Kohlhaas
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 26. Juni 15
Von einem Faible für schwere Charaktere kann man im Fall Isaak Dentler nicht unbedingt sprechen, doch nach seinem Solo „Werthers Leiden“ (2010), ist er nun erneut als Solist in einem eigensinnigen Charakter zu erleben: In der Titelfigur von Heinrich von Kleists bedeutendster Novelle „Michael Kohlhaas“ aus dem Jahre 1810.
Das Stück wurde ab Ende April dieses Jahres bereits an der kaufmännisch berufsbildenden Ludwig-Erhard-Schule in Frankfurt Unterliederbach voraufgeführt, nun stand es für zwei Vorstellungen in den Kammerspielen auf dem Spielplan.
„An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit. – Dieser außerordentliche Mann würde, bis in sein dreißigstes Jahr für das Muster eines guten Staatsbürgers haben gelten können… Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.“(Heinrich von Kleist). Kleist behandelt in dieser Erzählung die Themen verletzte Menschenwürde und das Recht auf Widerstand. Dem um sein Recht gebrachten Kohlhaas ist dabei die Übereinstimmung mit sich selbst wichtiger als das Leben (seins und das von anderen, selbst Unschuldiger). Viele sehen darin auch Parallelen zu Kleist selber.
Zunächst ist der als gerecht und wohltätig geltende Kohlhaas ein ganz normales Mitglied der Gemeinschaft. Und sitzt deshalb auch zu Beginn in der ersten Zuschauerreihe. Die Bühne selbst ist ein finsterer Raum, geteilt durch einen längs verlaufenden Gitterboden. Im Hintergrund stehen zwar zahlreiche, auf das Publikum gerichtete, Spots, doch sind sie meist aus oder leuchten nur gering (Ausnahmen gibt es wohl). Auf der linken Seite befindet sich ein Haufen Heu, zusätzlich fällt anfangs feiner Regen herab. Das reicht als Andeutung für herbe, ländliche und urbane Bezüge.
Dramatisierungen der Novelle, wie auch Verfilmungen, gab es schon oft. Es als Solo zu bringen, ist hingegen nicht üblich. Dabei gelingt Isaak Dentler der Spagat zwischen (gekürzter) Wiedergabe der Novelle (Dramaturgie: Henrieke Beuthner) und einer eindringlichen Darstellung famos. Der Wandel vom ehrbaren Pferdehändler zum bornierten und brutalen Kämpfer um sein Recht gelingt ihm ausdrucksstark und mit vielen feinen Nuancen. Dabei spricht er stets sehr deutlich und passt die Stimme der Erzählform subtil an. Rein äußerlich öffnet er für die Verwandlung erst seine Steppweste (ohne sich oder Teile von sich zu entblößen) und überschüttet sich dann eindrucksvoll mit Kunstblut, das er später mit Wonne zwischen seinen Fingern gleiten lässt, sodass das Publikum vor Schrecken zuckt. Neben wenigen musikalischen Einspielungen generieren vor allem eingespielte Herztöne eine zusätzliche Spannung.
Am Ende verdientermaßen sehr viel Applaus.
Das Stück wird in der kommenden Saison wiederaufgenommen. Zudem bietet das Schauspiel Frankfurt das Stück zur Aufführung in Schulen an.
Markus Gründig, Juni 15
Death and the Maiden
The English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 20. Juni 15
Vladimiro Ariel Dorfmann ist einer der bekanntesten lateinamerikanischen Autoren in den Vereinigten Staaten. 1942 in Buenos Aires (Argentinien) geboren, flüchtete die Familie 1943 in die USA. 1954 erfolgte die Rückkehr nach Südamerika, in das damals demokratische Chile. 1973 erfolgte nach dem Militärputsch erneut ein Exil in die USA, deren Staatsbürger er seit 2004 ist und wo er noch heute lebt (und von dort aus regelmäßig Chile bereist). Das für eine Kampagne des Londoner Institute of Contemporary Art geschriebene und dem Autor Harold Pinter und der Schauspielerin Maria Elena Duvauchelle gewidmete Debütstück „Death and the Maiden“ („Der Tod und das Mädchen“, Originaltitel „La muerte y la doncella“) wurde 1991 am Royal Court Theatre in London uraufgeführt. Von Februar bis August 1992 lief es in einer Starbesetzung am Broadway (Brooks Atkinson Theatre; mit Glenn Close, Richard Dreyfus und Gene Hackman). 1994 verfilmte es Roman Polanski, mit Sigourney Weaver, Ben Kingsley und Stuart Wilson.
Dabei ist „Death and the Maiden“ keine leichte Kost. Der Titel nimmt Bezug zum gleichnamigen viersätzigen Streichquartett von Franz Schubert (Nr. 14, d-Moll). Die junge Studentin Paulina musste, wie andere Inhaftierte auch, diese Musik während ihrer Misshandlungen hören, während ihre Augen verbunden waren. 15 Jahre später trifft sie auf den vermeintlichen Vergewaltiger und sieht ihre Stunde gekommen, sich von ihrem Trauma zu befreien. Es geht weniger um die Frage, ob der Arzt Roberto Miranda nun tatsächlich der mehrfache Vergewaltiger Paulinas ist, als um die Tragik, dass erlittene Folter die betroffenen Menschen für immer prägt und selbst Rache Vergangenes nicht vergessen lassen kann.
Die Handlung findet an einem Abend in einer Villa statt. Wie beim vorher gespielten Stück „Other Desert Cities, ist auch hier wieder Bob Bailey für das Bühnenbild zuständig. Zwar wurde die großzügige Panoramafensterfront auch für „Death and the Maiden“ übernommen, doch hat das Wohnzimmer von Paulina und Gerardo eine ganz andere Atmosphäre als das der Familie Wyeth. Die Wände sind mit schmalen Holzlatten verkleidet und auch Tisch und eine Anrichte sind aus Holz, in einer Ecke flackert ein Kamin, Winterjacken hängen an einer Garderobe (auf der Terrasse liegt Schnee). Eine Lampe hängt über dem Esstisch und irgendwie erinnert dies an Bilder von Verhören. Durch in weiten Abständen verlegten Holzlatten als Deckenkonstruktion, wird ein Glasdach angedeutet (dem heimelig anmutenden Raum wird so zusätzlich eine gewisse Offenheit und Weite gegeben).
Regisseur Guy Unsworth erhebt die Figur der Paulina in den Mittelpunkt des Stücks, als ein Opfer, das hier eine Stimme bekommt. Helen Bradbury verleiht der Paulina ein tiefes Format. Dabei spielt sie keine effekthaschende Verletzte, sondern zeigt sich als aus der Not stark gewordene Frau, die den Kampf mit zwei Männern aufnimmt und sich selbst treu bleibt, koste es, was es wolle. Die Männer haben bei ihr kaum Chancen, sei es ihr Ehemann Gerard (Kevin McGowan) oder der Arzt Robert (Gareth Clarke).
Am Ende bleibt es offen, ob Roberto nun der Täter ist oder nicht, aber auch, was Paulina gemacht hat. Statt im Theater, wie vorgesehen, sitzen sie am Ende wieder am Esstisch und für einen kurzen Augenblick erscheint ihr wieder ihr Peiniger in den Kleidern ihres Mannes. Realität oder Trugbild? Viel Applaus für ein fesselndes wie aktuelles Stück, das vieles hinterfragt.
Die Premiere am 12. Juni 15 richtete das English Theatre Frankfurt als Benefiz für die Organisation Human Rights Watch (www.hrw.org) aus. Diese setzt sich für den Schutz und zur Verteidigung der Menschenrechte ein.
Markus Gründig, Juni 15
Was ihr wollt
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 14. Juni 15
Shakespeares heiteres „Was ihr wollt“ strotzt nur so vor Liebesirrungen und -wirrungen. Das Stück ist ein Klassiker für das Sommerrepertoire, um Besucher trotz sonnigen Wetters, Badeseen und Biergartenverlockungen für das Theater zu begeistern. Die Neuinszenierung dieses Stückes durch Jorinde Dröse am Schauspiel Frankfurt geht ganz in diese Richtung. Mit viel Komik, schrillen Kostümen und Live-Musik wird mit einem großartigen Ensemble ein Feuerwerk der heiteren Schauspielkunst zelebriert.
Publikumsliebling Sascha Nathan in der Rolle des selbstverliebten und an der Nase herumgeführten Haushofmeisters Malvolio avanciert dabei zum Zentrum der Aufführung, auch oder gerade weil er wieder einmal einiges über sich ergehen lassen muss (hier wird er mit gelben Strumpfhosen gefesselt und gequält). Nico Holonics, der im Schauspielhaus zuletzt als Solist in der „Blechtrommel“ brillierte, gibt sich als einfältiger, aber nicht zu beirrender Sir Andrew Bleichenwang („Giftzahn“) in ungewohnten Outfits. Mit blonder Lockenpracht, blauen Lidschatten, weißen Netzshirt, knappen Jeans- und Glitzershorts und auf Rollschuhen, gleicht er einem Relikt der Discozeit aus den 80-igern (Kostüme: Tine Becker).
In ihrem Liebeswahn herrlich überzogen ist die Gräfin Olivia („Marmorgöttin“) der Claude De Demo im schwarzen Kleid (Claude De Demo stellt nebenbei auch souverän ihre große Klavierspielkunst unter Beweis). Und auch Torben Kessler als Orsino gibt sich mit ungewöhnlicher Attitüde. Als überdrehter, divenhafter Duke mit blonder Haarpracht und psychedelisch anmutender Kleidung.
Quasi ein Kontrapunkt in diesem schrillen Durcheinander ist die Viola/der Cesario der Katharina Bach. Mit viel dunkler Farbe im Gesicht und auf der Haut, ist sie kaum wiederzuerkennen. Sie verleiht der Figur eine tragische Größe und ist ein ruhiger Gegenpol im hektischen Treiben.
Die weiteren Darsteller fügen sich trefflich ein: Michael Benthin als trinkfreudiger Sir Toby Rülp, Jan Breustedt als wagemutiger Antonio, Timo Fakhravar als erstarkter Sebastian, Wolfgang Michael als knotternder Narr und Linda Pöppel als Lust auslebende Maria.
Gespielt wird auf einer Drehbühne, auf der eine große mehrgliedrige Holzkonstruktion aus weißen Latten steht, die zugleich Treppenanlage des Palasts, Garten und Zimmer der Gräfin sowie Straße in Illyrien ist (Bühne: Susanne Schuboth). Über alledem schweben eine große Mondscheibe (auch Projektionsfläche) und eine Discokugel.
Links stehen die Musiker (Tim Roth, Martin Standke und Torsten Kindermann; letzterer auch Leitung). Ihre Musik dient nicht nur zur Untermalung (wie Abbas „Dancing Queen“), sondern auch als Unterstützung für die singenden Protagonisten. So singt Orsino an Olivia denkend „I will always love you“.
Das Stück wurde am Schauspiel Frankfurt zuletzt von Corinna von Rad inszeniert (2007). Damals wurde eine Übersetzung von Thomas Braschs verwendet. Für die aktuelle Inszenierung dient eine Übersetzung von Frank Günther als Basis. Sie belässt viele Passagen im englischen oder macht ein deutsch-englisches Kauderwelsch („meiner Seele secrets“) daraus, Hauptsache „es läuft“ (wie es heute bei der Jugend heißt, wenn etwas gut geht).
Zum Ende steht Viola alleine an der Rampe, während die Szenerie kurzerhand in den Boden fährt. War alles nur ein Traum?
Viel Applaus für eine temporeiche und herrlich schräg überzogene Umsetzung.
Markus Gründig, Juni 15
Freiraum
Schauspiel Frankfurt ~ Junges Schauspiel
Besuchte Vorstellung: 7. Juni 15 ( Premiere)
Während ein Jugendlicher behutsam „Freude, schöner Götterfunken“ aus Beethovens 9. Sinfonie an einem Klavier spielt und eine Jugendliche in ein Mikrofon summt, nimmt das Publikum im Bockenheimer Depot Platz. Langsam treten zehn weitere Jugendliche zu den beiden dazu, kurz wird noch vierhändig eine kurze Partie aus Bizets Oper „Carmen“ gespielt, dann geht es im Gruppengetümmel weiter, dem äußeren Anschein nach zunächst etwas chaotisch. Offiziell wird immer wieder betont, man wisse sehr wohl, was man hier tue. Zunächst sind es kurze Statements, die in den Raum gestellt werden. Persönliche und erarbeitete Sätze, die stets um die Themen „Freiraum“, „frei sein“ und „Freiheit“ kreisen und die durchaus widersprüchlich oder gegensätzlich sind. Die zwölf Jugendlichen (Sabrina Bauer, Lea Becker, Viktoria Lessing, Hannah Müller-Eising, Lena Scholz, Nicola Wolf; Max Ackfeld, Ramón Böhme, Adrian Fischbeck, Philmon Ghide, Mikail Öztürk, Justus Schultz) stehen und sitzen sich dabei gegenüber oder auch frontal zum Publikum. Außer zwölf Stühlen gibt es keine weiteren Requisiten im Seitenschiff des Bockenheimer Depots, wo das „Stück“ jetzt uraufgeführt wurde (Bühne: Julia Scheurer). Schnell gewinnt der Abend an Tiefe, da die Jugendlichen, die dies alles ehrenamtlich tun, sehr persönlich sprechen, sich nicht verstellen und auch den Mut haben, sich mit ihren Gefühlen und teilweise vorhandener Gebrochenheit zu zeigen.
Denn es ist ein besonderes Jugendtheaterprojekt, das Martina Droste und Chris Weinheimer hier mit Jugendlichen mit und ohne Behinderung zeigen. Wobei Behinderung an sich kein Grund für Freudlosigkeit sein muss, wie manche von den Jugendlichen eindringlich zeigen. Hier wird deutlich, dass eine körperliche Einschränkung, wie auf einen Rollstuhl angewiesen zu sein, den Freiheitsbegriff schon schwieriger definieren lässt. Freiheit in der Gruppe bedeutet, zu sich selbst zurückzufinden, seine eigenen Überzeugungen finden bzw. wiederfinden. Freiheit ist nicht auf diesen einmaligen „Freiraum“ beschränkt, schließlich bedeutet räumen ja auch, Raum zu schaffen. Ein Freiraum ist es deshalb auch, sich außerhalb dieser Theatergruppe mit anderen Freunden zu treffen oder die Freiheit in Anspruch zu nehmen, allein sein zu dürfen.
Besonderes Stilmittel ist, dass einzelne Aussagen mitgeschnitten werden und dann von den Jugendlichen per Fuß-Kanal-Umschalter eingespielt bzw. gestoppt werden. Zwischendurch wird ausgelassen und lautstark gefeiert und getanzt, zu Mark Forsters „Flash mich“ und zum Ende, wenn alle Stühle, alle Reglementierungen auf einen Haufen geworfen werden (selbst der Rollstuhl), zu AC/DCs „Highway to Hell“ (bei der besuchten Premierenvorstellung klatschen hierbei die Zuschauer ob der ansteckenden Spielfreude im Takt mit). Durch Tausch der getragenen Kleider (Kostüme: Michaela Kratzer) wird der Team- und Wir-Gedanke auch visuell untermauert.
Ein besinnlich am Klavier gespieltes und gesungenes „Creep“ von Radiohead (You’re so fuckin‘ special, But I’m a creep, I’m a weirdo…/“ ~ „Du bist so verdammt besonders, aber ich bin ein Widerling, ich bin ein Spinner“) lässt den 75-minütigen Abend besinnlich ausklingen. Sehr viel Applaus.
Markus Gründig, Juni 15
Die Päpstin
Burgfestspiele Bad Vilbel
Besuchte Vorstellung: 5. Juni 15 ( Premiere)
Die Legende von einer Frau, die einst als Mann verkleidet, den Weg an die Spitze der katholischen Kirche schaffte, gibt es schon seit langer Zeit. Doch erst durch den 1996 erschienenen Roman „Die Päpstin“ der US-amerikanischen Schriftstellerin Donna Woolfolk Cross wurde sie weltbekannt. Die Verfilmung des Romans erfolgte im Jahr 2009. 2011 produzierte die Fuldaer spotlight Musicalproduktion GmbH eine Musicalversion darüber (die diesen Sommer erneut im Schlossparktheater Fulda gespielt wird). Und schließlich feierte eine Schauspielfassung von Susanne Felicitas Wolf im Jahr 2012 Premiere (bei den Sommerspielen im niederösterreichischen Melk).
Wolfs Theaterstück nach dem gleichnamigen Bestseller-Roman (er wurde in 36 Sprachen veröffentlicht) eröffnete jetzt, bei prächtigstem Sommerwetter, die Abendspielzeit der 29. Burgfestspiele Bad Vilbel. Diese nehmen, wie Bürgermeister Dr. Thomas Stöhr in seiner Begrüßungsansprache mit Stolz verkündete, im Hinblick auf die Besucherzahlen inzwischen den 1. Platz aller Festspiele in Hessen ein (und bundesweit den 2. Platz).
Das Stück erzählt die Geschichte der im nahen Ingelheim am Rhein geborenen Johanna nach, von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod in Rom. Anders als im Buch wurden für die Bühnenfassung die Rollen ihrer größten Widersacher, des heuchlerischen Kardinals Anastasius (galant: Till Frühwald) und sein die Fäden spinnenden Vater Arsenius (resolut: Neven Nöthig), stark aufgewertet. So gibt es schon zu Beginn nicht nur eine kleine Johanna, die bei der Premiere richtig gut von der jungen Sophia Schmied gespielt wurde und die sich bei den weiteren Vorstellungen mit Chiara Bergmann diese Rolle teilt, sondern auch einen jungen Anastasius (Teo Hoffmann, alternierend mit Sebastian Hack).
Das Ambiente der Bad Vilbeler Wasserburg sorgt schon fast alleine für eine passende Atmosphäre für das im frühen Mittelalter spielende Stück. So reichen dem Bühnenbildteam Marie-Therese Cramer und Lilot Hegi denn auch wenige Requisiten: Zwei Holztische mit einfachen Stühlen, ein Holzregal, ein Stapel alter Bücher, ein Wassertrog als See-Ersatz für die Gottesopferszene um die Hebamme Hrotrud (Daniela Kiefer, auch Richild und Theda), ein Bett und ein Thron. Gespielt wird vor einem Kreuz, das auf einem großen Bühnenprospekt aufgetragen wurde. Es sind vor allem die Kostüme, für die ebenfalls Marie Theres Cramer verantwortlich zeichnet, die mittelalterliches Kolorit einbringen. Zu Beginn und Ende gibt es jeweils live gesungene Chorstücke auf Lateinisch, zwischen den Szenen sorgt eingespielte Musik für emotionale Unterstützung (Regie: Adelheid Müther).
Diese ist durchaus nötig, denn auch wenn die Geschichte der Johanna von Leidenschaft und Mut geprägt ist, zu ihrer Zeit war Deutschland noch ein finstres Land, die Rechte der Frauen nur marginal vorhanden und das Leben kein Zuckerschlecken. So stellen sich zwangsläufig Vergleiche zur heutigen Situation der Frauen und Minderheiten in islamistischen Staaten ein, und tiefe Dankbarkeit, was sich in den letzten beiden Jahrhunderten in Deutschland alles zum Guten verändert hat.
Dass äußere Frömmigkeit sich nicht immer mit innerer Frömmigkeit deckt, ist hinlänglich bekannt. Hier greift Regisseurin Adelheid Müther gerne in die Vollen und unterstellt den Klerikern ein Machtstreben um jeden Preis.
Die harte Kindheit der Johanna unter ihrem bornierten und strengen Vater (züchtig: Lars Wellings; auch Kaiser Lothar), die begrenzten Möglichkeiten der herzensguten Mutter (Lisa Wildmann; auch Madalgis und Kaiserin), die Ausbildung an der Domschule in Dorstadt mit der Begegnung ihrer großen Liebe Gerold (einfühlsam wie markant: Simon Köslich; spielt auch den Matthias) und die Flucht ins Kloster Fulda bestimmt den ersten, rund 70-minütigen Teil. Im zweiten, gut 60-minütigen Teil geht es um die Zeit in Rom. In der Titelrolle glänzt dabei die in Flensburg geborene Anna Gesewsky, die 2012 ihr Schauspielstudium an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin absolvierte. Die end-20-igerin verleiht der Johanna nicht nur eine nahezu kindliche Reinheit und Unschuld, sondern auch großes Format und Authentizität. Für ausgleichende Herzlichkeit und Wärme sorgt Andreas Krämer als Aeskulapius, gleichfalls ist er strenger und um sein Amt fürchtender Odo (sowie Rabanus, Ennodius und Feuerteufel).
Sehr viel Applaus.
Markus Gründig, Mai 15
Die Wiedervereinigung der beiden Koreas
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 22. Mai 15 (Premiere)
„Flash mich nochmal, als wär’s das erste mal.“ singt Mark Forster in seinem aktuellen Hit „Flash mich“. Trotz nicht nur harmonischer gemeinsamer Erlebnisse („Wir haben schon eins, zwei Kriege geführt und haben schon drei, vier Zimmer demoliert…“), spricht der Sänger vom Zauber der Liebe („Aber weil 5 Minuten ohne dich zu viel sind, bin ich auch mit 90 immer noch bei dir…“). Ein Update ihrer Liebesbeziehung haben auch die Protagonisten in Joël Pommerats Stück „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ dringend nötig. In diesem Stück wird aufgefächert, was Liebe ist, vor allem aber was Liebe alles nicht ist (vom Titel darf man sich auf keinem Fall verwirren lassen; die derzeit sehr unwahrscheinliche Wiedervereinigung der beiden Koreas dient hier nur als Metapher).
Nach seiner deutschsprachigen Erstaufführung am Theater Linz im vergangenen Jahr wurde das Stück nun als Koproduktion vom Schauspiel Frankfurt und den Ruhrfestspielen Recklinghausen von Intendant Oliver Reese inszeniert. Zwei Wochen nach der Premiere in Recklinghausen erfolgte jetzt die Frankfurter Premiere (in den Kammerspielen). Die Inszenierung ist ein Highlight, nicht nur in der Saison, sondern in der bisherigen Intendanz von Oliver Reese. Dies in einer ganz konservativen Erzählweise, frei von polarisierenden Bildern, wie jüngst in Ulrich Rasches Umsetzung von Büchners „Dantons Tod“ oder Dave St-Pierres Umsetzung von Shakespeares „Macbeth“. In 19 Szenen werden während fesselnder 180 Minuten Spieldauer (inklusive einer Pause), Facetten der Liebe aufgefächert, mit neun überaus präsent spielenden Darstellern in vielen verschiedenen Rollen. Der Abend ist ein „Hohelied der Liebe“ in einem anderen Sinn, als es Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther beschreibt. Wo es im Neuen Testament um die Großartigkeit der Liebe geht („Die Liebe ist langmütig, gütig…, sie erträgt, glaubt, hofft alles… und hört niemals auf“), ist sie bei Pommerat schon am Ende, bevor sie angefangen hat. Eine Frau (eindringlich: Corinna Kirchhoff) beantwortet Fragen zu ihrem Scheidungswunsch. Sie vermisst Liebe seitens ihres Lehrergatten, doch weiß sie gar nicht zu beschreiben, was genau sie vermisst, wie das nie da gewesene zu beschreiben ist. In einer anderen Szene („Gedächtnis“) geht es um die tragische Situation eines verheirateten Paares (Corinna Kirchhoff und Till Weinheimer), wo sie an Demenz erkrankt ist und ihr Mann ihr mit unermüdlicher Liebe zur Seite steht.
Käufliche Liebe, wie bei den Prostituierten-Szenen „Geld“ mit Verena Bukal (als verliebte Prostituierte) und Peter Schröder (als Pfarrer) oder „Wert“ mit der um ihre Entlohnung kämpfenden Straßenhure (Josefine Platt und Marc Oliver Schulze), wird ebenso thematisiert wie fehlende Liebe. Wie bei der Szene „Liebe“ (mit Franziska Junge, Corinna Kirchhoff, Marc Oliver Schulze und Till Weinheimer), wo ein Lehrer des Kindesmissbrauchs verdächtigt wird, die mangelnde Liebe seitens der Eltern die Situation aber in einem anderen Licht erscheinen lässt. Auch selten im Fokus stehende Liebesthemen werden nicht ausgespart, wie Liebe unter Behinderten („Schwanger“, mit Franziskia Junge, Marc Oliver Schulze und Carina Zichner). Dazu gibt es aber auch humorvoll und kurios anmutende Szenen wie „Hochzeit“, bei der peu à peu bekannt wird, dass alle fünf Schwestern irgendwann einmal etwas mit dem Bräutigam hatten (Verena Bukal, Thomas Huber, Franziska Junge, Corinna Kirchhoff, Josefine Platt, Till Weinheimer, Carina Zichner) oder skurrile, wie „Saubermachen“, wo eine junge Frau meint, ihren Mann durch Härte erziehen zu können („Saubermachen“, mit Corinna Kirchhoff, Peter Schröder und Carina Zichner).
Die Bühne von Hansjörg Hartung zeigt eine klassische Komödienszenerie. Gespielt wird vor einer dunkelbraun getäfelten Wand mit vielen Türen. Zunächst wirkt sie wie ein Gang in einem Bürohochhaus, doch ist sie auch wandelbar. Lüftungsklappen wechseln wie von Geisterhand betrieben zu Schildern. Wandelemente öffnen für eine kleine Bar und der Mittelteil besteht aus einer Drehbühne, die Wohn- und Schlafstuben im Handumdrehen hervorzaubert.
Zwischen den Szenen singen Franziska Junge, Josefine Platt und Carina Zichner abwechselnd Chansons (worin Franziska Junge mit ihrer Ausdrucksstärke, dem Spiel mit dem Publikum am stärksten überzeugt, sie ist schließlich auch eine erfahrene Bandsängerin; Musik: Jörg Gollasch).
Die Darsteller schlüpfen für ihre verschiedenen Rollen stets in andere Kostüme und tragen meist auch andere Perücken (Kostüme: Elina Schnizler). Allein diese Wandlungsfähigkeit der Darsteller zu beobachten, ist ein Vergnügen. Am Ende großer Applaus, vor allem auch von Rechtsanwalt und Moderator Michel Friedmann, der nicht nur seine eigene Reihe am Schauspiel Frankfurt hat, sondern mit seiner Ehefrau, der TV- und Radiomoderatorin Bärbel Schäfer, nun schon seit Jahren regelmäßiger Besucher des Schauspiel Frankfurt ist.
Alle Vorstelllungen in dieser Spielzeit sind bereits ausverkauft.
Markus Gründig, Mai 15
Macbeth ~ Ein Bastard von Dave St-Pierre und William Shakespeare
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 17. April 15 (Premiere)
Die Ankündigung, den international gefeierten franko-kanadischen Choreografen Dave St-Pierre für eine Inszenierung verpflichtet zu haben, markierte bei der Spielplanpräsentation im vergangenen Jahr bereits das Saison-Highlight des Schauspiel Frankfurt. Zudem ist Dave St-Pierres Verpflichtung ein Teil des Programms „Schauspiel Frankfurt International“, für das Regisseure und Darsteller aus anderen Ländern und Kulturkreisen engagiert werden und deren Produktionen „die Vielfalt neuer und internationaler Theaterformen für das hiesige Publikum erlebbar machen, den Kanon der Ausdrucksmöglichkeiten erweitern und den künstlerischen Austausch mit renommierten Theatermachern aus der ganzen Welt fördern“ sollen.
Nun war es endlich so weit, ein außergewöhnliches Highlight feierte Premiere. Auch St-Pierre betrat mit dieser Produktion doppelt Neuland. Erstmals inszenierte er ein Schauspiel, erstmals in Deutschland.
Schon im Vorfeld wurde bekannt, dass das bekannte Drama extrem gekürzt worden sei. Nun, am Ende war es höchstens eine Textseite, denn gesprochen wird in dieser Performance nur marginal. Wer klassisches Theater erwartet, ist bei Dave St-Pierre fehl am Platz. Gezeigt wird eine sehr freie Interpretation der shakespearschen Vorlage, als großartige und vor allem bildgewaltige Tanz-Performance, ausschließlich mit Mitgliedern des Ensembles und vom SchauspielSTUDIO.
Alle acht haben in den vergangen Wochen hart geprobt, um jetzt hier mit vielen tänzerischen Attitüden und großem körperlichen Einsatz eine neue Sichtweise auf das düstere Königsdrama zu geben (der ursprünglich für die Titelrolle vorgesehene Max Meyer verletzte sich gleich zu Beginn der Proben so unglücklich am Fuß, dass er noch heute einen dicken Fußstabilisator tragen muss).
Suggestive, bildgewaltige Optiken bestimmen diesen grandiosen Abend. Dramaturgin Hannah Schwelger nennt sie im Programmheft „multimediale Körpersprachbilder“. Die Bühne ist weit geöffnet und nur gering ausgeleuchtet. Dies allein unterstützt die im Drama implementierte Darstellung des Bösen, wie es auch die eigens hierfür komponierte elektronische Musik des Kanadiers Stéfan Boucher tut. Dezente Geräusche steigern sich zu bedrohlichen, orgiastischen Klängen (schon beim Betreten des Hauses wird auf den Einsatz von Stroboskoplicht und lauter Musik hingewiesen).
Einzige Bühnenelemente sind blanke Tische, davon kommen bis zu vierzig zum Einsatz. Sie sind integraler Bestandteil der von Dave St-Pierre geschaffenen Choreografie (die in Zusammenarbeit mit Marie-Eve Carriére enstand) und werden fortwährend zu neuen Ensembles arrangiert. Wo die Figuren durch ihre tänzerisch anmutenden Bewegungen leichtfüßig über allem zu schweben scheinen, stehen sie gewissermaßen für die geerdete Verbindung zum Leben (Bühne: Jürgen Bäckmann). Videotechnik kommt nur sehr punktuell zum Einsatz, dafür sehr effektiv. Wenn beispielsweise umgekippte Tische oder Körper als Projektionsfläche dienen (Video: Alex Huot).
Aus den vielen beeindruckenden Bildern erwähnt sei der Beginn mit der Hexenszene an vier Tischen, an denen sich vier Performer (Katharina Bach, Jan Breustedt, Linda Pöppel, Lisa Stiegler) der Leidenschaft hingeben (zwar nackt anmutend, jedoch gibt es in dieser Inszenierung allenfalls freie Oberkörper). Aber auch das Trauern Malcoms (Lisa Stiegler) um ihren Vater Duncan, den ermordeten König von Schottland (Christoph Pütthoff), wenn dieser auf einer Bahre an Seilen über die Bühne geschwungen wird und sie dagegen anrennt, wirkt nachhaltig. Oder die beiden Auftritte der Lady Macbeth (Constanze Becker): Ihr majestätischer Aufzug im überweiten Reifkleid (Kostüme: Raphaela Rose ), unter dessen Schleppe zunächst ein Fuß, später zwei Wesen hervorkommen (Bild für das Böse, das ihr anhaftet) und ihr erhabener Abgang, wo sie in der Bühnenmitte quasi im Nichts verschwindet. Eine große Szene ist auch die Ermordung Lady Macduffs (Katharina Bach), wenn sie an einem längs aufgestellten Tisch nach und nach von Dämonen „verschlungen“ wird. Und natürlich das große Ende Macbeths (Viktor Tremmel), der die Fesseln seiner ermordeten Menschen einfach nicht los wird. Mitsamt einem großen Bündel zusammengefügter Schaumstoffleichen wird er in luftiger Höhe gehängt.
Viel Applaus für das nahezu wortlose Spiel (wobei es auch zahlreiche Zuschauer gab, die den Saal vorzeitig verlassen hatten. Dave St-Pierre und sein Team zeigten sich nicht beim Schlussapplaus, das ist aber wohl generell bei ihm so üblich).
Markus Gründig, April 15
Amerika
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 16. April 15 (Premiere)
Die Auswanderung von Europäern in die USA begann im 17. Jahrhundert. In den Jahren zwischen 1848 und 1918 fanden die meisten Emigrationen von Deutschen statt. Großen Anteil daran hatte die fortschreitende Industrialisierung, die sich auch in den immer größer werdenden Ozeandampfern zeigte (so war beispielsweise die legendäre Titanic weniger ein Kreuzfahrtschiff im heutigen Sinne, als ein Transportschiff für Geschäftsreisende und Aussiedler). Kein Wunder also, dass Franz Kafka schon als Kind das Thema beschäftigte, was dann später (1911-14) im Romanfragment „Der Verschollene“ mündete, das auch unter dem Titel „Amerika“ bekannt wurde.
Für das Schauspiel Frankfurt erarbeitete nun Philipp Preuss (er inszenierte hier u.a. „Die Kontrakte des Kaufmanns“ und „Das Käthchen von Heilbronn“) eine Bühnenfassung. Auch hier gilt wieder einmal, dass es hilfreich ist, sich vorab mit den inhaltlichen Grundzügen vertraut zu machen, auch wenn die einzelnen Kapitel sogar extra auf Leinwandbilder angekündigt werden, die von einem Diener über die Bühne getragen werden. Ramallah Aubrecht schuf hierfür einen Einheitsbühnenraum, eine riesige holzvertäfelte Aufzugskabine mit vielen Fenstern und Türen, einem Telefon, einem großformatigen Aufzugtastenfeld und einer Kurbel. Diese Aufzugskabine steht frei im Raum, die Seiten sind frei (bzw. mit einer behangenen Kleiderstange und anderen Utensilien verstellt). Das Epische Theater lässt grüßen, auch von der Spielweise her. Philipp Preuss wartet mit vielen grotesken und kafkaesken Momenten auf, die eher erheitern als erschrecken. Auszüge aus Antonín Dvořáks 9. Sinonie („Aus der Neuen Welt“) ertönen zum Beginn und zum Ende, dazwischen gibt es in einer gefühlten Endlosschleife The Doors‘ sentimental anmutendes „L’america“ zu hören.
Heidi Ecks, Elzemarieke de Vos, Michael Benthin, Vincent Glander und Sascha Nathan spielen im freien Wechsel und überaus virtuos die verschiedenen Figuren der Erzählung (unterstützt von Patricio Martin und Hubert Schulz als Diener). Das heißt, eine Figur ist nicht auf einen Schauspieler bezogen. Insbesondere die Hauptfigur, der nach Amerika kommende Karl Rossmann, wird von mehreren gespielt. Dazu gibt es u.a. den reichen Onkel Jakob und den Kapitän, die Halunken Delamarche und Robinson, die Oberköchin und die heruntergekommene Sängerin Brunelda (deren überfüllte Behausung sich gewissermaßen in ihrem gigantischen Kleid, im Stile einer Krinoline) widerspiegelt. Neben dem turbulenten Spiel innerhalb der kurzweiligen Szenen sorgen auch die vielen Kostümwechsel für Abwechslung. Diese reichen vom besagten Kleid der Sängerin über schicke Knickerbocker und Hoteluniformen bis hin zu Weltraumanzügen (Kostüme: Eva Karobath).
Kafkaeske Momente entstehen vor allem durch den Einsatz einer Videokamera. Fast wie ein Über-Ich werden auf den Fenstern der Aufzugkabine Gesichter und hochgezoomte Augen projiziert. So entstehen bizarr anmutende Bilder, die beeindrucken und dennoch dezent wirken (Video: Konny Keller). Am stärksten ist dabei die Szene mit der Sängerin Brunelda (brillant: Heidi Ecks), deren fahle und müde Augen auf einem großen Ballon über ihrem Kleid projiziert werden.
Am Ende schaut die zu Weltraumfahrern transformierte Theatertruppe vom Naturtheater von Oklahoma auf den Planeten Erde, der Heimat der entindividualisierten Menschheit.
Viel Applaus für die treffliche Umsetzung des Slapstickhaften der Erzählung.
Markus Gründig, April 15
Other Desert Cities
The English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 11. April 15
Nichts ist, wie es scheint.
„A sizzling comedy of family secrets“ heißt es im Untertitel zu Jon Robin Baitzs im Jahr 2011 uraufgeführtem Stück „Other Desert Cities“. Es knistert im English Theatre Frankfurt, wo das Stück jetzt seine Deutsche Erstaufführung hatte, vor allem im Kamin der Familie Wyeth. Eine Komödie, wie wir sie verstehen, ist es nicht wirklich, dafür aber eine packende Familiengeschichte. Um Ängste, um Wahrung eines äußeren Bildes um jeden Preis, um mangelnde Aussprache und der Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit und Eintracht, auch in einer Familie, wo die Kinder schon längst Erwachsene sind.
Baitzs Drama handelt von einer konservativen Künstlerfamilie, die sich in den Sonnenstaat Kalifornien zurückgezogen hat und dort in der Wüstenstadt Palm Springs ein beschauliches Leben führt, sich die Zeit mit Tennis und Golf vertreibt. Doch nur solange, bis die Tochter nach über sechs Jahren Abstinenz ausgerechnet an Weihnachten zurückkehrt und als Überraschungsgeschenk ihre neuestes Werk präsentiert, „Love and Mercy“, Memoiren über die Familiengeschichte, den Selbstmord ihres Bruders Henry und die Schuld ihrer Eltern daran.
Regisseur Tom Littler, der zu Spielzeitbeginn bereits Patricia Highsmiths „Strangers on a Train“ im English Theatre Frakfurt inszenierte, führt auch für „Other Desert Cities“ Regie. Das Bühnenbild entwarf Bob Bailey, der schon viele großartige und stets sehr unterschiedliche Bühnenbilder für das English Theatre Frankfurt entworfen hat. Die Bühne von „Other Desert Cities“ zeigt das großzügige Wohnzimmer der Familie Wyeth, mit einer schönen Stein-Vertäfelung an einer Wand (mit integriertem Kamin) und einer Glasfront zum Garten (im Hintergrund schimmert die Gipfelkette der San Jacinto Mountains). Die Mutter war einst Drehbuchautorin, doch Bücher gibt es keine zu sehen, auch keinen Fernseher. Dafür einen Barwagen, dessen Angebote immer wieder gerne genutzt werden und einen wunderschön geschmückten großen Weihnachtsbaum, unter dessen Zweigen zahlreiche schön verpackte Geschenke lagern. Eine kleine Bildergalerie ist an der Seite aufgehängt. In der Mitte steht auf einem kleinen Sofatisch ein Telefon, aber obwohl es schon zu Beginn klingelt, geht keiner ran (was sich später durch die weitere Handlung erklärt).
Das Stück spielt an einem einzigen Tag, dem 24. Dezember 2004. Er verändert das Leben der Familie Wyeth, die schon so viel durchgemacht hat, fundamental. Aber zum Guten, schlussendlich kommt es anders, als gedacht und selbst die kritische Tochter ist dann baff. Mehr sei hier jedoch nicht verraten.
Der Titel nimmt Bezug zu einem Straßenschild der kalifornischen Schnellstraße Interstate 10, das Richtung „Indio und andere Wüstenstädte“ weist. Dabei ist nicht nur Palm Springs als Wohnort der Wyeths gemeint, es ist auch im übertragenen Sinn ein Bild für deren Leben in Falschheit.
Die fünf beteiligten Darsteller spielen sehr authentisch. Ian Barritt gibt den gestandenen Vater Lyman, der einst Schauspieler war (und noch immer lange sterben kann), Mary Doherty imponiert als Tochter Brooke, die mit Hilfe ihrer Memoiren ihre Depressionen überwunden hat und nun bereit ist, die Liebe ihrer Eltern aufs Spiel zu setzten. Großartig ist Diane Fletcher als stets gefasste Mutter Polly, eine Grande Dame modernen Formats par excellence. Kate Harper ist als dauertrunkene und dauerschlafende Tante Silda ein sympathischer Gegenpol, was sich auch für den jugendlich wirkenden TV-Moderator Trip des James McGregor sagen lässt, der vermittelnd in dem Familienstreit wirkt.
Die sehenswerte, insgesamt knapp zwei stündige Aufführung (70 Minuten im ersten, 45 Minuten im zweiten Teil, plus Pause) ist noch bis zum 31. Mai 15 im English Theatre Frankfurt zu sehen. Wie üblich gibt es innerhalb der ersten Woche einen Rabatt von 25% auf den Eintrittspreis. Also schnell um Karten kümmern…
Markus Gründig, März 15
Dantons Tod
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 26. März 15 (Premiere)
Georg Büchners Revolutionsdrama „Dantons Tod“ beleuchtet vor dem Hintergrund der Französischen Revolution die zwei einflussreichsten Gestalten derselben: Georg Danton und Robespierre. In vier Akten werden ihre unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen und ihre unterschiedlichen politischen Ansichten behandelt. Mit 21 Jahren schrieb Büchner, unter Verwendung von Originalreden, sein Erstlingswerk, nachdem er mit der sozialrevolutionären Flugschrift „Der Hessische Landbote“ erstmals für Aufmerksamkeit gesorgt hatte. Wenige Jahre nach der Französischen Revolution ist von den guten Absichten nichts mehr übrig. Der Volkstribun der Gemäßigten (Danton) und der Tugendterrorfürst (Robespierre) stehen sich unversöhnlich gegenüber, beide werden schließlich selber Opfer der Guillotine.
Die Inszenierung von Ulrich Rasche, die jetzt im Schauspiel Frankfurt Premiere feierte, ist ein herausragendes handwerkliches Kunststück, allein schon wegen der ungewöhnlichen Bühnenoptik und dem chorischen Einsatz des Ensembles (Rasche inszenierte ähnlich bereits im Jahr 2010 Goethes „Wilhelm Meister“ im Bockenheimer Depot). Beide Elemente vermitteln eine außergewöhnlich faszinierende Ästhetik und Atmosphäre, die ihresgleichen sucht.
Die Darsteller laufen auf sich nahezu unaufhörlich drehenden Riesenwalzen, die bedrohlich aus der Bühne hervorragen. Es sind drei Röhren, die die Übermacht der Mechanik des äußeren Geschehens versinnbildlichen und genial Dantons Mühlwerk darstellen, in das er gefallen zu sein glaubt. Etwas Nebel und die Umpositionierung, sowie Anhebung und Absenkung der Walzen bewirken gewisse szenische Veränderungen innerhalb der pausenlosen 135 Minuten Spielzeit. Mit ihren deutlich sichtbaren Sicherungsseilen wirken die Darsteller zudem wie Marionetten, so wie die Figuren von Büchner auch selber bezeichnet wurden. Gesprochen wird Büchners, leicht gekürzter Text, von allen sehr akkurat. Durch die Loslösung von realen Orten (wie Pariser Gassen, Jakobinerklub oder Palais de Luxembourg) und die kunstvoll arrangierten chorischen Auftritte und der Besonderheit des szenischen Spiels hier, ist es ist leichter, dem Handlungsverlauf des Stückes zu folgen, wenn Grundkenntnisse der Handlung vorhanden sind. Die Anhänger Dantons tragen weiß/schwarze legere Kleidung, die Anhänger Robespierres formstreng schwarze (Kostüme: Sara Schwartz).
Ein besonderes Element der Inszenierung ist die musikalische Begleitung von drei Sängern (Guillaume François, Maurice Lenhard, Arturas Miknaitis) und vier Musikern an Bass, E-Gitarre und Violoncello (Aki Kitajima, Ruben Jeyasundaram, Thomsen Merkel, Jan Terstegen). Die Musik, eigens komponiert von Ari Benjamin Meyers, unterlegt das fortlaufende Drehen der Riesenröhren und sorgt, wie auch die ausgefallene Lichttechnik von Johan Delaere, für weitere Akzentuierungen.
Den Abend prägt Torben Kessler als großartiger Georg Danton maßgeblich. Zunächst als passiver, ja quasi gelähmter Revolutionsführer, der schon fast der Welt entrückt zu sein scheint, dann wandelt er sich stark hin zu kämpferischer Größe (und dies im langsamen aber kontinuierlichen Dauerschritt, ob der sich ständig drehenden Walzen). Dantons Widersacher, den geschickt agitierenden Wortakrobaten Robespierre, gibt prägnant Nico Holonics. Isaak Dentler bringt sich als Souffleur Simon und vor allem kühn als Chefideologe der jakobinischen Revolution St. Just, ein. Maximilian Meyer-Bretschneider gefällt als schöngeistiger Camille. Die Damen sind in dieser Männerwelt nur Randfiguren, wobei die Auftritte von Anna Böger als gefasste Julie und Paula Hans als Lucile mit poetischer Ausstrahlung, in Erinnerung bleiben.
Am Ende dreht sich die Welt in Form der Rollen weiter, die Protagonisten hängen tot in der Luft, ein erneut imposantes Bild. Viel Applaus für diese außergewöhnliche Umsetzung.
Markus Gründig, März 15
Wut und Gedanke
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 14. März 15
Vor einem Jahr hatte Rene Polleschs „Je t´ Adorno“ in einer Produktion des Schauspiel Frankfurt Premiere im Bockenheimer Depot. Damals spielten Linda Pöppel, Silvia Rieger, Vincent Glander, Oliver Kraushaar und Lukas Rüppel. Hierbei wurde Adornos Gedankenwelt aus der Sicht von Pollesch recht humorvoll aufgefächert. „Wut und Gedanke“ ist nun eine direktere und intensivere Auseinandersetzung mit Adorno, dem Hauptvertreter der Kritischen Theorie und der Frankfurter Schule, dem Essayisten und Gesellschaftskritiker, Musiktheoretiker und Komponisten, Soziologen und Hochschullehrer.
Christian Franke, seit 2012 Regieassistent am Schauspiel Frankfurt, hat hierfür einen Monolog verfasst, der viel Biografisches von Adorno und seinem talentiertesten Schüler Hans-Jürgen Krahl enthält. Anhand ihrer Beziehung zueinander erzählt Franke viel Grundsätzliches über die Frankfurter Schule, die Studentenbewegung und das Verhältnis von Theorie und Praxis.
Schon während sich das Publikum in der Eingangshalle des Poelzig-Baus auf dem Campus Westend sammelt, hat es Gelegenheit, sich auf Adorno einzustimmen. Am „Adornomat“ können für 10 Cent Kugeln mit Sprüchen (wie „Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen“) erworben werden. Weitere Aphorismen finden sich dann auch auf Treppen und in einem Gang auf den Weg in den Bibliothekssaal. Sowie, wie einem erst beim Verlassen bewusst wird, auf einem Banner innerhalb des tempelartigen Pfeilerportikus („Bockenheim bleibt stabil“, was sich auf Krahls ungebrochenen Kampfesmut bezieht). Innerhalb der Eingangshalle gibt es auch eine Vitrine mit einer 2D Adorno-Papp-Action-Figur, die von Gegenständen der Zeit (Bugera Gitarrenverstärker, Disco-Kugel und Rollschuhen) umgeben ist und auf deren Rückseite sich eine Aufforderung zur Erweckung der eigenen philosophischen Power findet.
Produktionen des Schauspiel Frankfurt an anderen Orten sind immer ein besonderes Erlebnis, schon allein ob der Exklusivität und der Locations. Die Aufführungen für „Wut und Gedanke“ finden im zweistöckigen Lesesaal 2 des Fachbereichs Germanistik (innerhalb des Bibliothekszentrum Geisteswissenschaften der Universität Frankfurt) statt. Pro Vorstellung können maximal 50 Zuschauer daran teilnehmen. Diese sitzen dann um einen großen Tisch, umgeben vom geballten Bücherwissen: eine imposante Atmosphäre (Raum: Sabine Mäder). Auf dem großen Tisch steht einzig ein Taschenbuch-Schober mit allen von Adorno zu Lebzeiten publizierten Schriften sowie die abgeschlossenen Texte aus dem Nachlass. 10952 Seiten, 20 Bände, verteilt auf 23 Taschenbücher (bei Suhrkamp für Euro 230,00 erhältlich).
Vincent Glander, seit der Saison 2012/2013 Ensemblemitglied, spielt eindringlich den Studentenaktivisten Jürgen Krahl (und zitiert im nachgestellten Originaltonfall Adorno). Er erzählt von seinem Weg von der anfänglichen Mitgliedschaft bei der CDU bis hin zu seinen Tätigkeiten als Rädelsführer des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds und natürlich vom Spannungsverhältnis zum ewigen „Nein-Sager“ Theodor W. Adorno. Dabei werden viele Themen angerissen, die von ihrer Aktualität nichts verloren haben. Wie die Entwicklung der Menschen zu reinen Funktionsträgern, zu Gattungswesen ohne eigenständiges Profil, wie der Wegfall von sinnlicher Mannigfaltigkeit und die bedenklichen Finanzierungen der Universitäten durch die Wirtschaft, um nur einige zu nennen. Den, durchaus auch trinkfreudigen, „Robespierre von Bockenheim“ gibt er mit großer Intensität, erklimmt dabei Tisch, Leitern und Empore. Dabei trägt er die meiste Zeit einen grauen Pulli und ein schwarzes Jackett (Kostüme: Raphaela Rose) und hat ein Glasauge, wie der Intellektuelle Krahl auch eines hatte. Nach dem Verweigern einer konkreten Utopie seitens Adornos und dessen überraschendem Tod (Herzinfarkt) zieht er sich legere Freizeitkleidung über und flattert gewissermaßen als Rotkehlchen davon. Im Programmflyer wird hierzu Adorno zitiert: „…Dennoch lauert im Gesang der Vögel das Schreckliche, weil er kein Gesang ist, sondern dem Bann gehorcht, der sie befängt…“.
Krahls letzter Konterspruch zu Adorno (und im Stück) ist: „Wer noch an Revolution denkt, ist ein Vogel“. Die Krux zwischen Aktivismus und dem Traum von persönlicher Erfüllung wird durch diesen Monolog schön zur Disposition gestellt. Sehr viel Beifall für Vincent Glander (in der besuchten Vorstellung vor allem vom euphorischen Tolga Tecin).
Markus Gründig, März 15
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 6. März 15 (Premiere)
Mit seinen 146 Seiten sind Dostojewskis „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ recht kurz gehalten, vergleicht man sie mit seinen großen Romanen. Die aus den beiden Teilen „Das Kellerloch“ und „Bei nassem Schnee“ bestehenden Aufzeichnungen sind deswegen aber noch lange nicht kurzweilig. Es sind eigenwillige Erzählungen eines Menschen, der sich gewissermaßen der Gesellschaft und ihren Erwartungen entzieht und sich in seinem Mikrokosmos seine Freiheit bewahrt.
Dies zu dramatisieren gelang Hans Block, Mitglied des Schauspiel RegieSTUDIO fulminant, mit Verena Bukal, als von sich und dem Leben enttäuschter Kellermensch. Block beschränkte sich dabei im Prinzip auf den ersten, mehr essayistischen Teil der Erzählung.
Dabei wirkte er auch als sein eigener Bühnenbildner. Das „Kellerloch“ besteht in der Spielstätte „Box“ aus einer schwarzen Holzhütte mit einer großen Fensterfront. Innen findet sich eine gelungene Umsetzung für die umfangreiche Gedankenwelt des Kellermenschen. Die Wände sind voll mit Musik-Kassetten in spießig akkurater Anordnung. Dazu tragen die Wände Schriftzüge, die jedoch keine vollständigen Sätze erkennen lassen. Dazu ein Tisch, ein Sessel und eine Stehlampe mit den Namen Gustav. Eine zum Einsatz kommende Axt ziert in großen Lettern „Raskolnikow“ auf dem Stiel (Raskolnikow ist ein veralteter Titel für Dostojewskis erstem großen Roman „Schuld und Sühne, nach der Hauptfigur des Rodion Raskolnikow). Insgesamt eine sehr schöne und stimmige szenische Umsetzung.
Verena Bukal ist eine der wenigen begnadeten Darstellerinnen, die schon mit ihrem Gesicht einen ganzen Roman erzählen kann, ohne ein Wort zu sprechen. Und stumm fängt sie diesen Abend auch an, aber nicht lautlos. Im Gegenteil. Die zunächst offenen Türen werden nicht nur lautstark zugeknallt und verschlossen, sondern auch mit Holzlatten von innen gesichert. Das Reich des Kellermenschen ist somit ohne Kontakt zur Außenwelt und unantastbar. Aber ganz ohne Mitmenschen geht es auch nicht, selbst nicht für den isoliert lebenden und denkenden Kellermenschen. So sind seine umfangreichen Aufzeichnungen schon an das Publikum, an die „Herrschaften“ gerichtet. Bukal kommt dabei immer wieder aus ihrem Kellerloch, dass sie als ihren „Winkel“ bezeichnet, heraus und tritt vor das Publikum, schlägt Purzelbäume und gegen eine Wand, schwingt kraftvoll eine Axt: Während ihres 80-minütigen Monologs ist sie mit großem körperlichen Einsatz dabei, enorm facettenreich, von verstört bis leicht verrückt, von bekümmert bis vor Leidenschaft explodierend und stets überaus präsent. Dabei ist ihre Figur alles andere als einfach, ein Mensch, der sich selbst als krank, böse und abstoßend bezeichnet. Sie macht daraus eine fesselnde Figur eines Menschen, der über seine Lebenslügen räsoniert und sich mit seiner passiven Revolution als Gemeinschaftsverweigerer gibt.
Ganz alleine ist sie dann aber auch nicht, ihr wurden drei Musiker an die Seite gestellt (Tanja Haupt, Alicja Kurplowna Pilarczyk, Kilian Fröhlich), die zunächst eingespielte Clubsounds musikalisch reflektieren, dann aber auf ihren Violen und Cello immer mehr klassische Musik spielen (Musikalische Leitung: Felicitas Conrad). Diese Einlagen geben ihr und dem Publikum kurze Verschnaufpausen. Am Ende gibt es sogar ein gut fünfminütiges reines Musikstück zu hören, das wie Haydens Abschiedssinfonie beendet wird: Nacheinander hören die Musiker mit ihrem Spiel auf und löschen ihr Licht am Notenpult: Fine.
Markus Gründig, März 15
Das Spiel ist aus
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 27. Februar 15 (Premiere)
„Stirb und werde“
Halbtote erlebten in den letzten Jahren durch Film- und TV-Serien wie „Blade“, „Buffy“, „Twilight“ und „Vampire Diaries“ eine wahre Wiederauferstehung. Dabei beschäftigt die Menschen schon seit jeher das Jenseits. Mit die älteste Auseinandersetzung damit bietet die griechische Mythologie mit der Geschichte von Orpheus und Eurydike. In dem 1943 geschriebenen Drehbuch „Das Spiel ist aus“ des französischen Schriftstellers und Philosophen Jean-Paul Sartre geht es auch um ein Paar an der Grenze zwischen Ober- und Unterwelt. Der Hauptvertreter des französischen Existenzialismus hatte im gleichen Jahr wie „Das Spiel ist aus“ auch sein philosophisches Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“ geschrieben.
Ausgeklügelte Videotechnik bereichert die Dramatik
Für das Schauspiel Frankfurt hat es nun Alexander Eisenach in den Kammerspielen inszeniert (in der Bühnenfassung von Peter Hailer, Andreas Schäfer und Claudia Grönemeyer). Eisenach war in der vergangenen Saison Mitglied des RegieSTUDIOS, wo er in der Spielstätte „Box“ die Stücke „Wälsungenblut“ und „Fauser, mon amour“ inszenierte, sowie in den Kammerspielen „Das Leben des Joyless Pleasure“ (im Rahmen von „Regiestudio-Das Festival“). Schon bei „Fauser, mon amour“ nutzte er raffiniert moderne Videotechnik für seine Umsetzung. Für Sartres Drehbuch feilte er weiter an dieser Live-Kombination von Spiel und Video. Hochgezoomte Nahaufnahmen der Darsteller vermitteln eine wesentlich intensiverer Dramatik, gleichwohl wirkt das Ganze stets sehr harmonisch, die Videosequenzen nicht als Fremdkörper, sondern als integraler Bestandteil eines Gesamtkunstwerkes (wobei es hier nicht so auf die Spitze getrieben wird wie bei Kai Voges Inszenierung von „Endstation Sehnsucht“ im Schauspielhaus). Die örtlichen und zeitlichen Abstimmungen sind für die Darsteller und den Mann an der Live-Kamera (Oliver Rossol) sicher eine große Herausforderung. Trotz aller scheinbaren Lockerheit sitzt jedes Bild akkurat. Die Videobilder werden überwiegend auf einen Gazevorhang projiziert, der über die gesamte Bühnenbreite gezogen wird, dennoch wirkt er nicht wie eine Wand. Die Darsteller können ihn anheben und beispielsweise vor ihn treten. Dabei entstehen famose Bilder. Beispielsweise, als Ève gestorben ist und nun gewissermaßen von außen beobachtet, wie sich ihr Mann an seine Schwester ran macht. Die Dramatik der Szene wird durch die Videotechnik grandios bereichert.
Symbiose von Fiktion und Realität und die Bürde der Freiheit
Eisenach belässt es nicht bei einer schlichten Nacherzählung der Geschichte von Ève und Pierre, obwohl er vieles übernommen hat (wie die Bedeutung von Spiegeln, das Tanzen des Liebespaares, das beinahe Zusammentreffen einer jungen eleganten Frau und eines einfachen Arbeiters). Das Drehbuch (des Lebens) wird mehrfach verlassen, dann diskutieren oder monologisieren die Schauspieler über die Realität und die Bürde der Freiheit. Die Souffleuse Christina wird dabei „spontan“ mit einbezogen. Viele Themen Sartres werden schlagwortartig zur Diskussion gestellt. Wer bestimmt unser Drehbuch des Lebens, ist alles vorherbestimmt, wie viel Freiheit haben wir, und wenn wir sie haben, wie gehen wir mit dieser Bürde um? Ernstes und Heiteres wird hier geschickt arrangiert und Sartres Gedankenwelt humorvoll aufgefächert. Dabei vergehen die 2 Stunden 40 Minuten Spieldauer (inklusive einer Pause) wie im Fluge.
Vertauschte Welten
Die Bühne von Daniel Willenzin (der zuletzt die karge Bühne von „Die Blechtrommel“ am Schauspiel Frankfurt gestaltete) zeigt mehrere Ebenen. Am offensichtlichsten ist hier ein Steg, der als Laguénesie-Gasse (Genesis-Gasse) direkt an die Pforte der Unterwelt führt, an deren Tür (die es nur in der 1. Spielzeithälfte gibt, wie auch eine Uhr im Zimmer) das Zitat „Stirb und werde“ prangt (dieser Auszug aus Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht“ bietet allein schon viel Stoff zum Nachdenken). Dahinter sitzt unter einem Bild des Eiffelturm (das Stück spielt in Paris) Madame Barbezat (Sven Michelson, dort am Pult auch live die Musik abmischend), die zu ihr kommenden Besucher haben nur Platz zum Stehen. Der mittlere Teil der Bühne ist leer. Auf der Schräge sind viele Fenster und Öffnungen zu sehen. Die Zwischenwelt ist also auf der Bühne und im Publikumssaal verortet (das Publikum beobachtet als Tote das Geschehen). Im Teil nach der Pause steht dann ein großes Kunstobjekt auf der Bühne, das allerdings nicht in das Geschehen eingebunden ist. Es ist eine aufwendige Nachbildung der NATO-Skulptur aus Brüssel (was eine Rückfrage ergab), ein tieferer Sinn hierzu erschließt sich nicht unmittelbar.
Darunter, im Bühnenboden wie bei „Gertrud“ (2007), befindet sich die reale Welt des Drehbuchs, also die Wohnung der Charliers und die Bude der Revolutionäre.
Mehr Ensemblestück als Liebesdrama
Stehen im Drehbuch auch die Figuren Ève und Pierre im Mittelpunkt, überwiegt in der Inszenierung von Alexander Eisenach der Ensemblecharakter. Gleichwohl gibt Claude De Demo eine herausragende Ève Charlier. Eine elegante und tief empfindende Frau, die sich aber auch bei ihrem Todeskampf slapstickartig über ihr Bett wirft. Christoph Pütthoff gibt den wortgewandten Revolutionär Pierre Dumaine mit großer Charmeoffensive. Verführerisch, schon mit der Kraft ihrer Augen, ist Katharina Bach als Èves Schwester Lucette, hier auch Teil der revolutionären Zelle. Letztere trifft sich als illustre Truppe zur Lagebesprechung, ein Kaffeeklatsch der besonderen Art, denn die Herren geben sich bizarr. Wie Lucien Derjeu, der spätere Denunziant (Viktor Tremmel mit Rauschebart und Damensommerhut), oder ein anderer Revolutionär (Oliver Kraushaar im Kleid und ordentlichen Brüsten; Kostüme: Julia Wassner). Kraushaar beweist zudem viel Beweglichkeit und Kraft, wenn er bei einer überzeichneten Volksszene auf Händen und Füßen (in der „Brücke“) die Bühne durchquert. Als eine Art Conférencier, als Èves Ehemann Anré Charlier und alsRegent gefällt Lukas Rüppel.
Sehr viel Applaus für diese beschwingte Umsetzung von so existenzphilosophischen Grundfragen. Der Film von 1947 ist übrigens in voller Länge auf gratis Youtube zu sehen.
Markus Gründig, Februar 15
Nachtasyl
Schauspiel Frankfurt in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main und der Hessischen Theaterakademie (im Bockenheimer Depot)
Besuchte Vorstellung: 20. Februar 15
Wie Obdachlose in Deutschland leben, hatte 2009 schon Günter Wallraff recherchiert und medienwirksam präsentiert. Insbesondere im Winter stehen sie vor großen Problemen, gibt es doch viel zu wenig passende Schlafmöglichkeiten, sodass im Freien, im Bereich von Läden- oder Geschäftseingängen, geschlafen wird. Die Situation hat sich bis heute nicht verbessert, obwohl allein in Frankfurt am Main in diesem Winter rund 400 Notübernachtungsplätze zur Verfügung gestellt werden und Wohnsitzlose auch in der B-Ebene der Hauptwache schlafen dürfen (was auch rege in Anspruch genommen wird). Der russische Dramatiker Maxim Gorki machte in seinem 1902 uraufgeführtem „Nachtasyl“, das auch als „Szenen aus der Tiefe“ übersetzt wird, gestrandete Menschen zu Gästen einer russischen Nachtherberge (wie Arbeitslose, Diebe, Prostituierte und auch einen Schauspieler). Seine Thematisierung vom „Lumpenproletariat“ hat Geschichte geschrieben. In der Inszenierung von Johanna Wehner im Bockenheimer Depot ist davon ein kleiner Teil zu sehen.
Für die Produktion des Schauspiel Frankfurt, der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt und der Hessischen Theaterakademie wurde eine radikale Strichfassung erstellt, die keine Milieuschilderung ist. Die vier Akte wurde zu einem Akt zusammen gefasst, die siebzehn Rollen wurden auf sechs Rollen gekürzt. Dennoch geht das Stück 90 Minuten und das ist nur möglich, weil es viele Wiederholungen gibt, von Wörtern, Sätzen und Szenen. Das ohnehin handlungsarme Drama wurde krass beschnitten: Die Handlungen um das Ehepaar Kostylew, die das Obdachlosenasyl betreiben, entfiel komplett.
Regisseurin Johanna Wehner (in der vergangenen Spielzeit Mitglied des RegieSTUIO und jetzt Oberspielleiterin am Theater Konstanz) nutzte die Vorlage als Folie für einen Blick auf Menschen, die in ihrer Situation gefangen sind. Sie reden zwar ständig davon weg zu gehen, doch jeder Versuch scheitert. Wenn nicht an der nahen Rückwand, dann im Foyer (nur Pilger Luka entschwindet). Ihr Leben gleicht einer Spirale, sie drehen sich endlos im Kreis und kommen nicht weiter.
Einleitend und später dann auch bei den fünf oder sechs „Fluchtversuchen“ ertönt das festlich anmutende wie leidenschaftliche und sogartige Motiv aus dem zweiten Satz (Allegretto) von Beethovens 7. Sinfonie (A-Dur). Ausblick auf eine andere Welt, die aber nie erreicht wird.
Charakteristisch für diese Sinfonie ist ihre rhythmische und harmonische Gestaltung. Sehr rhythmisch ist auch der gesprochene Text, der bis ins Groteske verzerrt gesprochen wird, oftmals auch lautstark abrupt gebrüllt und geschrien wird (so dass man geneigt ist, die Ohren zuzuhalten oder den weiblichen Protagonistinnen den Mund zuzukleben). Bei dieser Überzogenheit sieht man keine Figuren, nur Schablonen.
Die sechs Schauspieler der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt geben dabei sehr viel. Dabei darf man sie nicht mit dem Ensemble vom Schauspiel Frankfurt vergleichen, schließlich sind sie noch im 3. Ausbildungsjahrgang.
Anica Happich gibt reizend die Natascha, die mit Picknickkoffer und Sektgläsern ihren Sehnsüchten hinterher rennt und die Truppe immer wieder beim „Ausbrechen“ anführt. Anabel Möbius gibt mit großem Einsatz und vielen Seufzern das Straßenmädchen Nastja, die sich ihre eigene Liebesgeschichte um einen Grafen strickt. Alexej Lochmann versucht sich als Dieb Pepel Geld zu erbetteln. In der besuchten Vorstellung wurden dafür aus den hinteren Publikumsreihen sogar 2 Euro nach vorne durchgereicht (allerdings stoppte die Aktion an mangelnder Teilnahmebereitschaft der 2. Reihe).
Mit guter Präsenz gibt Baris Tangobay den verkommenen Baron (wenn auch etwas zu agil in seiner nicht richtig sitzenden Hose). Eindringlich in Erinnerung bleibt vor allem Matthias Vogel als Kleschtsch. Dies weniger, weil er, die Farbe gelb liebend, zufällig die aus Nataschas Picknickkorb gefallenen gelben Highheels findet und publikumswirksam anzieht, sondern weil er als einziger glaubhaft eine desillusionierte Figur zeigt.
Aus dem Rahmen fällt, schon bei Gorki, der Pilger Luka, der hier von Johanna Franke gegeben wird. Sie kommt über die Brüstung der Publikumstribüne zu den anderen, doch bleibt sie mit ihrem strahlenden Optimismus eine Fremde in dieser Truppe gestrandeter Menschen. Die Kostüme von Ellen Hofmann sind ganz heutig, mit Jeans und Kunstleder, Pullover oder Jogginganzug.
Die Bühne von Sami Bill besteht aus einem flachen Podest mit vielen Leitern (gespielt wird in einem Seitenschiff des Bockenheimer Depot). Sie führen nirgends hin und spiegeln die Illusion von anderen Orten schön wider. Gelungen ist auch die Rückwand, eine Mischung aus groben Gold- oder Roststrukturen (je nach Lichteinfall; Licht: Alexander Kirpacz), also gewissermaßen Hoffnung auf eine bessere Welt und gleichzeitig die nüchterne Realität widerspiegelnd. Wobei es insgesamt kein kalter, nüchterner Raum ist, was ein Zuschauer beim anschließenden Publikumsgespräch anmerkte, sondern ein ob der existentiellen Probleme der Protagonisten zu schön ausgeleuchteter Raum.
Am Ende viel Applaus für den Schauspielnachwuchs. Hohe Anerkennung für die schauspielerische Leistung wurde beim anschließenden Publikumsgespräch mehrfach ausgesprochen.
Markus Gründig, Februar 15
Seid nett zu Mr. Sloane
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 7. Februar 15 (Premiere)
Ein alter Hut, aber dennoch sehr selten auf einem Spielplan: John Ortons „Seid nett zu Mr. Sloane“ aus dem Jahre 1964, das noch im gleichen Jahr seine deutschsprachige Erstaufführung am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg erlebte. Der britische Autor, Jahrgang 1933, führte ein turbulentes Leben und erlaubte sich allerhand Entgleisungen. Als Dramatiker war er bemüht, gesellschaftliche Tabus zu brechen. Auch wollte er die damalige Ghettosituation von Homosexuellen verbessern, in denen er diese in seine Stücke einband. 1967 wurde er im Alter von 34 Jahren von seinem Freund mit einem Hammer erschlagen.
„Seid nett zu Mr. Sloane“ ist ein groteskes und makabres Kriminalstück in drei Akten. Ein junger Mann kommt als Untermieter zu einem Geschwisterpaar und zwischen den drei entwickelt sich eine Dreiecksbeziehung, in der jeder seine Position finden muss, was nicht einfach ist, zumal ein störrischer alter Vater auch noch mit im Spiel ist und der Besucher eine düstere Vergangenheit hat. So passt es lose zum Spielzeitmotto des Schauspiel Frankfurt „Über Leben“. Inszeniert hat es Jürgen Kruse, der zuletzt Borcherts „Draußen vor der Tür“ in den Kammerspielen umgesetzt hat (September 2013). Damals und auch bei „Seid nett zu Mr. Sloane“ zeichnet er nur als Co-Regisseur verantwortlich, was den Schauspielern mehr Freiräume ermöglicht.
Die Bühne, wie bei Borchert auch hier wieder von Volker Hintermeier, nutzt die Fläche der Kammerspiele voll aus, sie wirkt optisch größer, als sie eigentlich ist. Die Behausung der Familie Kemp ist ein Raum ohne Fenster, mit zwei Ebenen einer Empore und offenen Seiten. Die Wände sind mit weinroten Tapeten versehen, es gibt wenig Licht, meist von Steh- und Tischlampen aus der Nachkriegszeit. Die Wohnung ist gut gefüllt, auch mit Kuriosem, wie ein mit allerlei Krimskrams voll gestelltes Aquarium oder einem riesigen Insekt, das an der rechten Wand hängt.
Ein von Regisseur Jürgen Kruse gemaltes Bild ist nicht nur im dünnen Programmheft ganzseitig abgedruckt, es wird auch auf den Bühnenvorhang und in den Raum projiziert. Es zeigt im kunterbunten Comic-Stil Menschen (mehrheitlich Frauen) in der Freizeit, wie sie Spaß haben bei Sport, Tanz oder sonstigen Freizeitaktivitäten (reales Arbeitsleben wird allenfalls mit einem Förderwerk auf einem Bild angedeutet). So lebhaft wie auf dem Bild geben sich die Akteure im Stück nicht. Insbesondere Kathrin Kemp ist wie in einer Zeitschleife gefangen. Sie erzählt, sich ständig wiederholend, von den Wintervorhängen, die gegen die leichteren Sommervorhänge ausgetauscht werden müssten, oder vom WC, das man erst einmal sehen müsse. Den Verlust ihres Kindes hat sie nicht überwunden, da kommt ihr der junge Beau Sloane als Kind- und Loverersatz gerade recht. Heidi Ecks gibt sie mit wunderbarer Direktheit und großer tragischer Komik. Mehrfach wechselt sie ihre Kleider und Perücken und tritt so als unterschiedliche Typen in Erscheinung (Kostüme: Sebastian Ellrich).
Ihr schwuler Bruder Ed scheint einen gehobenen Job zu haben, worauf nicht nur sein Schreibtisch hinweist, sondern dass er sich auch einen Chauffeur leisten kann. Oliver Kraushaar gibt ihn gefasst und männlich. Es gibt zwar eine kurze leidenschaftliche Szene zwischen Ed und Sloane, Eds Neigung für Männer kommt ansonsten aber nicht rüber. Manuel Harder als Mr. Sloane gelingt das doppeldeutige Spiel zwischen den Geschlechtern sehr gut. Seinem Sloane ist scheinbar fast alles vollkommen egal, Hauptsache er hat Kost, Logis und Vergnügen. Neben dem greisen Vater (Michael Altmann) sorgt noch „Angeldust“ (Marie Ditter) für akustische und visuelle Unterstützung (als Federn und Tischtennisbälle werfende und als graziös im Hintergrund auf- und ablaufende stumme Figur).
Kruse zeigt das Stück in illustren 2 3/4-Stunden (mit Pause „nach der besseren Hälfe“) und mit viel Musik unterlegt. Zahlreiche Wortspielereien (Wiederholungen, bewusste Fehlsprecher für anzügliche Doppeldeutigkeiten etc.) und Einbindung von englischen Sätzen und Wörter, lockern den Abend auf. Stürmischer Jubel am Ende.
Markus Gründig, Februar 15
Zwei Uhr nachts
Schauspiel Frankfurt (im Bockenheimer Depot)
Besuchte Vorstellung: 1. Februar 15 (Premiere)
Seit 2001 gibt es die Frankfurter Positionen, die Initiative der BHF-Bank Stiftung, die neue Positionen deutscher und internationaler zeitgenössischer Künstler vorstellt. So wurden seit 2001 fast 120 Theaterautoren, bildende Künstler, Komponisten, Choreografen und Filmemacher beauftragt, für das Festival neue Werke zu schaffen.
Die diesjährigen Frankfurter Positionen standen unter dem Thema AUSGESCHLOSSEN. BRÜCHE ZWISCHEN DEN WELTEN und wurden mit der Uraufführung von Falk Richters „Zwei Uhr nachts“ am 1. Februar 15 im Bockenheimer Depot beendet. Die Produktion des Schauspiel Frankfurt ist dort an ausgewählten Tagen noch bis zum 22. März 15 zu sehen, also über das Festival hinaus.
Das Stück ist ein Auftragswerk für die Frankfurter Positionen und Falk Richter, der hier in Personalunion als Autor, Regisseur und Choreograf agiert, hat es den Frankfurter Bürgern auf den Leib geschrieben. Also einem gewissen und nicht unerheblichen Teil, nämlich den vielen Bürgern, die ihren täglichen Kampf im Großraumbüro der Bankenmetropole führen, wo die Arbeitswelt zum Familienersatz mutiert und kaum noch wahrgenommen wird, dass es mehr als die Arbeit gibt. Doch nachts um zwei kommen Fragen auf, nach dem Sinn und Zweck all der Hetzerei, der vielen E-Mails, Skype-Telefonaten und sonstiger Online-Aktivitäten. Und eine Leere tut sich auf, ein großes dunkles Loch reißt auf und stellt die Frage nach dem persönlichen Glück, nach menschlicher Nähe und Wärme, nach erfüllter Liebe.
Als Folie dient ihm hierfür die Situation in einer Personalabteilung, die von einer Powerfrau geleitet wird (grandios, mal wieder von ihrer komischen Seite: Constanze Becker) und in der eine junge Angestellte (nicht nur an ihren Eltern verzweifelnd: Lisa Stiegler) überfordert ist, während sich ein junger Bewerber (Timo Fakhravar; wie der ebenfalls mitspielende Maximilian Meyer-Bretschneider, Mitglied des SchauspielSTUDIOS) mit den weit ins persönliche gehenden Fragen zu seiner Bewerbung konfrontiert sieht. Der Mann der Personalchefin (Marc Oliver Schulze) befindet sich in einer Sinnkrise, löscht nachts um zwei sein Facebook-Account, um sich kurz darauf mit anderem Namen wieder anzumelden. Sie verfolgt über den Firmenserver seine digitalen Spuren und sucht ihn verzweifelt am Telefon, ist gleichzeitig aber standfest genug, ihm ohne Punkt und Komma Vorschläge und Lösungen anzubieten. Hauptsache, er nimmt den morgigen Geschäftstermin wahr, der doch für die Firma so ungeheuer wichtig sei (womit der Abend auf humorvolle Weise beginnt).
Funktionieren zu müssen, egal wie, Leistung zu bringen, egal auf welche Kosten, die hier gezeigten Menschen können ein Lied davon singen. Und das tun sie dann auch tatsächlich. Denn Falk Richter ist dafür bekannt, verschiedene Stile miteinander zu verbinden. Hier finden Leid und der Schmerz der Protagonisten einen zusätzlichen Ausdruck in Musik und Tanz. Die eindringlichen Lieder des isländischen Sängers und Songwriters Helgi Hrafn Jónsson gehen unter die Haut (unterstützt wird er von Valgeir Sigurdsson). Sein Stil erinnert an den israelischen Singer-Songwriter Asaf Avidan („One Day“), und an die Gruppe Sigur Ros (die wie er aus Reykjavík stammt). Tänzerisch sorgen in erster Linie Jorijn Vriesendorp, Johanna Lemke, Denis »Kooné« Kuhnert für starke Bilder, indem sie ihren Körper in alle Richtungen winden und so berührende Bilder für den seelischen Schmerz und die Verlorenheit (sie wissen nur, was sie alles nicht sind, sich selbst aber haben noch nicht gefunden) in der Welt zeigen. Doch auch die Schauspieler schließen sich der Körperarbeit an. Marc Oliver Schulze zeigt große Beweglichkeit bei Rückbeugen und fliegt „durch Raum und Zeit“; Lisa Stiegler und Constanze Becker praktizieren im Sitzen den Yoga-Adler.
Ein weiterer Bestandteil der Inszenierung ist der Einsatz von Videotechnik, für die mit dem bekannten Videokünstler Chris Kondek zusammengearbeitet wurde. Auf großer Leinwand werden Bilder der Darsteller gezeigt. In ihrer Arbeitsumgebung und zu Hause, dazu nächtliche Straßenansichten aus Frankfurt und Bilder aus den Büros im Wolkenkratzer auf die Stadt herab (wie vom Eurotower auf die „ma|ro“ Baustelle in der Neue Mainzer Straße). Alle in hervorragender Qualität und manche entpuppen sich als Video (was man nur merkt, wenn sich beispielsweise ein Kran dreht). Die Bühne selbst besteht aus einem Silberfarbenen Podest mit einer Couch am rechten Bühnenrand und zwei Bassins in den hinteren Seitenbereichen (Bühne: Katrin Hoffmann).
Falk Richter belässt es nicht nur bei der Zurschaustellung der Überlastung an Arbeit und Reizen, er zeigt auch einen Weg auf, aus all dem aufzubrechen und zurück zu sich selbst und in die Natur, fern der Großstadt, zu finden. Ob der um zwei Uhr nachts gefasste Entschluss nur eine Utopie ist oder Realität, kann jeder Zuschauer für sich selbst entscheiden. Großer Beifall und riesige Begeisterung.
Markus Gründig, Februar 15
Die Dämonen
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 30. Januar 15 (Premiere)
Im Rahmen der losen Dostojewski-Trilogie am Schauspiel Frankfurt folgte jetzt, nach „Der Idiot“ im November 2013, „Die Dämonen“. Das Drama ist auch unter den Titeln „Die Besessenen“ und „Die Teufel“ bekannt, lässt der russische Originaltitel (Бесы/ Bessy) doch mehrere Übersetzungsvarianten zu. Zunächst 1871/72 in der russischen Zeitschrift „Russkij vestnik“ („Russischer Bote“) erschienen, folgte es als Buch 1873.
In seiner detailverliebten und ausladenden Art berichtet Dostojewski in diesem 894 Seiten umfassenden Roman über die Geschehnisse in einer russischen Provinzstadt, in der zwei Söhne von wohlhabenden Bürgern ihr dämonisches Unwesen treiben und dabei auch nicht vor Verunglimpfungen, Vergewaltigungen und Morden zurückschrecken. Gleichzeitig ist es sein am stärksten an der aktuellen Politik orientierter Roman (mit Anspielungen auf die aufkommenden gottlosen russischen Revolutionäre, die den Umsturz des Zarensystems planen), das Ende des Sozialismus sah Dostojewski prophetisch voraus.
Für das Schauspiel Frankfurt haben Regisseur Sebastian Hartmann (von 2008 bis 2013 Intendant am Centraltheater Leipzig, am Schauspiel Frankfurt inszenierte er 2006 „Being Lawinky“) und Dramaturg Michael Billenkamp eine Bühnenfassung entworfen, die keiner üblichen Romanadaption folgt. Ganz bewusst wurde nicht nur auf eine konkrete Verortung verzichtet, sondern auch auf sämtliche Namensbezeichnungen. Die erzählte Geschichte hat dadurch einen noch universelleren Charakter. Das ist gleichzeitig aber auch eine Krux für diejenigen Zuschauer, die mit dem Roman wenig oder gar nicht vertraut sind. Für sie ist ein Zusammenhang zwischen den gezeigten Episoden nicht leicht zu erkennen. Schon gar nicht, wie die Personen zu einander stehen. Gesprochen wird von dem Mann, der Frau. Der Kenner weiß natürlich, wer gemeint ist, für andere bleiben am Ende zahlreiche Fragezeichen übrig, spielen zudem viele Darsteller mehrere Figuren und mehrere Darsteller eine Figur.
Dennoch ist es ein abwechslungsreicher und großer Theaterabend, nicht nur wegen seiner 4 1/2- Stunden Dauer (mit einer Pause), sondern auch wegen des imposanten Bühnengeschehens und insbesondere wegen der gebotenen exzellenten Schauspielkunst (und ganz ohne Einsatz von Video-Technik, aber mit etwas Nacktheit).
Desillusionierend und weit offengelegt ist die Bühne, für die auch Sebastian Hartmann verantwortlich zeichnet, von Anfang an (bis auf die Hinterbühne). Schon während die Zuschauer Platz nehmen, ist sie geöffnet und gibt sich, als wäre es späte Nacht und keiner im Theater. Von oben strahlt ein Band Arbeitsleuchten kaltes Licht auf sie herab, die Kulissen (eine größere Hütte, eine Hausfassade in Zwiebelform und Lampengerüste) stehen abgewandt im fahlen Licht. Die Darsteller kommen nach und nach auf die Bühne, halten kurze Schwätzchen untereinander, mit einem Techniker oder auch mit dem Publikum der ersten Reihe, oder begrüßen Kollegen (wie Isaak Dentler Wilfried Elste, Ehrenmitglied der Städtischen Bühnen, begrüßt). Die Nebelmaschine wird noch einmal getestet und mitunter betonen sie lautstark und zynisch „Das ist alles echt“.
Zu Beginn steht eine kurze Eingangssequenz, bei der der behinderte Schauspieler Tolga Tekin quasi als der Erzähler die ersten Sätze spricht, die von Linda Pöppel wiederholt werden. Christian Kuchenbuch fragt, warum die Leute Suizid verüben und resümiert, dass wer Angst und Schmerz überwunden hat, sich selbst zu Gott gemacht hat.
Dann beginnt das eigentliche Spiel, die erste große Szene (viel eher als bei Dostojewski), die das Inszenierungskonzept von Regisseur Sebastian Hartmann musterhaft verdeutlicht. Manuel Harder, nicht genannter charismatischer und maßlose Fürst Nikolai Stawrogin, von allen begehrt und um den sich alle andere wie um ein Kaleidoskop herum bewegen, trifft auf eine junge Frau (seine verkrüppelte und geisteskranke Marija), die ihm hoffnungslos unterlegen ist. Während er sie vergewaltigt, lenkt sie sich damit ab, dass sie allerhand Thesen von sich gibt. Wilde Leidenschaft, bis hin zur Obsession, wird mit kürzeren und längeren Dialogen und Monologen geschickt arrangiert, stets werden die Fallhöhen des menschlichen Daseins ausgeleuchtet und alles ist bewusst überzeichnet (wie bei dieser Szene Vincent Glander, der gewissermaßen Stepans Sohn Pjotr gibt, das Geschehen von einer Bank aus der Nähe seelenruhig verfolgt, während er sonst ein großer Redner ist).
Trotz des Umfangs gelingt es Hartmann, die Geschehnisse kurzweilig zu zeigen. Was nicht ausschließt, dass einzelne Szenen individuell als kürzungsfähig empfunden werden. Durch den Einsatz von viel Bühnentechnik, bei deren Veränderung oftmals auch die Darsteller mit anpacken müssen, ist der Abend in einem steten Fluss. Die Bühne dreht sich, fährt nach oben und nach unten, die Kulissen werden ständig neu arrangiert und effektvoll ausgeleuchtet (Licht: Johan Delaere), wozu auch viel Nebel eingesetzt wird und musikalische Versatzstücke die verschiedenen Stimmungen untermauern (Elektronische Livemusiker: Christoph „Mäcki“ Hamann, Philipp Thimm; Musik: Aparat). Besonders effektvoll sind die Klanggeräusche, wenn Tolga Tekin mit markantem Ausdruck die große Bühne abschreitet, die Klänge dabei seinen, durch die starke körperliche Behinderung vorgegebenen, Takt widerspiegeln. Russisches Kolorit gibt es nicht nur durch die angedeutete Zwiebelturmfassade, sondern auch durch die Vollbärte und Hüte der Männer und viel schwarzer Kleidung (Kostüme: Adriana Braga Peretzki).
Dabei geht es nicht nur ernst zu. Es gibt auch allerhand ins Komische überzeichnete Szenen. Wie das Verkuppeln einer jungen Frau (ihr Entsetzen und ihre Furcht herrlich darstellend: Linda Pöppel) von einer vermögenden Witwe (redefreudig und von sich überzeugt: Heidi Ecks) an ihren alten, schöngeistigen Freund und gar nicht so schlechten „Waschlappen“ (einfühlsam: Michael Benthin).
Oder die Knallnummer mit Platzpatronen von Franziska Junge (und Thorsten am seitlichen Waffenpult), einem Bericht über ein Duell, für das sie als einzige einen Zwischenapplaus erhielt.
Nachhaltig in Erinnerung bleiben wird sicher die lautstarke Gruppenexekution eines Studenten (leidenschaftlich: Isaak Dentler) und vor allem die große Szene von Manuel Harder und Paula Hans, in der die Verführung eines Kindes und die Konfrontation mit der aufgeladenen Schuld im Mittelpunkt steht.
Zum Ende hin wird das Spiel erneut aufgebrochen. Die Darsteller stehen plakativ vor dem nun herabgelassenen Eisernen Vorhang in der ersten Reihe, das Saallicht ist an und Manuel Harder zieht sich an der Seite ein hauchdünnes Totenkostüm über, schminkt sein Gesicht mit Creme (dabei verkündend: „wozu Penaten alles gut ist“), während die anderen debattieren.
Beendet wird das Spiel wie es begann, mit Tolga Tekin und Linda Pöppel, die den Ingenieur Kirillow zitiert: „Der Mensch muss aufhören, zu gebären. Wozu Kinder, wozu Entwicklung, wenn das Ziel erreicht ist.“.
Viel Applaus für diese bildgewaltige und herausragende Romanadaptierung vom inzwischen etwas ausgedünnten Premierenpublikum, auch für das Regieteam.
Markus Gründig, Januar 15
Die Blechtrommel
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 11. Januar 15 (Premiere)
Günter Grass´ Roman „Die Blechtrommel“, ist nicht nur in Deutschland überaus bekannt (was nicht zuletzt auch an der Erfolgsverfilmung von Volker Schlöndorff aus dem Jahre 1979 liegt), sondern auch international. Weltweit sollen über 3 Millionen Exemplare des in 24 Sprachen übersetzten Romans verkauft worden sein.
Anhand der Lebensgeschichte von Oskar Matzerath erzählt der umfangreiche Roman gleichzeitig präzise und grotesk überzeichnet ein Bild von Deutschland in der Zeit von 1924 – 1954, gegen Beeinflussung von Massen, Kriegswahn und die Verleugnung der Vergangenheit. Eine Theaterfassung des Romans wurde 2010 von Jan Bosse und Armin Petras für die Ruhrtriennale 2010 auf die Bühne gebracht (in der Jahrhunderthalle Bochum).
Als bei der Programmvorstellung des Schauspiel Frankfurt für die Saison 2014/2015 eine Fassung des erstmals in Deutschland arbeitenden russischen Regisseurs Konstantin Bogomolov angekündigt wurde, stellte dies ein Highlight im Programm dar (wie auch die Macbeth-Neuinszenierung des Choreografen Dave St-Pierre, die am 17. April 15 Premiere feiern wird). Doch im September 2014 erkrankte Konstantin Bogomolov und die für Oktober geplante Premiere musste abgesagt werden. Dafür nahm sich nun Intendant Oliver Reese selbst des Themas an und erarbeitete eine eigene Fassung, für nur einen Schauspieler! Die Premiere fand jetzt, zeitnah zu den Thementagen „Leben mit Auschwitz – danach“, statt.
Einen Soloabend bestreiten zu können, ist für jeden Schauspieler eine Auszeichnung, dies auch noch auf großer Bühne tun zu können, eine ganz besondere. Dem 31-jährigen gebürtigen Leipziger Nico Holonics wurde sie zuteil (er war bereits bei Bogomolov als Oskar-Besetzung vorgesehen). Holonics arbeitete mehrere Jahre am Münchner Volkstheater und den Münchner Kammerspielen und war am Schauspiel Frankfurt erstmals im April 12 in Nis-Momme Stockmanns „Der Freund krank“ zu erleben. Damals schrieb kulturfreak.de: „Mit seinem sympathischen Lächeln fiel er schon jetzt angenehm auf und weckte Vorfreude, mehr von diesem aus München nach Frankfurt wechselnden Darsteller sehen zu können.“ Denn seit der Spielzeit 2012/13 ist er festes Ensemblemitglied am Schauspiel Frankfurt und überzeugte u.a. in „Kleiner Mann, was nun?“ (Regie: Michael Thalheimer) und „Der Idiot“ (Regie: Stephan Kimmig).
Gutes Aussehen und ein charmantes Lächeln reichen allerdings nicht, über 500 Zuschauer gute zwei Stunden in den Bann zu ziehen, da ist auch handwerkliches Können gefragt. Holonics hat es und so gab es am Ende „seiner“ Vorstellung riesigen Zuspruch für ihn. Nicht nur von seinem Fanblock, sondern vom gesamten Publikum.
Oliver Reese hat nicht nur die Bühnenfassung erstellt, sondern zeichnet auch für die Regie verantwortlich. Bei dem gut zweistündigen Abend (mit einer Pause) ist es in erster Linie die Figur des Oskar Matzerath, den Nico Holonics verkörpert. Nur kurz schlüpft er in andere Figuren, wie in die des ebenfalls kleinwüchsigen Bebra oder des Spielwarenverkäufers Sigismund Markus. Die äußere Rahmenhandlung der Nervenheilanstalt wird nicht erwähnt.
Gespielt wird nicht auf, sondern vor der eigentlichen Bühne. Hierzu wurden die ersten mittleren Sitzreihen entfernt und eine großes Podest aufgestellt, das mit Erde belegt wurde. Nur ein zu groß geratener schwarzer Stuhl befindet sich auf der Bühne (er vermittelt optisch die Kleinwüchsigkeit Oskars), die auf der rechten Seite eine rechteckige Öffnung hat, welche als Kellertür oder Grabmal für die Eltern gesehen werden kann und aus der Oskar immer wieder neue Blechtrommeln hervorzieht (Bühne: Daniel Wollenzin). Kurze Zwischenmusiken unterschiedlichster Art werden oftmals per Fingerschnippen eingespielt (Sounddesign: Parviz Mir-Ali und Joachim Steffenhagen, Musik: Parviz Mir-Ali).
Im ersten Teil trägt Oskar zu Beginn ein Sweat-Shirt, dann einen Pullover und dazu eine weite ¾-Hose mit Trägern und glatt gegelte Haare. Im zweiten Teil hat er zunächst eine Art grauen Blazer an, die Hosenfarbe hat gewechselt, wie auch die Haare schon bald zerzaust sind (Kostüme: Laura Krack) und der zweite Teil insgesamt etwas rauer wirkt.
Wie einen solchen Abend beginnen? Mit dem Anfang natürlich, der Erzählung von der Zeugung von Oskars Mutter Agnes unter den vier Röcken der alten Anna. Dann geht es mal mit größeren, mal mit kleineren Zeitsprüngen, durch das abenteuerliche und turbulente Leben Oskar Matzeraths. Dabei orientierte sich Reese an vielen Szenen, die durch den Film einem größeren Teil des Publikums bekannt sind. Oskars entscheidender dritte Geburtstag etwa, dem Arzt-Besuch, sein erster Schultag (mit Zerspringen der Brillengläser der Lehrerin Spollenhauer), der Ausflug an die See (mit dem Fund des Pferdekopfes), Besuch einer NSDAP-Großveranstaltung, die polnische Post, das Brausepulverschlecken mit der Nachbarstochter Maria oder die Zwiegespräche in der Herz-Jesu-Kirche. Dabei werden nicht alle Hässlichkeiten der Vorlage erwähnt (wie etwa die Geschichte mit der Urinsuppe der Nachbarsjungen).
Nico Holonics bewältigt den umfangreichen Stoff sehr souverän und zeigt sich vielseitig. Vor allem bringt er den Oskar gut rüber, sprachlich wie schauspielerisch, sympathisch und unsympathisch, als Wurm und als Imperator, als Kind und als Macho, als Bedauernswerter und als Überdrehter, also so ambivalent, wie er von Grass gezeichnet wurde.
Das Stück endet mit Oskars 21. Geburtstag, dem Tag, wo er sich entschließt, wieder wachsen zu wollen.
Zum Schlussapplaus eine sichtbare Solidarität mit den Opfern des Terroranschlags auf die Pariser Redaktion des Satiremagazins von Charlie Hebdo am vergangenen Mittwoch. Holonics wie das Inszenierungsteam zogen sich schwarze T-Shirts mit dem Aufdruck „Nous sommes Charlie“ (Wir sind Charlie) über.
Markus Gründig, Januar 15