

Als „Musik-Theater-Walk“ ist Fassaden am Staatstheater Wiesbaden untertitelt. Diese Beschreibung trifft gut zu, auch wenn man sich zunächst nicht allzu viel darunter vorstellen kann. Der spartenübergreifende „Walk“ ist in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Theater Hamburg entwickelt worden. Das Konzept kommt von dem Quartett Elli Neubert (Inszenierung), Jakob Boeckh (Bühne), Dariya Maminova (Komposition) und Johanna Winkler (Kostüme).
Pro Vorstellungstermin können nur vier Gruppen a´ 15 Personen teilnehmen. Es ist also eine relativ exklusive Angelegenheit (zu einen niedrigen Kartenpreis). Innerhalb von 100 Minuten wird jede Gruppe durch für ansonsten dem Publikum verschlossene Bereiche innerhalb und außerhalb des Hauses geführt. Dabei geht es in verschiedene Kellerräume und hoch hinaus. Da nicht wenige Treppenstufen zu bewältigen sind, können Menschen mit eingeschränkter Mobilität nur begrenzt teilnehmen. Nicht enthalten sind große Räume wie die Probebühne, der Malersaal oder die Werkstätten. An vier Stationen wird Halt gemacht, am Ende finden sich alle für eine kurze Schlussbegegnung zusammen (das ist dann die fünfte Station). Damit diese Aufteilung funktioniert, hat das Produktionsteam in einer langen Puzzlearbeit akribisch an der Route und einem präzisen Timing gearbeitet.

Staatstheater Wiesbaden
Tim Hawken (Klavier), Josefine Mindus
Foto: Maximilian Borchardt
Die zurückgelegten Wege sind schon für sich ein kleines Abenteuer. Zeigt sich doch schnell die Enge in den Kellern des 1894 von Kaiser Wilhelm II. eröffneten Hauses im neobarocken Stil. Es sind meist sehr kleine Räume, auf vielen unterschiedlichen Höhen verteilt. Die gesamte Unterkellerung gleicht einem undurchschaubaren Labyrinth. Nebenbei ist festzustellen, dass keines der vielen internen Treppenhäuser sich gleicht.
Für die Gruppe mit rosafarbenem Armband ging es bei der Premiere zunächst über die Tiefeinfahrt von der Paulinenstraße aus in das Gebäude. Nach dem Durchschreiten etlicher Gänge und Treppen öffnete sich eine Tür und ein Mann (Schauspieler Christian Klischat) begrüßte in Freizeitkleidung und in schönen Socken erstaunt und freundlich jede(n) ganz persönlich. In seiner Wohnstube konnte sodann Platz genommen werden. Der irreal anmutende Raum im Keller ist wohnlich eingerichtet. Auf einem Fernseher beginnt ein Konzert, direkt aus dem Foyer des Großen Hauses. Schnell wird deutlich, dass es eine Beziehung zwischen der dort auftretenden Sängerin und dem Hausherrn gibt. Es ist seine Tochter, der er mit viel Aufopferung eine Karriere ermöglicht hat. Nun ist der persönliche Kontakt zwischen den beiden zu seinem Leidwesen abgebrochen. Zum Durchblättern eines Familienfotoalbums setzt er sich spontan zwischen seine Besucher.
Über verwundene Wege geht es dann ins Freie, vorbei am prunkvollen Kurhaus und dem Müllsammelplatz des Staatstheaters (eine Rattenhochburg, die Tiere haben sich aber vor den Besuchern in Sicherheit gebracht). Während dieser ausführlicheren Tour führt charmant, gewitzt und spontan auf die Situation gekonnt reagierend, der „Kaiser“ (Schauspieler Timur Frey) seine „Gang“ (das Publikum). Er gibt dezent zahlreiche Informationen, wie über den Architekten des Kurhauses (Friedrich von Thiersch) oder das damalige Armeleuteviertel „Katzeloch“, das einst neben dem Amüsementviertel (Theater, Kurhaus und Luxushotels) lag. Apropos Klassenunterschiede. Die waren im Prachtbau des Staatstheaters einst ganz amtlich. Parkett und 1. Rang, 2. und 3. Rang waren früher streng voneinander getrennt. Davon zeugen heute noch die separaten Aufgänge.

Staatstheater Wiesbaden
Raquel Nevado Ramos, Edzard Locher
Foto: Maximilian Borchardt
Als Überraschungsmoment ertönt zwischendurch immer wieder der sanfte Klang eines Horns. Ein Musiker (Jonas Finke) steht hierzu in einem Barockkostüm in Nischen (außen wie innen).
Im Foyer des Großes Hauses wird für ein Kunstliedkonzert Platz genommen. Hier geht es formeller zu. Jede(r) wird persönlich zu einem Sitzplatz geführt und es gibt für alle etwas alkoholfreien Sekt.
Sopranistin Josefine Mindus, am Klavier unterstützt von Tim Hawken, trägt eindrucksvoll den Liederzyklus „Crystal Songs“ von Dariya Maminova vor (Gesangstexte: Amina Hassan). Maminova ist in dieser Spielzeit Composer in residence.
Ein Alarm führt dann ins Freie, wo Schlagzeuger Edzward Locher in Gothic-Kleidung mit einem Winkelschleifer Metall an einem Gitterwagen malträtiert. Tanzperformerin Raquel Nevado Ramos tritt hinzu und die Reise geht weiter. In der Dunkelheit des Requisitenlagers zeigen die beiden eine Performance, die für geheime Fantasien und Aktivitäten steht.

Staatstheater Wiesbaden
von oben nach unten und links nach rechts: Raquel Nevado Ramos, Jonas Finke, Tim Hawken, Edzard Locher, Josefine Mindus, Christian Klischat, Timur Frey
Foto: Maximilian Borchardt
Schließlich finden sich die Gruppen im Studio ein. Wenn sich dort der Vorhang öffnet, schließt sich mit einem Überraschungsmoment der Bogen zur Wohnstubenszene. Die Protagonisten:innen treten als Chor der Vielen auf.
Elli Neuberts Stück befragt bei dieser szenisch fundierten Erkundungstour anhand konkreter Bilder die Beziehung zwischen Mensch und Raum. So wie sie rein äußerlich, also als Fassaden, erscheinen. „Welche Fassaden tragen Gebäude? Welche Fassaden tragen wir selbst?“ Wie beeinflussen Gebäude/Räume unsere Selbstdarstellung? Der Abend gibt nicht nur eine große Vielfalt an Eindrücken, sondern auch an Denkanregungen.
Viel Applaus.
Markus Gründig, März 25
Die Spielstätte „Studio“ zeigt in den kommenden Monaten insgesamt drei Uraufführungen junger Regieteams. Auf „Fassaden“ folgt während der Internationalen Maifestspiele das Klangtheater „Judith“ von Regisseurin Giulia Giammona und dem Komponisten Johannes Brömmel (Uraufführung Mi., 28.05.2025 im Studio). Mit der dritten Studio-Uruaufführung „Feldversuchung“ (Uraufführung: Fr., 27.06.2025) begibt sich Regisseur Konrad Amrhein parallel zur Neuproduktion von Haydns „Die Schöpfung“ in einen kollektiven Arbeitsprozess, der Tiere, Pflanzen und Landschaften als gleichberechtigte Akteur*innen zusammen denkt und daraus ein Familienfest der etwas anderen Art inszeniert.
Fassaden
Premiere: 28. Februar 25 (verschiedene Spielorte)
In Kooperation mit der Hochschule für Musik und Theater Hamburg
Inszenierung: Elli Neubert
Komposition: Dariya Maminova
Bühne: Jakob Boeckh
Kostüme: Johanna Winkler
Dramaturgie: Hanna Kneißler
Gesang: Josefine Mindus
Spiel: Christian Klischat, Timur Frey
Tanz/Performance: Raquel Nevado Ramos
Klavier: Tim Hawken
Horn: Jonas Finke
Schlagzeug: Edzard Locher
Statisterie des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
staatstheater-wiesbaden.de