die anderen vier Darsteller: Joachim Nimtz als bodenständiger Alfons, Ruth Marie Kröger als aufbrausende Leonore von Este, Friederike Kammer als sinnlich, verführerische Leonore Sanvitale und Oliver Kraushaar als Vernunftmensch und Staatssekretär Antonio.
Markus Gründig, August 08
Romeo and Juliet
English Theatre Frankfurt, Drama Club
Besuchte Vorstellung: 10. Juni 08 (Premiere)
Kaum ein Liebespaar ist so bekannt wie Romeo und Julia. Shakespeares Liebestragödie (basierend auf Arthur Brooks „The Tragicall Historye of Romeus and Juliet“ von 1562) wird nicht nur als Theater, sondern auch als Oper, Ballett und Musical immer wieder gerne gespielt, nicht zu vergessen sind die vielen Verfilmungen. Beim (subventionierten) Regietheaterbetrieb ist man bemüht, das Stück zeitgemäß zu vermitteln und auf seine aktuellen Bezüge hin zu hinterfragen. Dabei kommen das Publikum und die Kritiker durchaus zu differierenden Urteilen, wie beispielsweise bei Sebastian Hartmanns viel diskutierter „Romeo und Julia“ Inszenierung im Wiener Burgtheater (vom September 07).
Michael Gonszar, Leiter des Drama Clubs und Regisseur der Inszenierung, wählte mit dem Bühnenbildner Michael Neitzert für die Produktion am English Theatre Frankfurt geschickt einen salomonischen Weg, der Geschichte von bedingungsloser Liebe einen zeitgemäßen Rahmen zu geben und dennoch ganz bei Shakespeare zu bleiben. So spielt ihr „Romeo and Juliet“ nicht im Verona der Frührenaissance, sondern in einer vom Bürgerkrieg gezeichneten Stadt im Nahen Osten. Zur Darstellung der zerstrittenen Familienwelten symbolisieren die Capulets eine moderne und prowestliche, die Montagues eine orthodoxe Haltung (entsprechend wurden sie von Poh Yin Eng eingekleidet). Der Riss zwischen diesen Familien wird auch optisch in Form eines Metallzauns mit Stacheldraht deutlich, der die Bühne teilt. Es herrscht eine bedrohliche, fast apokalyptische Atmosphäre (mit einleitenden Maschinengewehrsalven zu Beginn und nach der Pause). Die einstige Pracht der Familienpaläste ist nur noch zu erahnen, jetzt sind sie zerbombt und Betonblöcke beherrschen die Szenerie. Der Clou der Inszenierung ist, dass sich inmitten dieses imaginären Kriegsgebietes (sei es nun der Libanon oder der Irak), dieses liebes- und lebensfeindlichen Raums, sich dennoch Liebe und Erotik finden.

English Theatre Frankfurt Drama Club
Romeo (Benjamin Spieler) und Juliet (Julia Schade)
Foto: English Theatre Frankfurt
Gonszar hat den nicht gerade leichten Shakespearetext mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen außerordentlich gewissenhaft herausgearbeitet, ohne ihm seine Eigenheit zu nehmen. Dies erfordert natürlich im Gegenzug ein sehr konzentriertes Zuhören, doch damit haben die vielen jugendlichen Besucher bei der Premiere kein Problem. Die knapp dreistündige Aufführung wird nahezu atemlos verfolgt. Mit Julia Schade als Juliet und Benjamin Spieler als Romeo hat Gonszar zudem zwei talentierte Nachwuchsschauspieler gewonnen. Julia Schade gibt eine starke, leidenschaftliche Julia, die ihre innere Not und Verzweiflung intensiv nach außen kehren kann. Benjamin Spieler, mit kräftiger Stimme und sicherer Intonation, gibt einen nahezu unbekümmerten Romeo, dies so sehr, dass es mitunter schwer fällt, ihm die tiefe Bedeutung seiner Wörter auch tatsächlich abzunehmen. So ergänzen sich die beiden wunderbar. Großen Zuspruch aus dem Publikum erhielten vor allem Sharon Frese als liebenswürdige, aufgeschlossene und neugierige Nurse, sowie Alan Mc Nulty als treuer Friar Laurence.
Tanzszenen (Choreografie Helen Balfour) und Stockkämpfe (anstelle der typischen Degenkämpfe; Training: Annette Bauer) sorgen immer wieder für willkommene Unterbrechungen und Überleitungen.
So bietet die Inszenierung des Drama Clubs eine gründliche Auseinandersetzung mit Shakespeares Frühwerk. Einziger Wermutstropfen: alle Aufführungen sind bereits ausverkauft.
Markus Gründig, Juni 08
Retten Sie mich! Reden Sie! Irgendwas! Ein Čechov-Abend
schauspielfrankfurt
Besuchte Vorstellung: 19. April 08 (Premiere)
Karin Neuhäuser ist eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Am schauspielfrankfurt feierte Sie Triumphe als Schauspielerin (Grete in Schwabs „Präsidentinnen“ oder als Mrs. Peachum in Brechts „Die Dreigroschenoper“) und als Regisseurin (Lessings „Nathan der Weise“ und vor allem mit Aischylos „Orestie“). Für Ihre neuste Regiearbeit wollte sie nicht nur weg von einem vorgegebenen Stück, sondern auch einmal den Blick auf gesellschaftliche Randfiguren lenken. Fündig wurde sie bei Anton ČCechov, der vor allem durch seine Bühnenwerke „Die Möwe“, „Onkel Wanja“ und „Der Kirschgarten“ bekannt ist. Aus diesen, wie auch aus seinen Erzählungen und Briefen destillierte Karin Neuhäuser für ihren Abend „Retten Sie mich! Reden Sie! Irgendwas!“ einzelne Sätze und Fragmente. Sie fügte sie nicht zu einer neuen Geschichte zusammen und so gibt es, ebenso wenig wie bei ČCechov, gar einen dramatischen Konflikt. Die Schauspieler haben keine Rollennamen, sind nur Typen: russische Charaktere, wie sie aus Tschechows Stücken bekannt sind. Trotz Fehlen einer durch gehenden Handlung gelang Neuhäuser mit diesen Zitaten-Potpourri ein kurzweiliges Portrait, das die schwermütige russische Seele am Main aufleben lässt.

schauspielfrankfurt
Ensemble
Foto: Alexander Paul Englert ~ englert-fotografie.de
Gespielt wird auf der Bühne des großen Haus, das Publikum sitzt hufeisenförmig um die Drehbühne herum (d.h. nicht im Zuschauerraum; Bühne und Kostüme: Franz Lehr). Die Drehbühne (Durchmesser 15,7 m) ist zunächst mit einem Gestrüpp aus Reisig eingezäunt, das als großer Kranz von der Decke herabhängt. Um dieses Gestrüpp, aus dessen dunklem Inneren nichts nach draußen dringt und das ein wenig an die raue Landschaft der Taiga erinnert, marschieren zu Beginn neun singende Kinder. Die Mädchen tragen weiße Röcken, die Buben kurze schwarze Hosen, alle tragen Stiefel, Pelzjacken und Pelzmützen (ähnlich sind später auch die Erwachsenen gekleidet). Schließlich taucht ein Mann im langen Pelzmantel auf (Thomas Schweiberer), er erzählt erst von den Weiten und Rätseln den Weltalls, kommt dann über unsere Galaxie zur Erde: trotz Wissenschaft und Fortschritts: letztlich wissen wir nichts.
Eine wohlhabende, elegant gekleidete Frau (Friederike Kammer) mit Hündchen erscheint und fragt sich, warum die Menschen sich das Leben so schwer machen („Du fragst, was ist das Leben? Das ist, als würde man fragen: was ist eine Mohrrübe? Eine Mohrrübe ist eine Mohrrübe. Mehr ist dazu nicht zu sagen.“). Mit einem lauten „Kikeriki“ wird es nun auch innerhalb des eingezäunten Kreises heller und Leben erwacht. Zunächst schemenhaft, dann immer deutlicher, ist ein Ansammlung von Rollstühlen und ihrer Besitzer zu erkennen. Sie verlassen die Mitte und wenden sich der Außenwelt zu, sprechen diese aus der Entfernung an, wie beispielsweise unverkennbar mit ihren roten Strumpfhosen und ihrem Bund roter Rosen: die Liebende (“Nina”, Anne Müller). Neben dem Erzähler sind es neun Personen, neun Figuren ČCechovs, die wechselseitig Zitate intensiv spielend vermitteln (neben den bereits erwähnten Frauen: als Wissenschaftler und Autor: Rainer Frank, als gelangweilter Student: Martin Butzke, als Desillusionierter: Özgür Karadeniz, als nervöser Edelmann: Falilou Seck, als alkoholsüchtige Wienerin: Sandra Bayrhamer, als Naturliebhaberin: Abak Safeid-Rad). Sie reden überwiegend in Monologen, agieren aber dennoch miteinander,. So fahren sie mit ihren Rollstühlen entgegen der Bewegung der Drehbühne (als Bild für rasenden Stillstand), lauschen gemeinsam einem entfernten Blockflötenspiel (im eigentlichen Zuschauerraum) und bestaunen dort an die 100 aus den Sitzreihen emporsteigende Luftballons.
Doch wie der Titel des Abends schon verdeutlicht, Hilfe suchen sie bei den anderen, nicht bei sich selbst. Und so bleiben sie das, was sie immer waren: einsam in ihren jeweiligen Nöten und hungernd nach Liebe und Anerkennung, getreu dem Motto „Eine Krise kann jeder Idiot erleben, aber was uns auslaugt, das ist der Alltag“.
Markus Gründig, April 08
Sonny Boys
schauspielfrankfurt
Besuchte Vorstellung: 20. März 08 (Premiere)
Im sonst nüchternen Foyer sorgen rote Teppiche die in den Zuschauerraum führen und vier Scheinwerfer die vom Boden aus hoch in die Decke leuchten, bereits für ein wenig Glamour. Dagegen ist die Bühne nahezu leer und dunkel. Das bleibt, bis auf ein großes Show-Werbetransparent, auch währen der gesamten Aufführung so.
In der Bühnenmitte sitzt ein Mann auf einem Stuhl, nur von der Seite fällt Licht auf ihn. So sitzt er da, guckt eigensinnig vor sich hin, wartet und fröstelt. Es ist Willie Clark (Wolfgang Gortz), die eine Hälfte der beiden legendären Sonny Boys. Doch er ist nicht einsam, sein Neffe Ben (Mathias Max Herrmann) schaut regelmäßig nach ihm und schließlich taucht nach über zehn Jahren auch die andere Hälfte der Sonny Boys, Al Lewis (Heiner Stadelmann), auf und nach einer reiflich komischen Widerannäherung der beiden, nimmt die Geschichte gar ein frohes Ende.
Neil Simon, 1927 in New York geboren, gilt als der erfolgreichste und populärsten Broadway-Autor aller Zeiten. Er besitzt ein ausgezeichnetes Gespür für die Alltagsprobleme und die größeren und/oder kleineren Marotten seiner Landsleute. So auch in der bereits 1972 uraufgeführten Komödie „Sonny Boys“ (Originaltitel: „The Sunshine Boys“, u.a. 1975 verfilmt mit Walter Matthau und George Burns).

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Willie Clark (Wolfgang Gortz), AI Lewis (Heiner Stadelmann) und Ben Silverman (Mathias Max Hermann)
Foto: Alexander Paul Englert ~ englert-fotografie.de
Für den Zuschauer, ob alt oder jung, bietet dieses Stück höchst amüsante Augenblicke, mit reichlich trockenem Humor und Sarkasmus. Wobei auch melancholische Momente nicht fehlen, schließlich ist alt werden auch mit Problemen verbunden. Das Gedächtnis lässt nach, der Publikumsgeschmack wandelt sich, die Bereitschaft sich auf etwas Neues einzulassen sinkt…
Regisseur Christian Hockenbrink (Jahrgang 1975) hat für diese Inszenierung die zwei Akte zu pausenlosen 90 Minuten zusammengefasst (verzichtet dabei auf die Rollen der Krankenschwester und des Regieassistenten und auf den „Doktor-Sketch“). Er konzentriert sich ganz auf die tragisch-komischen Hauptfiguren, die von Wolfgang Gortz und Heiner Stadelmann als anmutige ältere Herren mit viel Würde und Stolz verkörpert werden. Zusammengerechnet stehen die beiden seit 95 Jahren erfolgreich auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Sie bieten keine oberflächige Effekthascherei, sondern mit viel Gefühl eine nahezu poetische Darbietung über die Veränderungen im Leben und am eigenen Körper, die früher oder später auf jeden zukommen werden. Mathias Max Herrmann fügt sich als Neffe und Agent dem Spiel der Alten dezent an.
Miriam Busch (Bühne und Kostüme) hat die Sonny Boys in gleiche elegante schwarze Anzüge mit Melone gesteckt, so verkörpern sie auch optisch den Glanz, der sie einst umgeben hat.
Letztlich waren es Kleinigkeiten, die für die Trennung gesorgt haben. Das, was an dem anderen gestört hat wurde nie ausgesprochen und so wuchs über die Jahre die Missstimmung an. Am Ende haben sie es geschafft, ihre Animositäten auszusprechen und müssen selbst darüber lachen. Der Weg für einen gemeinsamen Neuanfang ist offen. Möge es jedem im richtigen Leben genauso ergehen.
Markus Gründig, März 08