Premiere ohne Publikum: »Der Trafikant« am Theater Pforzheim nur für die Presse

Der Trafikant ~ Theater Pforzheim ~ Sigmund Freud (Jens Peter), Franz Huchel (Nicolas Martin) ~ Foto: Sabine Haymann

Autodrom, Ballschani, Erdäpfel, Kipferl, Matura, Rauchfangkehrer…, die Liste an Austriazismen ist lang. Dazu gehört auch Trafikant. Dies bezeichnet eine Verkaufsstelle für Tabakwaren und Zeitschriften/Zeitungen bzw. jemanden, der ein solches Geschäft führt. 2012 erschien der vierte Roman des österreichischen Schriftstellers und Drehbuchautors Robert Seethaler (* 1966) mit eben diesem Titel. Am 30. Januar 2016 wurde eine Bühnenfassung am Landestheater Salzburg uraufgeführt. Ein Jahr später entstand eine Verfilmung mit Bruno Ganz in der Rolle des Sigmund Freud (die 2018 in die Kinos kam).

Nicht öffentliche Aufführung als Protest der Pforzheimer Theaterleitung

Am 7. November 2020 hätte die Premiere dieses Stückes am Theater Pforzheim erfolgen sollen. Doch mit dem „Lockdown light“ mussten alle Vorstellungen abgesagt werden. Unter dem Titel „Sein oder Nichtsein?“ gab in der letzten Woche die Pforzheimer Theaterleitung, wie viele andere Häuser auch, ein öffentliches Statement zur vorübergehenden Schließung der deutschen Bühnen ab. Ohne die akute Notlage zu relativieren, wird gegen die Entscheidung die Theater als Stätte des Vergnügens und der Unterhaltung erneut zu schließen, protestiert. „Theater sind Gradmesser der politischen Verfasstheit eines Landes und liefern wesentliche Beiträge zur seelischen und geistigen Gesundheit einer Nation… Die sich in den vergangenen Wochen deutschlandweit bewährten Hygienekonzepte in den Theatern machen sie zu derzeit sichersten öffentlichen Orten in Deutschland… Wir nehmen unseren Kulturauftrag genauso ernst wie die Sicherheit der Zuschauerinnen und Zuschauer“.
Als nicht öffentliche Veranstaltung und mit lediglich einer Handvoll Pressevertreter, fand nun eine Premiere ohne Publikum statt, die natürlich den umfangreichen Hygieneregeln des Arbeitsschutzes unterlag. Zudem wurde kontinuierlich eine Co2-Messung im Bühnen und Zuschauerbereich durchgeführt, um bei Erreichen der kritischen Marke von 800ppm eine außerplanmäßige Lüftung durch z. B. Öffnung der Rauchklappen vornehmen zu können. Zur kurzen Begrüßung verlautete Intendant Thomas Münstermann, dass das Theater für sich selbst sprechen werde und dies die Stunde des Schauspiels sei.

Der Trafikant
Theater Pforzheim
Roßhuber (David Meyer), Frau Doktor (Myriam Rossbach), Otto Trsnjek (Lars Fabian), Ein Ziviler (Bernhard Meindl) Franz Huchel (Nicolas Martin)
Foto: Sabine Haymann

Wien kurz vor und nach dem „Anschluss“

Der Trafikant von Seethaler ist nicht nur die Geschichte des 17-jährigen Franz Huchel, der vom idyllischen Nußdorf am Attersee im oberösterreichischen Salzkammergut in das pulsierende Wien reist, dort als Lehrling in einem Trafik anfängt, dabei den berühmten Professor Sigmund Freud kennenlernt und sich zudem unglücklich in die Nachtklubtänzerin Anezka verliebt. Da die Handlung kurz vor und kurz nach dem „Anschluss“ (der Eingliederung des Bundesstaates Österreich in das nationalsozialistische Deutsche Reich) spielt und mit Sigmund Freud einen der bekanntesten Juden fokussiert, wird gleichzeitig auch auf die Bedeutung von Integrität und Wachsamkeit gegenüber unreflektierten populistischen Strömungen angemahnt.

Der Trafikant
Theater Pforzheim
Anezka (Johanna Miller), Franz Huchel (Nicolas Martin)
Foto: SabineHaymann

Vom Salzkammergut bis nach Wien

In die Produktion wurde viel Aufwand gesteckt. Im Zentrum der Bühne von Jörg Brombacher stehen zwei große Podeste. Sie sind von grauen Gebäudemauern umgeben, die mit glaslosen Fenstern bedrohlich und düster anmuten und die latente politische Bedrohungslage indirekt widerspiegeln (und natürlich auf die abrissreife Ruine des gelben Hauses in der Rotensterngasse hinweisen). Im Hintergrund befindet sich ein überdimensional großer Bilderrahmen, hinter dem Schattenspiele (wie die Liebesszene zwischen Anezka und Franz) durchgeführt werden und auf den dezent ergänzende Videosequenzen projiziert werden (wie Ansichten vom Attersee oder vom Wiener Prater; Video: David Brombacher). Der Trafik wird mit Verkaufssetzkästen, Zeitungsständern und einem hängenden Reklameschild angedeutet. Der Biergarten im Prater mit einer bunt leuchtenden Partygirlande und die Bar „Zur Grotte“ mit herabgelassenen Vorhängen. In den Ecken befinden sich weitere Podeste, als angedeutete kleine Rückzugsorte.
Regisseur Sascha Mey lässt das Stück mit zünftiger Blasmusik beginnen, verhaftet aber nicht in einem Idyll und auch nicht in der 1937/38-Zeit. Moderne Klub- und Jazzsounds bilden eine Brücke zur Gegenwart. So singt Anezka ein melancholisches Solo. Die knapp 2,5 Stunden umfassende Aufführung (inklusive einer Pause) vergeht rasend schnell, nicht zuletzt wegen der vielen kurzen Szenen. Zu denen auch der Schriftwechsel per Ansichtskarte und Briefen zwischen Franz und seiner Mutter zählen. Die Bühnenumsetzung ist, mit vielen Originalzitaten, nah am Roman.

Der Trafikant
Theater Pforzheim
Margarete Huchel (Michaela Fent), Franz Huchel (Nicolas Martin)
Foto: Sabine Haymann

Ratloser aber politisch klar denkender „Burschi“

In der großen Titelrolle überzeugt Nicolas Martin als junger Franz Huchel („Burschi“). Einerseits stets ein gewisses Maß an Naivität, Zurückhaltung und Ratlosigkeit ausdrückend, andererseits gescheit, ungestüm, verzweifelt und über alles (unglücklich) verliebt. Den sich vehement gegen die Nazis stellenden Otto Trsnjek verkörpert Lars Fabian mit Nachdruck. Ruhig und mit aristokratischer Würde gibt Jens Peter den 81-jährigen Professor Sigmund Freud, der, was das Thema Frauen anbelangt, ähnlich wenig Antworten weiß, wie sein junger Freund Franz. Apart und sinnlich ist die böhmische Anzeka der Johanna Miller (auch Obdachlose und Studentin). Im zwielichtigen Nachtklub ist sie, anders als im Roman, keine Indianerin sondern eine elegante Gräfin Ekatharina im Wolfsmantel (Kostüme: Milena Keller). In der rauen Vorkriegswelt sorgt Michael Fent als Mutter von Franz für emotionale Wärme. Mehrfachrollen spielen Bernhard Meindl, David Meyer und Myriam Rossbach. Dabei bleiben besonders Mendls rauer und geschäftstüchtiger böhmischer Kellner, Meyers bühnenstarker und skurriler Conferencier Monsieur de Caballé und sein hochmütiger Metzger Roßhuber (letzterer mit Dialekt gesprochen) und Rossbachs Briefträgerin in Erinnerung.
Zum finalen Auftreten von Anzeka, sieben Jahre sind vergangen, treten die anderen Figuren hinzu. Bei aller Stille: Ein rundes, schönes Schlussbild.
Bleibt zu hoffen, dass Der Trafikant möglichst bald wieder vor einem regulären und zahlenmäßig großen Publikum gespielt werden kann.

Markus Gründig, November 20


Der Trafikant

Schauspiel nach dem gleichnamigen Roman

Von: Robert Seethaler
Uraufführung (Dramatisierung Volkmar Kamm): 30. Januar 2016 (Salzburg, Landestheater Salzburg)
Uraufführung (Dramatisierung Robert Seethaler): 20. Oktober 2016 (Esslingen, Württembergische Landesbühne Esslingen)

Premiere ohne Publikum am Theater Pforzheim: 7. November 20 (Großes Haus)
Premiere: t. b. a.

Inszenierung: Sascha Mey
Bühne: Jörg Brombacher
Video: David Brombacher
Kostüme: Milena Keller
Dramaturgie: Ulrike Brambeer

Besetzung:

Franz Huchel: Nicolas Martin
Seine Mutter: Michaela Fent
Otto Trsnjek: Lars Fabian
Sigmund Freud: Jens Peter
Anezka/ Kleine Dame (Obdachlose) / Studentin: Johanna Miller
Pfarrer / Böhmischer Kellner/ Parkwächter/ Der Verhärmte/ Mann in grauem Anzug/ Ein Ziviler / SS-Mann / Schießbudenmann: Bernhard Meindl
Preininger / Der rote Egon/ Conferencier Heinzi/ Mann in grauem Anzug/ Ein Ziviler / Roßhuber: David Meyer
Frau Doktor/ Mann in grauem Anzug/ Briefträgerin/ Portierin: Myriam Rossbach
Wirthausbesucher, Passanten, Schaulustige: Ensemble

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