Von Fake News und Verschwörungstheorien: »Entrückt« in Wiesbaden

Entrückt ~ Staatstheater Wiesbaden ~ Noah (Lennart Preining; li.), Celeste (Laura Talenti; re.) ~ Foto: Lukas Anton
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Für manche sind sie einfach nur dämliche Fantasien, für andere die Wahrheit: Durch Flugzeuge in der Atmosphäre versprühte Chemikalien („Chemtrails“), die Thesen, dass die Anschläge auf das World Trade Center von US-Behörden beauftragt wurden („9/11 Truth Movement“), und dass das SARS-CoV-2-Virus in einem chinesischen Labor entwickelt wurde. In ihrem Doku-Thriller „Entrückt“ hat sich die britische Autorin Lucy Kirkwood mit den Themen Fake News und Verschwörungstheorien beschäftigt.

Bereits dessen Aufführungsgeschichte weist auf Kirkwoods Talent für ihr gekonntes Spiel mit der Wahrheit hin. Denn schon der Stücktitel und dessen Autor waren zunächst anders angekündigt („That Is Not Who I Am“ von Dave Davidson hieß es in Großbritannien und „Verblendet“ von Dave Davidson für die deutschsprachige Erstaufführung in Cottbus). Unter dem Titel „Untitled Love Story“ zeigte das English Theatre Frankfurt das Stück im Frühjahr 2025. Jetzt hat es Jan Bosse für das Staatstheater Wiesbaden in dessen kleinem Haus inszeniert.

Entrückt
Staatstheater Wiesbaden
Noah (Lennart Preining), Celeste (Laura Talenti)
Foto: Laura Nickel

Jan Bosse hatte jüngst am Schauspiel Frankfurt Ferdinand Schmalz „Sanatorium zur Gänsehaut. Eine Entfaltung“ lebhaft auf großer Bühne inszeniert. Da war es jetzt spannend, wie er Kirkwoods eher kammerspielartiges „Entrückt“ inszenieren würde.

Das mitunter etwas konstruiert wirkende und theorielastige Stück handelt vom jungen Paar Celeste (besonnen: Laura Talenti) und Noah (engagiert: Lennart Preining), das sich im Jahr 2011 gerade bei einem Blinddate einer Dating-App (ursprünglich einer Tageszeitung) kennengelernt hat. Schnell werden sie ein Paar, heiraten und bekommen eine Tochter. Zehn Jahre später liegen sie tot in ihrer Wohnung. War es Selbstmord oder wurden sie von staatlichen Stellen ermordet? Schlaglichtartig wird die Entwicklung von 2011 bis 2021 in Jahressprüngen gezeigt und kommentiert.

Entrückt
Staatstheater Wiesbaden
Lucy 2 (Klara Wördemann; li.), Lucy 1 (Maria Wördemann; re.)
Foto: Laura Nickel

Hierfür ist neben dem Paar auch die Autorin Lucy Kirkwood höchstpersönlich mit von der Partie. Dies sogar in doppelter Version (die Themen schlagwortartig festhaltend: Klara Wördemann und die Zeitsprünge protokollierend: Maria Wördemann).

Zu Beginn, beim Blind Date von Celeste und Noah, sitzen diese auf Bistrostühlen auf der weit geöffneten leeren Bühne. Ihre provisorisch angedeutete einfache Wohnung mit vielen Pappkartons wird dann eingeschoben. Die beiden Ausgaben der Autorin sitzen teilweise in der ersten Reihe und beobachten von dort ihre Figuren (Bühne: Stéphane Laimé). Die in der Luft liegende Spannung wird von kurzen musikalischen Einspielungen und Sounds gesteigert (Komposition: Arno Kraehahn).

Das Spiel im Spiel wird auch bei Jan Bosse konsequent bis zum Ende geführt. Nach knapp zweistündiger pausenloser Spieldauer gibt es ein Statement des Hauses zum Tod von Celeste und Noah und die bisher einmütig agierenden Kirkwoods fallen übereinander her.

Lang anhaltender Beifall für das lebhafte Spiel um Wahrheiten.

Markus Gründig, November 25


Ergänzend zum Programmposter bietet das Staatsheater Wiesbaden ein digitales Programmheft mit weiterführenden Beiträgen zu den angesprochenen Themen an (nebst einem Faktencheck und einem Glossar).
In Kooperation mit dem Wiesbadener Stadtjugendpfarramt wird zudem ein besonderes Vermittlungspaket angeboten: Begleitend zu einem Vorstellungsbesuch können Jugendgruppen ein Tablet-Game zum Thema Verschwörungstheorien spielen, das mit einer Diskussion gerahmt wird.


Entrückt

(Rapture)
Von: Lucy Kirkwood
Deutsch von: Corinna Brocher

Uraufführung: 16. Juni 2022 (London, Royal Court Theatre; unter dem Titel „That Is Not Who I Am“ von Dave Davidson)
Deutsche Erstaufführung: 21. September 24 (Cottbus, Staatstheater Cottbus; unter dem Titel „Verblendet“ von Dave Davidson)

Premiere am Staatstheater Wiesbaden: 22. November 25 (Kleines Haus)

Inszenierung: Jan Bosse
Bühne: Stéphane Laimé
Kostüm: Kathrin Plath
Komposition: Arno Kraehahn
Dramaturgie: Sophie Steinbeck
Licht: Steffen Hilbricht

Besetzung:

Celeste Quilter: Laura Talenti
Noah Quilter: Lennart Preining
Lucy Kirkwood 1: Maria Wördemann
Lucy Kirkwood 2: Klara Wördemann

staatstheater-wiesbaden.de