Penthesilea
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 18. Dezember 15
O sagt mir! – Bin ich in Elisium?
Penthesilea, die Königin der Amazonen (und nach manchen Überlieferungen direkte Tochter des schrecklichen Kriegsgottes Ares) und der Halbgott Achilles waren nicht nur die stärksten Kämpfer ihrer jeweiligen Völker, sie galten auch als die Schönsten. Kein Wunder also, dass sie füreinander in Liebe entbrannten. Gleichwohl war es ob der äußeren Umstände schon keine normale Liebe, die von Harmonie und Eintracht geprägt war. Schließlich waren sie Feinde, die es eigentlich zu vernichten galt. „Jede Pore ihres Wesens ist durchdrungen von dem Imperativ der Rivalität, des Gewinnens und des Siegens, der gewaltsamen Überwältigung und erbarmungslosen Unterwerfung“ so Dramaturgin Sibylle Baschung im Programmheft.
Heinrich von Kleist, der, im Unterschied zu den großen Dichtern der Antike, dieser Figur ein eigenes Drama gewidmet hat, schuf damit „das brutalste Liebesdrama der deutschen Theatergeschichte“ (Navid Kermani, Träger des diesjährigen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels). Der Geschlechterkampf zwischen Martha und George in Albees „Wer hat Angst vor Virgia Woolf“ ist dahingegen nur Kindergarten. Mit existenzieller Wucht zerfleischen sich hier zwei Liebende bis zum Tode.
Wobei Kleists Drama überwiegend aus Berichten besteht. Berichten von Amazonenfürstinnen, griechischen Kämpfern und Priesterinnen. Penthesilea und Achilles treffen im Stück direkt nur wenig aufeinander. Für das Schauspiel Frankfurt hat Regisseur Michael Thalheimer („Ödipus / Antigone“, „Maria Stuart“, „Medea“, „Kleiner Mann – was nun?“ und „Nora“) mit der Dramaturgin Sibylle Baschung die Figuren des Stücks radikal auf drei gekürzt und die Texte ordentlich umverteilt. Herausgekommen ist ein kompaktes, intensives Drama mit nur drei Darstellern (Penthesilea, Achilles und einer Erzählerin).
Ein weiteres Merkmal der Inszenierung ist, dass die Geschichte rückblickend erzählt wird. Wenn sich der Eiserne Vorhang hebt, sitzt Penthesilea, blutverschmiert, in einem gelben weiten Rock hoch oben auf einer spitz zulaufenden, die ganze Bühne einnehmenden Fläche aus grauen Bodenplatten, die auch als Spitze eines Pfeils angesehen werden kann. Die Höhe verdeutlicht zudem den entrückten, gottähnlichen Charakter der Amazonenkönigin (Bühne: Olaf Altmann). Sie hält den gestorbenen, nackten und ebenfalls blutverschmierten Achilles in den Armen. Aus ihrem Mund quillt ein Strahl Blut hervor (wie es im Berichte Meroes steht): Ein bildgewaltiger, starker Auftakt (ebenso stark ist dann auch der Schluss). Nur langsam erinnert sie sich, was geschehen ist, redet wie im Wahn, zwischen Traum und Realität schwankend. Mit jedem gesprochenem Wort reift ihre Bewusstwerdung. Denn Sprache steht hier im Mittelpunkt, weniger eine szenische Handlung. Die gibt es zwar schon, etwa wenn ihr Achilles aus den Armen gleitet und er lautstark von der Spitze herunterpoltert, um sodann langsam zu erwachen, oder wenn Penthesilea ihn später sterbend nach oben zieht. Ansonsten sind es aber Wortgefechte, die hier stattfinden. Dabei zählt jede Silbe und es ist bemerkenswert, welche starke Wirkung Kleists Verse durch die brillante Aussprache der Drei entfalten.
In der Titelrolle glänzt Constanze Becker, die 2013/14 für ihre Darstellung der Medea mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring und dem Deutschen Theaterpreis Der Faust ausgezeichnet wurde (das Stück wurde zudem zu den Berliner Festspielen eingeladen). Sie gibt der Heroin ein außerordentlich starkes Format und zeigt sie vielschichtig. So ist sie nicht nur die groß Auftrumpfende, sondern zeigt auch empathische Züge. Ein großer Moment ist, wenn Achilles sie zu seiner Königin machen will (und damit sein eigenes Todesurteil fällt) und sie ob der strengen Amazonengesetze dies als unerträgliche Brüskierung empfindet und in ihren darauffolgenden Schmerzensschreien schon seinen unausweichlichen Tod voraussieht. Auch Felix Rech glänzt, als ihr ebenbürtiger Achilles. Er ist seit dieser Saison neu im Ensemble und war bereits als Fiesling Reinhold in Die Geschichte vom Franz Biberkopf mit The Tiger Lillies zu erleben. Wenn er sich nicht gerade Penthesilea offen ausliefert (das heißt hier sich ihr nackt gegenüberstellt), macht der 192 cm große Lockenkopf (Jahrgang 1977) auch im modernen Anzug (Kostüme: Nehle Balkhaus) einen optisch guten Eindruck. Er strotzt vor Kraft, hält sie der Liebe willen wegen aber unter Kontrolle. Mit seiner entwaffnenden, gleichwohl forschen, Art trifft er das Herz Penthesileas. Josefin Platt, im weißen, negligéähnlichen Kleid und mit dick rot geschminkten Lippen, verbindet als „Frau“ (Rollenbezeichnung im Programmheft) die Geschichte. Sie übernimmt hierbei einen Teil der Berichte und schafft mit ihrer einfühlsamen Interpretation große emotionale Stimmung (wie auch die Ausleuchtung von Johan Delaere ihr Übriges dazu tut).
Die Frage Penthesileas nach dem Tod Achilles, „O sagt mir! – Bin ich in Elisium?“, also auf der „Insel der Seligen“, bleibt unbeantwortet. Für den Zuschauer bedeutet dieser Abend aber ein seliger, klassischer Theaterabend (mit pausenlosen gut 100 Minuten, kaum Musik und keinerlei Videoprojektionen). Zu Recht sehr viel Applaus.
Markus Gründig, Dezember 15
George Kaplan
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 5. Dezember 15 (Premiere)
Er ist eine Bedrohung für die Menschheit und den Weltfrieden, zugleich ein Mythos und eine Waffe: George Kaplan. Der Autor, Regisseur und Schauspieler Frédéric Sonntag hat aus Alfred Hitchkocks Spionagefilm „Der unsichtbare Dritte“ (Originaltitel „North by Northwest“) die dort nur namentlich erwähnte Figur des George Kaplan als Fixpunkt für das nicht Fassbare übernommen. Anhand von drei Teilen dekonstruiert er, teilweise durchaus humorvoll, den Wunsch der Menschheit nach großen Ideologien und hält Ihnen am Ende gewissermaßen einen Spiegel vor. Am Schauspiel Frankfurt feierte in den Kammerspielen jetzt die deutschsprachige Erstaufführung Premiere, in der Regie des ehemaligen REGIEstudio Mitglieds Alexander Eisenach (der hier im Februar zuletzt eine Dramatisierung von Sartres Filmscript „Das Spiel ist aus“ inszenierte).
Es ist ein etwas abstrakt anmutender, textlastiger Abend, auch fehlt eine durchgehende Handlungsgeschichte mit festen Charakteren, gleichwohl ist es ein famoser Theaterabend, der sehr viel Spaß macht und vermutlich auch lohnt, sich ihn mehrfach anzuschauen, denn es passiert in dieser abgründigen Komödie, die gerne auch das Absurde streift, sehr viel.
Es beginnt ganz unspektakulär, im Hier und Heute. Ein Darsteller (Isaak Dentler; die Figuren sind nicht näher bezeichnet) tritt vor das Publikum, auf der Bühne selbst ist nur ein großer Vorhang aus weißer Kunststofffolie zu sehen, und braut sich erst einmal einen Kaffee. Eine althergebrachte Filterkaffeemaschine steht dabei als Bild für das Verlässliche, für die gute alte Zeit, wo es noch eine sichere Grundorientierung anhand fester Ideologien, seien sie nun politisch oder religiös, gab. Doch es gibt Probleme damit. Die Kaffeemaschine kommt mangels Stromzufuhr zunächst nicht in Gang. Nachdem, dank Bühnentechniker Thomas, das technische Problem gelöst wurde, folgt der Übergang zum eigentlichen Spiel. Die legendäre „Maisfeldszene“ aus „Der unsichtbare Dritte“, bei der der Werbefachmann Roger O. Thornhill (Cary Grant) von einem Schädlingsbekämpfungsflugzeug gejagt wird, das schließlich mit einem LKW kollidiert und explodiert, wird effektvoll im Großformat auf den Vorhang projiziert, der nun wie eine Leinwand wirkt. Dabei doubelt Dentler Roger O. Thornhill, stürzt, wie er, zu Boden und rennt vor dem Flieger davon.
Nach dieser mehrminütigen Filmsequenz beginnt der eigentliche erste Teil, bei der eine politisch uneinige Aktivistentruppe in zu groß geratenen und etwas seltsam anmutenden Arbeitsanzügen diskutiert (zunächst an einem Tisch sitzend, mit dem Rücken zum Publikum, dann davor und darauf). Hier ist jeder George Kaplan, wenn sich die zerstrittene Gruppe nur sicher wäre, wer George Kaplan überhaupt ist. Neben Isaak Dentler spielen Vincent Glander (beeindruckt als stets besser Wissender), Franziska Junge, Linda Pöppel und Viktor Tremmel eines der Gruppenmitglieder. Franziska Junge zeigt sich hierbei besonders kämpferisch und wortgewandt und gerät dabei groß in Rage.
Alle fünf sind auch bei den nachfolgenden beiden Teilen dabei. Dann in heutigen eleganten Bürokostümen als Drehbuchautoren im zweiten Teil und im finalen dritten Teil in glitzernden Umhängen, die den Charme von Science-Fiction Filmen aus den 60er Jahren versprühen, als geheime Auftraggeber einer „unsichtbaren Regierung“ (Kostüme: Lena Schmid).
Die einzelnen Teile sind mit Videosequenzen verbunden. Sie zeigen im Zeitraffer Schlaglichter aus Nachrichten der letzten Jahrzehnte. Die Videotechnik kommt aber auch live auf der Bühne zum Einsatz, wieder einmal mehr sehr ausgefallen und kunstvoll. Zunächst werden die Darsteller von der Rückseite des Vorhangs gezeigt, was nur langsam zu erkennen ist. Aufgezeichnete Bilder gehen dabei fließend in Livebilder über. Wenn etwa einem Gefangenen erst brutal ein Ohr abgeschnitten wurde und er (Isaak Dentler) kurz darauf auf der Bühne unter dem Vorhang hervorkriecht, währenddessen spricht und eine Kamera eindrucksvoll sein Porträt überträgt (Video & Livekamera: Oliver Rossol). Peu à peu gesellen sich die anderen, aus dem Mund blutend, auf dem Boden dazu… Auch dieser George Kaplan ist gescheitert.
Heiter wird es dann wieder im dritten Teil, weil die Gruppe hier nicht minder konfus ist, als zuvor. Hierfür sinkt der Vorhang nieder und gibt den Blick frei auf eine futuristische Machtzentrale, mit Überwachungskamera und großen Bildschirmen (Bühne: Daniel Wollenzin).
Wer nun George Kaplan ist, bleibt nicht offen! Frédéric Sonntag verweist hier direkt ins Publikum (wobei die jetzt hier gezeigten Zuschauer nicht live eingespielt werden), hält dem Zuschauer quasi einen Spiegel vor. Inzwischen ist auch der Kaffee fertig, abseits der großen Weltpolitik und den uns umtreibenden Fragen, ist das naheliegende, banale oftmals die größere Befriedigung.
Langer und starker Applaus.
Markus Gründig, Dezember 15
Frankfurt Babel
Schauspiel Frankfurt ~ Jugendclub und geflüchtete Jugendliche
Besuchte Vorstellung: 29. November 15 (Premiere)
Nach „All Inclusiv“ und „Freiraum“ ist „Frankfurt Babel“ das dritte Jugend-Projekt von Martina Droste und Chris Weinheimer. Diesmal sind Jugendliche mit europäischen, asiatischen, amerikanischen und orientalischen Bezügen beteiligt, insgesamt 15, im Alter von 14 bis 23 Jahren. Die Hälfte von Ihnen sind Geflüchtete, darunter auch welche, die als „unbegleitete minderjährige Asylsuchende“ erst seit kurzer Zeit in Erstaufnahmeeinrichtungen leben. Das Projekt war lange Zeit vor der gegenwärtigen Flüchtlingskrise geplant, dennoch fliessen aktuelle Bezüge mit ein. Wie die jüngst der Türkei angebotenen drei Milliarden Euro als Beitrag für die Flüchtlingshilfe. Oder wie die pauschale Verurteilung von Muslimen durch die Gleichsetzung mit den radikalen Kämpfern des IS, wodurch die Mutter eines Jugendlichen das Problem hat, das sie nun deswegen von Patienten gemieden wird.
Auch „Frankfurt Babel“ ist als Projekt bezeichnet, nicht als ein fertiges Stück. Die sehr unterschiedlichen Jugendlichen beiderlei Geschlechts setzten sich dabei mit ihrer individuellen Migrantenrolle auseinander. Dabei nimmt der Titel lose Bezug zur multikulturellen Stadt Frankfurt, wo sich die Wolkenkratzer gen Himmel strecken und der alttestamentarischen Erzählung vom Turmbau zu Babel (1. Buch Mose, Kapitel 11, Verse 1-9), die vom Streben der Menschen nach Gottesgleichheit und der Folge der göttlichen Abstrafung durch die große Sprachverwirrung, handelt.
Mit einer gewissen Sprachverwirrung beginnt auch die 75 minütige Vorstellung im rechten Seitenflügel des Bockenheimer Depots . Die Jugendlichen treten vor das Publikum und sprechen gleichzeitig und in vielen verschiedenen Sprachen. Sie stellen sich vor, erzählen ein klein wenig über ihre Herkunft und fragen sich, wo sie am liebsten leben würden.
Droste und Weinheimer gestalteten diese Gruppenperformance abwechslungsreich und dynamisch. Auf einer Bodenplatte wird von allen, entsprechend ihrer Herkunft und Träume, eine Weltkarte skizziert, die auch ihre Vielfältigkeit widerspiegelt. Dann verlassen sie die Erde und fliegen der Sonne entgegen, um schließlich ihren bisherigen Standort zu verlassen, die Erde mit ihren Grenzen gewissermaßen auflösen und mit Spannung ihren weiteren Weg entgegensehen.
Meistens erzählen sie nicht von sich, sondern über einen anderen aus der Gruppe. So konnten sie sich im Vorfeld schon sehr viel besser kennenlernen (wobei drei aus Vorsichtsgründen nicht mit Namen genannt werden).
Und sie musizieren, bzw, machen Töne mit Schlagzeug, Geige und Ziehharmonika.
Die biblische Geschichte wird in kurzen Sätzen immer wieder erwähnt, erschließt sich dabei aber denjenigen, der sie nicht kennt, wohl kaum.
Am Ende großer Applaus für das lebhafte Spiel und das ehrenamtliche Engagement der Jugendlichen.
Markus Gründig, November 15
Nathan der Weise
Staatstheater Mainz
Besuchte Vorstellung: 28. November 15 (Premiere)
Eine Woche vor der Premiere von „Nathan der Weise“ war in Mainz ordentlich was los. Auf dem Gutenbergplatz, an dem sich auch das Staatstheater Mainz befindet, demonstrierten rund 300 Mitglieder der rechtspopulistischen AfD, dazu gab es rund 1000 Gegendemonstranten und ein riesiges Polizeiaufgebot, um die politischen Gruppen getrennt zu halten. Zudem kommentierten als Teil der kritischen Öffentlichkeit über 100 Angestellte des Staatstheaters (quer durch alle Abteilungen und Sparten) mit Beethovens Lied „Freude schöner Götterfunken“ (Text von F. Schiller) das Geschehen. Dies geschah aus dem Haus heraus, mit Lautsprechern bei geöffneten Fenstern. Sylvia Fritzinger, die Leiterin Kommunikation am Haus, wird hierzu in der Presse zitiert: „Kunst darf auch mal stören“. Wie die darauf erfolgte Strafanzeige wegen Störung der Demonstration ausgeht, ist noch offen. Ein Zeichen wurde auf jeden Fall gesetzt, nicht zuletzt, weil am Haus, wie in den meisten anderen Theatern auch, Menschen aus vielen unterschiedlichen Kulturen und Ländern arbeiten.
Dass nun Lessings dramatisches Gedicht „Nathan der Weise“ Premiere feierte, ist natürlich rein zufällig. Dennoch ist es ein passendes Statement für Völkerfreundschaft, nicht zuletzt durch die aufkommende Problematik mit den nicht abreißenden Flüchtlingsströmen.
Inszeniert wurde es von K.D. Schmidt, dem leitenden Regisseur des Staatstheater Mainz. Er hat den Nathan bereits im Frühjahr 2005 in Heidelberg inszeniert, gleichzeitig gab es eine Nathan-Inszenierung am Staatstheater Mainz unter der Regie von Irmgard Lange.
Mit großer Umsicht und einem starken Ensemble zeigt K.D. Schmidt den beliebten Klassiker nun transparent und sehr auf den Text konzentriert. Die Bühne (auch K.D. Schmidt, zusammen mit Christoph Hill) gaukelt dem Zuschauer nichts vor. Das Jerusalem des späten Mittelalters beschränkt sich hier auf einen lose gepflasterten Platz im Nirgendwo, umhüllt von viel Schwarz. Die Seiten sind offen und zeigen unverblümt eine Batterie von Scheinwerfern bzw. den Eisernen Vorhang der Hinterbühne. Nur zwischen den einzelnen Szenen sorgt jeweils kurzes Violinenspiel für eine musikalische Untermauerung, dazu werden schwarz-weiß Porträts auf die Rückwand projiziert (Video: Christoph Schödel). Die ausgelegten Pflastersteine vermitteln in der dezenten Ausleuchtung (Licht: Peter Meier) eine Atmosphäre, die die Rauheit der Welt und die mögliche Geborgenheit und Wärme durch ihre Bewohner gleichermaßen widerspiegelt (dabei werden die losen Steine oftmals auch zur Stolpergefahr).
Murat Yeginer verkörpert die anspruchsvolle Titelrolle mit großer Empathie sehr nuancenreich. Denkt man an sein heiteres Spiel in „Spamalot“, kann man es sich nur schwer vorstellen, dass es sich um den selben Darsteller handelt. Dies ist auch bei den anderen so, die in beiden Stücken spielen. Wie bei Rüdiger Hauffe, der hier einen besonnenen Tempelherrn gibt oder Clemens Dönicke als besorgter Klosterbruder. Armin Dillenberger (König Artus in Spamalot) ist als strenger Patriarch zu erleben. Für seinen Part wird das Bühnenspiel aufgebrochen. Er spricht in weißer Robe (Kostüme: Lucia Vonrhein) von einem Pult im Publikumsaal aus, dabei werden Ausschnitte aus seinem Gesicht auf die große Rückwand projiziert.
Johannes Schmidt gibt einen souveränen Derwisch Alhafi. Martin Herrmanns Saltan Saladin ist eine starke Figur, die bis zum Schluss Größe bewahrt. Diese zeigt auch die Schwester des Sultans: Sittah (mit aristokratischer Würde: Leoni Schulz). Daja ist ja eigentlich „nur“ eine Gesellschafterin. Bei Anna Streffens wird sie jedoch zu einer würdevollen Charakterfrau, die sich sehr stark einbringt. Die Recha der Lilith Häßle fällt ob ihrer Lockerheit zunächst etwas aus dem Rahmen, besticht aber insbesondere im zweiten Teil.
Lessings anspruchsvollen und umfangreichen Text (gespielt wird in 2 Stunden und 40 Minuten, inklusive einer Pause) bringt das Ensemble unter Regisseur K.D. Schmidt trotz der starken Beschränkung auf den Text sehr lebendig zur Geltung. Starker und uneingeschränkter Zuspruch für Darsteller und Regieteam gleichermaßen.
Markus Gründig, November 15
Schöne neue Welt
Schauspiel Frankfurt (im Bockenheimer Depot)
Besuchte Vorstellung: 20. November 15 (Premiere)
Zumindest vom Titel ist Aldous Huxleys 1932 erschienener utopischer Roman „Schöne neue Welt“ bekannt, der ob seiner Antiutopie auch als dystopisch bezeichnet wird. Die künstliche Aufzucht von Menschen in unterschiedlichen Kasten, oberflächliche Befriedigung satt, ein breites Freizeitangebot, freizügige Sexualität und eine Volks-Psychodroge sind nur einige der Vorteile in der schönen neuen Welt, die der Roman beschreibt. Auf der Strecke bleiben hingegen Individualität, Kreativität und Liebe.
Huxley erkannte schon früh die Gefahr von blindem Fortschrittsglauben und die Möglichkeit, dass die naturwissenschaftliche Forschung missbraucht werden kann.
Für das Schauspiel Frankfurt hat Jorinde Dröse („Was ihr wollt“, „Die Nibelungen“) die Bearbeitung des Dramatikers Robert Koall, die im vergangenen Jahr in Dresden uraufgeführt wurde, in der Spielstätte Bockenheimer Depot umgesetzt. Dort lebt in kompakten und pausenlosen 100 Minuten die fantastische Kunstwelt Huxleys auf.
Die Zuschauer sind dabei gewissermaßen Teil des Huxleyschen Universums, denn Bühne und Zuschauerbereich im Bockenheimer Depot wurden eigens für dieses Stück mit einem großen Holzlattenzaun umsäumt. Die Bühne selbst besteht nur aus einem runden Podest, das vor einer großen gerundeten Leinwand steht. Letztere dient als multiple Projektionsfläche für Bilder und kurze Filme, aber auch für eine Liveübertragung aus der Außenwelt, in der anfangs John und Linda Savage in einem Zelt hausen (Bühne: Susanne Schuboth).
Die Videobilder von Traumlandschaften (Berge, Meer), Blüten oder Schlagwörter zur Untermauerung, entfalten eine starke Wirkung (Video: Rebecca Riedel).
Was es mit den Bewohnern auf sich hat, ihre punktuellen Unterschiede und ihre Obsessionen, entfaltet sich langsam.
Im Mittelpunkt steht der auf natürliche Weise gezeugte und in einem Reservat aufgewachsene John, der dank intensivem Studium einer verbotenen Shakespeare-Ausgabe in dessen blumiger Sprache spricht. Sascha Nathan gibt ihn, der beide Welten kennt, als strauchelnden und verstörten armen Tropf. Als Johns gealterte und kranke Mutter Linda (eine „Beta minus“ Frau), die schließlich ganz der Soma-Droge verfällt, überrascht Michael Benthin mit rührigem Spiel. John und Linda tragen „wilde“ Kleidung, einen Schlafsackanzug und Schneeboots, oder ein kunterbuntes Kleid (auf dem sehr viel los ist), wohingegen die Hemden, Pullover und Hosen der Bewohner der schönen neuen Welt unifarben in Pastelltönen gehalten sind.
Auch in der schönen neuen Welt gibt es strauchelnde Bürger. Wie „Alpha“-Männchen Bernard (mit starker Stimme: Christoph Pütthoff), der mit seinem kleinen Wuchs zu kämpfen hat und ein zartes Gespür dafür hat, das es draußen mehr geben muss. Oder den am „College of Emotional Engineering“ arbeitende Helmholtz (wortgewandt: Torben Kessler), der mit einer Performance versucht, seinen Studenten ihre „Standardeinstellung“ auf den Kopf zu stellen. Ganz in der neuen Welt angekommen ist der dynamische Sportler Henry (agil und mimisch stark: Jan Breustedt), für den es sogar eine „Soma-Extreme“-Ausführung gibt.
Auch die Frauen sind deutlich angepasster. Sei es die pragmatisch denkende und gerne grinsende Fanny der Paula Skorupa, oder die charmante und liebestolle Lenina der Paula Hans.
Einen Sonderstatus hat der Resident World Controller Mustapha Mond, den Max Mayer im schwarzen Dress eines Steve Jobs mit salbungsreich gesprochenen Worten genial verkörpert.
Es ist ein kurzweiliger Ausflug in eine schöne neue Welt, die bekanntlich zu unserer heutigen überraschend viele Parallelen hat. Sehr viel Applaus.
Markus Gründig, November 15
Wer hat Angst vor Virginia Woolf?
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 12. November 15
Jetzt fetzen sie sich wieder: Martha und George, das wohl streitsüchtigste Ehepaar der Bühnenliteratur. Schonungslos gehen sie gegeneinander vor, zeigen im Suff ihr wahres Gesicht und ziehen dabei noch ein junges Paar mit in den vernichtenden Abwärtsstrudel. Ob dieser Showdown als Katharsis wirkt, bleibt bekanntlich offen.
Im Rhein-Main-Gebiet war das Stück zuletzt in der Regie von Christoph Mehler (ehemals Hausregisseur am Schauspiel Frankfurt) am Staatstheater Mainz zu sehen (2013) und davor in der Regie von Jonathan Fox am English Theatre Frankfurt (2010). Am Schauspiel Frankfurt wurde es zuletzt vor neun Jahren gezeigt, in der Regie von Martin Nimtz (der zugleich den George spielte, neben Sabine Waibel als Martha).
Der Reiz am Konflikt anderer teilzuhaben, ist ungebrochen und es bedarf nicht viel, das Kammerspiel zu inszenieren. Es reicht ein leerer Bühnenraum, wie der von Jochen Schmitt in Mainz, oder wie der von Olaf Altmann 2009 in Frankfurt (dem das aktuelle Bühnenbild in Frankfurt ähnelt). Mit einer entscheidenden Ausnahme. Es bedarf der besten Schauspieler. Nicht zuletzt deshalb, weil schon die US-Verfilmung im Jahr 1964 mit Elizabeth Taylor und Richard Burton Maßstäbe gesetzt hat.
Das Frankfurter Publikum kann sich bei der Neuinszenierung des Schauspiel Frankfurt nun glücklich schätzen, das Paar Corinna Kirchhoff (Martha) und Wolfgang Michael (George) erleben zu können. Beiden sind jeder für sich hoch talentierte Schauspieler, doch wirken sie gerade bei diesem Zusammenspiel besonders stark und brillieren in diesen Traumrollen. Corinna Kirchhoffs Martha ist ungemein keck und sehr attraktiv. Im kurzen schwarzen Abendkleid gibt sie schon äußerlich eine gute Figur ab (Kostüme: Johanna Pfau). Sie besticht aber mit ihrem facettenreichen und virtuosen Spiel als vermeintlich Triumphierende, mit ihrem verführerischen Lächeln als Betrunkene und mit den ins Groteske reichenden, erbarmungslosen Beschuldigungen und Verleumdungen. Wolfgang Michaels George ist einerseits entspannt und lässig, doch andrerseits nicht minder zynisch und Wort-virtuos.
Gewissermaßen als Pendant agieren köstlich Katharina Bach (als einfältige Honey) und Lukas Rüppel (als aufstrebender Jungakademiker Nick).
Die Bühne wurde von Katja Haß auf eine schmale Spielfläche reduziert, die in der Mitte mit einem breiten Steg bis zur vierten Sitzreihe in den Publikumssaal reicht und nach hinten zu wegführt. Hohe Rahmen neben hölzernen Wänden deuten eine elegante Villa an (deren Lack aber angekratzt ist, wie aufberstendes Parkett zeigt). Hinter diesen Rahmen befinden sich bunte Vorhänge und schieferartige schwarze Platten. An den Seiten befinden sich hölzerne Wände mit Regalen für eine Bar und Schränke (für Bücher und Schallplatten, inklusive Schallplattenspieler, ganz der Zeit zur Uraufführung entsprechend). Neben der kurz eingespielten Schallplattenmusik zum Teufelstanz (mit Paul Ankas „Put Your Head On My Shoulder“), besteht die weitere musikalische Untermauerung von Maarten Schumacher aus dem Ticken einer Uhr, das immer wieder zeitweilig zu vernehmen ist. Wobei die Zeit zwar gleichmäßig, gefühlt aber doch nur langsam, fortschreitet. Regisseur Stephan Kimmig lässt den Figuren Zeit. Bei diesem langen Theaterabend gibt es keine Kürzungen (aber eine Pause). Die übliche Übersetzung von Pinkas Braun wurde von Bernd Wilms durchgesehen und dabei teilweise aktualisiert.
Am Ende der geistreichen wie infernalischen Eheschlacht großer Jubel für die vier Darsteller.
Markus Gründig, November 15
Leonce und Lena
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 16. Oktober 15 (Premiere)
„Leonce und Lena“ ist Jürgen Kruses dritte Inszenierung am Schauspiel Frankfurt (nach Borcherts „Draußen vor der Tür“ und Ortons „Seid nett zu Mr. Sloane“). Seine Regiehandschrift ist unverkennbar, auch wenn er sich bei dieser Produktion erneut lediglich als „Co-Regisseur“ benennen lässt. Aus Georg Büchners einstigem Lustspiel hat er einen artifiziellen, grellen und sehr unterhaltsamen Abend gezaubert. Der kann ob seiner überbordernden Ausmaße durchaus polarisieren, aber dies ist schließlich besser als ein nur als „nett“ empfundener Theaterbesuch ohne Nachwirkung.
Büchners Lustspiel, einst als Wettbewerbsbeitrag zu einem Preisausschreiben geschrieben (der aber wegen verspäteter Einsendung ausgeschlossen wurde), erzählt von zwei Königskindern, die zwangsverheiratet werden sollen, die fliehen und unerkannt auf der Flucht sich kennen und lieben lernen. Am Ende gibt es gar ein Happy End. Kruse hat das Stück mit den Darstellern des Schauspiel Frankfurts erarbeitet und mit weiteren Texten versehen.
Noch während das Publikum Platz nimmt, hinter einem Gazevorhang zwei Männer miteinander raufen und Leonce gelangweilt an einer Mauer im Zuschauerraum lehnt (angestrahlt, aber nicht im runden Spot sondern im Quadrat, wie ein Bilderrahmen), ertönen in einer Dauerschleife imaginäre Gesprächsfetzen. So wird Timo Fakhravar als „Der Ceremonienmeister“ vorgestellt. Dies geschieht aber in einer gebrochenen Artikulation. Der Nachname wird nicht flüssig, sondern in lautmalerischer Brüchigkeit ausgesprochen. Dieser Stil zieht sich dann durch den ganzen Abend. Büchners Sprachspiele werden hier erweitert. Viele Wörter erhalten so nicht nur eine viel stärkere Beachtung, sie erhalten auch eine andere Bedeutung. Kruse bietet auf breiter Front Hörtheater der besonderen Art.
Doch auch szenisch gibt es schier Unmengen zu sehen. Daniel Wollenzin hat die relativ kleine Bühne der Kammerspiele zu einer abgefahrenen Szenerie für die vereinigten Königreiche Popo und Pipi gestaltet. Der Raum gleicht einer dunklen Spelunke mit Kronleuchtern, mit viel Schwarz und Kerzen und Flaschen auf einer Brüstung, die ob ihrer langen Standzeit schon voll mit Spinnweben sind und der Szenerie eine Gothic-Atmosphere verleihen. Im erhöhten Hintergrund befindet sich links eine Bar („Zum hessischen Landboten“) mit einer angedeuteten Rezeption, dazu eine große, sich drehende Scheibe mit aufgezeichneter Spirale und hinten rechts ein nur diffus einsehbarer Nebenraum, in dem zunächst der König „zurecht“ gemacht wird. Und links vorne sitzt die ganze Zeit über eine Dame (mit einem Lorbeerkranz auf dem Kopf, vielleicht als Anspielung für den vorgegebenen Garten) auf einem Stuhl, die geflissentlich Papierblätter beschreibt und sie anschließend umgehend zerknüllt. Es gibt nur wenig Licht, dafür sehr viele Songs (Rock & Schlager), die die einzelnen Szenen unterbrechen. Die von Büchner vorgegeben Handlungsorte (wie Zimmer, reichgeschmückter Saal und Wirtshaus) finden sich somit im Einheitsbühnenbild durchaus wieder.
Die Kostüme von Sebastian Ellrich greifen sehr lose die Entstehungszeit des Stücks auf. Neben dem schwarzen und eng taillierten Hochzeitskleid von Prinzessin Lena (mit ihrem strahlenden Lachen stets gewinnend: Linda Pöppel), dem wegen seiner „Einwicklung“ im Nebenzimmer meist nur leicht bekleideten König Peter (spielfreudig: Alexej Lochmann vom SCHAUSPIELstudio), sind es vor allem die Fischköpfe, die in Erinnerung bleiben. Einzelne Figuren tragen diese kunstvollen Fischkopfimitate, als Bild für das Volk, das nur stumm zuschauen kann, was die da oben so alles treiben. Leonce und Lena erscheinen zur Hochzeitsszene nicht als Automaten, sondern werden in Küchenfolie mundtot eingewickelt, Valerio sympathisiert dabei mit Alufolie. Die „1. Souffleurin“ Virginia Goldmann sitzt im Kostüm während der Aufführung mitten auf der Bühne, ihr Skript gleicht dabei einem großen Märchenbuch.
Die Liebesgeschichte erfährt eine geniale Umsetzung in die Moderne, auch wenn sie sich auf den ersten Blick stark vom Original entfernt. Doch das täuscht, Kruse und die Darsteller widmen sich mit Hingabe Büchners Werk. Sei es Heidi Ecks als etwas verschrobene Gouvernante, Timo Fakhravar (auch vom SCHAUSPIELstudio) als vielseitiger „6. Springteufel“ oder Alexandra Finder als verführerische Rosetta.
Isaak Dentler gibt einen famosen Erbprinz Leonce, der passend gelangweilt, melancholisch und verträumt ist, gleichsam aber auch provozierende Züge hat. Oliver Kraushaar bringt den Narren mit zwielichtiger Vergangenheit, Valerio, groß heraus. Er ist nicht nur körperlich biegsam, er hat als Staatsminister im künftigen Reiche gar das Schlusswort zu sprechen. Die Bühne gleicht dabei einer großen Collage, mit einem ernüchternden Blick auf das Europa von heute.
Freundlicher Applaus aus den vorderen Sitzreihen, starker Applaus und Jubelrufe aus den hinteren Reihen. Die nächsten Vorstellungen sind bereits ausverkauft.
Markus Gründig, Oktober 15
Der zerbrochene Krug / Terror (Doppelprojekt)
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellungen: 2. und 3. Oktober 15 (Premieren)
Von 2001 bis 2013 lief mit über 2000 Folgen die Gerichtsserie „Richter Alexander Hold“ auf Sat 1. Wobei es sich bei diesem Format weniger um authentische Darstellungen handelte, als vielmehr um eine für ein interessiertes Publikum reißerisch aufgezogene Gerichtsshow. Auch wenn alles erfunden und inszeniert war, die Nähe zwischen Gerichtsalltag und Show ist längst nicht so fern, wie man vielleicht denkt, ist doch letztlich das ganze Leben Theater.
Im Doppelprojekt „Der zerbrochene Krug“ / „Terror“ macht das Schauspiel Frankfurt jetzt auf diese Nähe aufmerksam. Recht zu haben, heißt noch lange nicht, Recht zu bekommen. Und bei Gericht geht es nicht um die Gerechtigkeit und um die Wahrheit, sondern um ein Urteil. Kann es eine absolute Wahrheit geben? Wie werden Begebenheiten und Situationen wahrgenommen?
Die beiden zum Nachdenken anregenden Stücke werden, mit nahezu den gleichen Darstellern, jeweils an zwei Tagen hintereinander aufgeführt. Es bietet sich an, beide Stücke zu sehen (auf die Karte für das zweite Stück gibt es einen Rabatt von 10 %), sie sind formell aber auch einzeln anzuschauen (die Reihenfolge ist unerheblich).
Kleists Lustspiel „Der zerbrochene Krug“ zeigt vordergründig eine Komödie, was nicht zuletzt den schwierigen politischen Bedingungen seiner Zeit geschuldet ist. So spielt die Handlung statt in Preußen in einem niederländischen Dorf bei Utrecht. Intendant Oliver Reese zeigt das Stück in Tradition von „Der nackte Wahnsinn“ mit humorvollen und grotesken Zügen.
Die Bühne von Hansjörg Hartung zeigt in Guckkasten-Manier das Fragment eines Gerichtssaals aus den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Es ist ein erhöhter, mit dem typischen Charme vertäfelten Holzes aus dieser Zeit ausstaffierter, nicht sehr tiefer Raum. Er bietet nur Platz für einen schwarzen Ledersessel für den Dorfrichter und gepolsterte Bänke für Kläger und Beklagte. Der Gerichtssaal wurde gleichsam auf den Zuschauerraum ausgedehnt, wodurch die Zuschauer selbst Teil der Verhandlung werden (ohne, wie in „Terror“ aktiv daran beteiligt zu sein). Die ersten vier Sitzreihen wurden komplett entfernt und in der Mitte ein Spalt freigelassen, von wo aus dann Gerichtsrat Walter (autoritär: Martin Rentsch) die Ausflüchte und Verstrickungen des Dorfrichters Adam verfolgt.
Dank der großartigen Schauspieler gibt es von Anfang bis zum Ende viele Lacher. Schon gleich der Beginn ist bezeichnend, wenn der geschundene Dorfrichter Adam (nach seiner Fuß-Verletzung bei den Proben zu „Macbeth“ in der vergangenen Saison wieder genesen: Max Mayer) vom Publikumssaal aus in Hemd und Unterhose mühevoll die Gerichtsstube erklimmt und Zuflucht auf seinem Sessel nimmt. Max Mayer verleiht ihm bei seinen agitatorischen Versuchen sich den jeweiligen Geschehnissen anzupassen, viele Facetten (mit starker Mimik und oftmals weit aufgerissenen Augen, die fragend wie irritierend dreinblicken). Nico Holonics gibt seinen süffisanten Gerichtsschreiber Licht, Lukas Rüppel einen hilflosen und anrührenden Angeklagten Ruprecht. Groß bringen sich auch die Damen zur Geltung. Wie Anica Happich als selbstbewusste Magd Lise, oder Carina Zichner (vom Schauspiel STUDIO) als verhalten und abwartend blickende, aber auch vehement anklagende Eve. Köstlich ist Bettina Hoppe als bodenständige Frau Marthe, die mit Lockenperücke und im braunen Kostüm samt Herbstblütenbluse (Kostüme: Raphaela Rose) allein schon optisch ungewohnt wirkt. Ihren kurzen Auftritt dem Ende hin nutzt Constanze Becker bestens, um sich als mondäne Frau Brigitte zu geben.
Viel Applaus für das heitere Lustspiel mit ernster Note.
Einen kleinen Zeitsprung hinsichtlich des Bühnenbildes erlebt der Zuschauer dann bei „Terror“. Die Guckkastenbühne ist von gleicher Größe, allerdings sind jetzt die Wände hell getäfelt, zudem gibt es umkleidete Tische, Ledersessel und Mikrofone für die am Verfahren Beteiligten, somit einen Gerichtssaal der Gegenwart. Die Uhr im Gericht zeigt die gleiche Uhrzeit wie bei „Der zerbrochene Krug“ an: 10.00 Uhr. Einen Spalt im Publikumssaal gibt es nicht, dafür kommt der vorsitzende Richter der Großen Strafkammer im Schwurgericht (mit ausgleichender Gerechtigkeit und souverän: Martin Rentzsch) vom Zuschauereingang herein. Und spricht zunächst das Publikum an. Denn dieses ist bei „Terror“ aktiv als Schöffenjury beteiligt. Wobei niemand befürchten muss, in irgendetwas hineingezogen zu werden, wozu er möglicherweise gar keine Lust hat. Das Schöffenamt beschränkt sich darauf, am Ende über die Anklage der Staatsanwaltschaft abzustimmen. Hierfür erhält jeder Zuschauer beim Betreten des Saals ein kleines Gerät, auf dem dann entweder die Taste „1“ für schuldig oder „2“ für unschuldig zu drücken ist. Das ist schon alles. Gleichwohl ist diese Einbeziehung der Trumpf des Stücks, das Erstlingswerk des Strafverteidigers Ferdinand von Schirach. Bislang hat er sich vor allem als Buchautor einen Namen gemacht. Seine Erzählungsbände „Verbrechen“ und „Schuld“ und seine Romane „Der Fall Collini“ und „Tabu“ wurden zu millionenfach verkauften internationalen Bestsellern, die bisher in mehr als 35 Ländern erschienen sind (Quelle: Piper-Verlag).
So gleicht das Stück einer nüchternen und seriösen Gerichtsverhandlung, bei der das Ende dem jeweiligen Abstimmungsergebnis angepasst wird. Bei der Premiere fiel es denkbar knapp aus. 440 (= 50,6 %) stimmten für einen Freispruch, 430 (= 49,4 %) für „schuldig“. Das Ergebnis ist letztlich zweitrangig, erstrangig ist die gedankliche Einbeziehung der Zuschauer. Der verhandelte Fall ist konstruiert, aber sehr gut vorstellbar. Ein Pilot der Luftwaffe hat eigenmächtig ein mit 164 Personen besetztes und entführtes Zivilflugzeug (Airbus A320) abgeschossen, das drohte, in die mit 70.000 Menschen gefüllte Allianz-Arena in München zu stürzen (Länderspiel zwischen Deutschland und England). Hätte das Blatt noch gewendet werden können, der Attentäter möglicherweise von den Passagieren überwältigt werden können (wie eine SMS eines Reisenden an seine Frau dies noch als Möglichkeit nannte) und warum wurde das Stadion nicht geräumt, bestand doch noch Zeit dazu. Die Grundfrage lautet aber, ob Menschen getötet werden dürfen, um andere Menschen zu retten, gilt quasi ein „übergesetzlicher entschuldigender Notstand“ für den Angeklagten?
Mit großer Eindringlichkeit und sprachlicher Brillanz aller Beteiligter, werden die Argumente für und wider angesprochen. Als anklagende Staatsanwältin Nelson brilliert Bettina Hoppe mit analytischem Blick und ebensolcher Argumentation, nicht nur bei ihrem 15-minütigen Schlussplädoyer. Etwas kürzer gibt dieses als Vertreter des Angeklagten, der lässige Verteidiger Biegler. Max Mayer, zunächst mit Fahrradhelm und Rucksack, aber ohne Amtsrobe auftretend,
Viktor Tremmel vermittelt als Zeuge Christian Lauterbach (von der Luftwaffe) Hintergrundwissen, Constanze Becker besticht durch ihre darstellerische Präsenz als betroffene Witwe und Nebenklägerin Franziska Meisner. Den angeklagten Piloten Lars Koch gibt Nico Holonics mit staatsmännischer Größe.
Die Premiere war zugleich die Uraufführung, die sich das Schauspiel Frankfurt mit dem Deutschen Theater Berlin teilte, denn dort wurde das Stück zeitgleich aufgeführt (in einer Inszenierung von Hasko Weber, in zwei Stunden mit Pause). Am Ende gab es in Frankfurt großen Jubelapplaus. Ferdinand von Schirach selbst war nicht zugegen, da er sich in seiner Heimatstadt Berlin die Uraufführung angesehen hatte. Allerdings hielten Holonics und Mayer ein Porträt von ihm in den Händen.
Markus Gründig, Oktober 15
Nach dem Fest
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 19. September 15 (Premiere)
Dem musikalisch untermauerten Saisonauftakt im Schauspielhaus (Die Geschichte vom Franz Biberkopf mit The Tiger Lillies) folgte zwei Tage drauf die Uraufführung von Hans Op de Beecks „Nach dem Fest“. Im Vergleich zur Lebhaftigkeit vom „Biberkopf“ ein recht konträrer Abend, mit wenig Bühnenlicht, ruhigen Klängen und besinnlichen Texten. Der Autor hat sich bisher einen Namen als Disziplin übergreifender Künstler gemacht, der sich als Grenzgänger zwischen Architektur, Bühnenbild, Film, Design und bildender Kunst betätigt. „Nach dem Fest“ ist seine erste Schauspielarbeit, er zeichnet auch für die Regie, Bühne, Kostüme und Musik verantwortlich.
Die Bühne in den Kammerspielen zeigt drei runde Podeste in unterschiedlicher Höhe. Jedes steht für das Zuhause eines der Protagonisten, mit beigestellten Miniaturen ihrer Wohnhäuser. Erzählt werden Schlaglichter aus einer kleinen Familie von einem rüstigen Vater im Seniorenalter und seinen erwachsenen Zwillingskindern, weniger eine sich entwickelnde Geschichte. Wie überall gilt auch hier: „Unter jedem Dach, ein Ach“. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, auch wenn es allen materiell gut geht. Allen voran Vater Bernard (als strahlender Gewinnertyp: Peter Schröder), der von seiner Tochter temporär in eine Wellnessklinik einquartiert wurde, wo er sich, von was auch immer, richtig verwöhnen lassen kann. Dementsprechend lässig liegt er dann auch im weißen Bademantel entspannt auf einer mondänen Liege. Die Tochter Lauren (aufgeweckt und verführerisch: Franziska Junge) hat sich nach einer Fehlgeburt und Verlust ihres Partners ganz der virtuellen Welt verschrieben, lebt inmitten von Computern und Bildschirmen in einem finsteren Raum. Der Sohn Anton (bescheiden und einfühlsam: Torben Kessler) ist seit acht Jahren an einen Rollstuhl gefesselt und ist ein leidenschaftlicher Maler. Seine Umgebung besticht mit viel Holz und warmem Licht. Er hat aber immerhin so etwas wie eine Beziehung, auch wenn sie recht platonisch ist. Er wird umsorgt von seiner Elise (behutsam: Verena Bukal; auch Erzählerin und Krankenschwester).
Raum und Zeit werden immer wieder aufgebrochen, die drei Orte verschmelzen zu einem, denn jeder hört und kommentiert den anderen. Dabei werden auch Texte reflektiert, die allgemeingültiger Natur sind, wie Erklärungen Antons zu seinen Maltechniken. Ein Teil dieser Texte sind auch im Programmheft abgedruckt. Dieses wurde erstmals im Querformat hergestellt. Es enthält zahlreiche Aquarelle Hans Op de Beecks. Vor allem magische Landschaftsbilder und zwei Innenansichten. Menschen kommen dabei nicht vor, Lebewesen immerhin als Fische in einem Aquarium.
Es ist ein besinnlich stimmendes Kunststück mit neuen Erkenntnissen zum Ende hin. Viel freundlicher Applaus.
Markus Gründig, September 15
Die Geschichte vom Franz Biberkopf
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 17. September 15 (Premiere)
„Stark wolltest du sein,
stark wie ein Athlet,
doch die Welt ist doch stärker.“
Alfred Döblin
Ein Stück, gespielt auf dem Körper einer nackten Frau („Glaube Liebe Hoffnung“), als Live-Videoproduktion („Endstation Sehnsucht“), mit starken lokalen Bezügen („Frankfurt“), ein Jahrhundertwerk mit nur einem Darsteller („Die Blechtrommel“), mit brennender Hütte und integrierten Behinderten („Dämonen“), auf sich ständig bewegenden Riesenwalzen („Dantons Tod“), mit viel Tanz und wenig Sprache („Macbeth“) und zum Abschluss einfach nur komisch („Was ihr wollt“): Die vergangene Saison brachte viele neue und ungewöhnliche Facetten im Schauspiel Frankfurt zu Tage (nicht nur im Schauspielhaus). Ungewöhnlich und ebenso vielversprechend startete jetzt die neue Spielzeit, die vorletzte unter der Intendanz von Oliver Reese.
Eröffnet wurde sie mit einer der bekanntesten literarischen Figuren: Franz Biberkopf. Alfred Döblin schuf 1929 mit ihm und dem Roman „Berlin Alexanderplatz“ einen neuen Heldentypus. Ein Strafgefangener wird entlassen und hofft auf einen unbeschwerten Neubeginn. Doch statt einer Resozialisierung verfängt er sich im Strick von dubiosen Machenschaften, hat Kontakte zu den falschen Leuten und landet schließlich in einer Irrenanstalt. Seine Bemühungen „anständig“ zu bleiben, scheitern kläglich. Keiner hilft ihm, weder Gott noch Teufel, weder ein Engel noch ein Mensch und am allerwenigsten er sich selbst. Oder wollen doch alle ihm helfen?
Bekannt ist diese Auseinandersetzung Individuum kontra Gesellschaft, durch die TV-Verfilmung von Rainer Maria Fassbinder aus dem Jahr 1980 (mit Günter Lamprecht in der Titelrolle). Weniger bekannt ist, dass Alfred Döblin eine eigene Hörspielfassung schrieb. Diese Kurzfassung diente jetzt dem Schauspiel Frankfurt und der Regisseurin Stephanie Mohr als Grundlage für eine szenische Umsetzung. Das circa 70-minütige Hörspiel wurde mit Live-Musik der britischen „The Tiger Lillies“ für diese Uraufführung auf ein abendfüllendes Format gebracht. Die aus dem Londoner Soho stammende Gruppe besticht mit rabenschwarzem Humor und melancholischem Sound. Sie schrieb eigens für diese Aufführung 13 neue Songs und die drei Bandmitglieder sind auch schauspielerisch mit von der Partie. Insbesondere Martyn Jacques als singender Kommentator. Alle Liedtexte stehen im Zusammenhang mit dem Stück und die englischen Liedtexte sind auch im Programmheft abgedruckt. Während der Aufführung dienen sie mehr als musikalische Unterbrechung, denn als das Geschehen reflektierende Informationsquelle, was schade ist. Denn ihre Inhalte passen hervorragend, gehen ob der englischen Sprache und der mitunter eingeschränkten Verständlichkeit aber leider etwas unter.
Zu Beginn ist die große Bühne leer. Aus einer Ecke tritt Franz Biberkopf auf, ganz so, als wäre er gerade aus der Haft entlassen worden und die Welt empfängt ihn mit schonungsloser Kälte. Sascha Nathan gibt ihn großartig, mit großem Herz und der ihm eigenen Lässigkeit, später dann auch mit unter der Haut brodelnder Wut.
Zunächst ertönt der Prolog „Wer ruft“, ein Dialog zwischen einer Stimme und Hiob (der alttestamentarischen Gestalt, einem besitzlosen und kranken, der alles gewonnen und alles verloren hat und nun nicht mehr in seinem Palast sondern in einer Hundehütte lebt). Der Bezug zu Hiob wurde von Döblin eigens für das Hörspiel der Geschichte hergestellt.
Dann fahren breite Bühnenstangen herab. An Ihnen sind Dekorationen, Kostüme und Requisiten befestigt. So entsteht trotz des großen und weiten Raums eine gewisse vertraute berlinerische Vorkriegsatmosphäre, mit alten Schrifttafeln, Würsten und Biergläsern. Die weiteren Darsteller und die Musiker fahren aus dem Bühnenboden hoch, wie auch später Podeste nach oben fahren (beispielsweise für das Zuhause von Franz). Eine tolle Optik vermitteln auf den Kopf gestellte Bäume (für den Ausflug in den Wald des brandenburgischen Freienwalde; Bühne: Miriam Busch).
Regisseurin Stephanie Mohr inszeniert zum zweiten Mal am Schauspiel Frankfurt. In den Kammerspielen brachte sie im November 14 eine Dramatisierung von Imre Kertészs „Liquidation“ als deutschsprachige Erstaufführung auf die Bühne. Auch mit den „The Tiger Lillies“ hat sie bereits gearbeitet, für die Produktion »Woyzeck & The Tiger Lillies« nach Georg Büchner der Vereinigte Bühnen Wien im Museumsquartier. Hierfür wurde sie 2012 in der Kategorie „Beste Regie“ mit dem österreichischen Theaterpreis „Nestroy“ ausgezeichnet. Die Geschichte des Franz Biberkopf erzählt sie mit viel Feingefühl, findet zu jedem Satz ein passendes Bild, sei es verträumt, verspielt, voller Melancholie, Zärtlichkeit oder Gewalt. Bis auf Franz Biberkopf sind alle Darsteller und Musiker im Gesicht weiß geschminkt und tragen überwiegend schwarze Kleidung und gerne auch Melonen (Hüte). Der Abgrund, der Tod lauert so als uniformierte Masse die ganze Zeit um den Titelhelden herum (Kostüme: Nini von Selzam). Individuelle Darsteller sind da zunächst nur stimmlich zu erkennen. Wie die von Josefin Platt als die ehemalige Geliebte von Franz, voller Empathie und enormer szenischer Präsenz. Oder Christoph Pütthoff als Verbrechergeselle Pums (auch vehementer Richter und Wirt). Till Weinheimer hat einen großen Anteil als Sprecher und als der Tod. Als letzterer kommt er meist sympathisch grinsend daher, nicht abgründig. Eine passend feine und zarte „Blume“ gibt Paula Hans (auch Junge / Auto-Fiat) als Mieze ab. Alice von Lindenau zeigt sich facettenreich als Lina, Cilly, Toni und Auto-Opel, ebenso Till Firit (Meck, Karl) und Thorsten Danner (Lüders, Herbert, Max, Hoppegartener).
Sein Debüt am Schauspiel Frankfurt gibt bei dieser Produktion Felix Rech als fieser Reinhold. Der vom Schauspiel Bochum kommende Darsteller ist seit dieser Saison neu im Ensemble. Trotz Gesichtsbemalung besticht er mit seinem ausdrucksstarken Spiel und großer Präsenz.
Am Ende erwacht Franz Biberkopf als neuer Mensch, nicht unbedingt als besserer, zumindest als angepasster, denn jetzt ist sein Gesicht auch weiß geschminkt. Sehr viel Applaus.
Markus Gründig, September 15
Hamlet
Staatstheater Wiesbaden
Besuchte Vorstellung: 6. September 15 (Premiere)
In London sorgt derzeit der Schauspieler Benedict Cumberbatch für einen Hype um die aktuelle Hamlet-Aufführung im Barbican-Theatre. Sämtliche Vorstellungen (noch bis Ende Oktober 15) sind in dem immerhin 1166 Sitzplätzen fassenden Haus seit Wochen ausverkauft. Am 15. Oktober 15 erfolgt eine weltweite Live-Übertragung in die Kinos. Ob der Wiesbadener Neuproduktion ein ähnlicher Hype beschieden sein wird, bleibt abzuwarten. Auch ohne großen Namen hat sie durchaus Potential. Wobei einen großen Namen kann die Wiesbadener Produktion schon aufwarten. Regisseur Nicolas Brieger ist vielen vor allem auch als Schauspieler bekannt. Die Besetzung der Titelrolle wiederum gleicht eher dem amerikanischen Traum „vom Tellerwäscher zum Millionär“. Denn der Wiesbadener Hamlet-Darsteller Christian Erdt (Jahrgang 1987) war zuletzt am Schauspiel Frankfurt als Mitglied des SchauspielSTUDIOS tätig. Größere Rollen verkörperte er zwar schon auf der Schauspielhausbühne in Frankfurt (wie die Figur des Erhart in Andrea Breths Inszenierung von Ibsens „John Gabriel Brokman“ an der Seite von Corinna Kirchhoff und Wolfgang Michael). Sein Wechsel an das Staatstheater Wiesbaden katapultiert ihn nun aber einen gehörigen Schritt stärker ins Rampenlicht der nationalen Theaterszene, ist seine erste Rolle bei seinem ersten Festengagement als Schauspieler doch eine der größten Rollen der gesamten Theaterliteratur. Und er meistert sie großartig. Dem Zauderer Hamlet verleiht er eine ungeheure jugendliche Vitalität mit viel Enthusiasmus. Die fünf Akte über strauchelt, zweifelt, kämpft und liebt er, geht den Weg, den er gehen muss, stets mit vollem Körpereinsatz. Dabei zeigt er sich vielseitig und facettenreich. Der Auftritt im Adamskostüm für den Wechsel zwischen bisherigen und „erwachten“ Hamlet (Begegnung mit dem Geist) ist für ihn dabei wohl die geringste Herausforderung bei dieser Mammutrolle.
Als Textfassung wird die Übersetzung von Angela Schanelec und Jürgen Gosch verwendet, die mitunter derbe neuzeitliche Wörter aufweist. Dies sind aber eine der wenigen Bezüge zum hier und heute. Zu diesen zählen auch zwei kleine Überwachungskameras („Überwachungsstaat“), die Hamlet in Rage zerstört. Regisseur Nicolas Briegel verortet die Geschichte um Macht, Intrige und Rache in eine postapokalyptische Zeit. Das Einheitsbühnenbild von Stefan Heyne zeigt eine große Industriebrache. Verrostete Rohre und Rohrleitungen, aber auch zwei verrostete Kraftfahrzeuge liegen verstreut herum. Auf der Drehbühne befindet sich ein Industrieturm (natürlich auch verrostet) aus verschiedenen Rohrsegmenten, der nicht nur erklommen wird, sondern auch als Handlungsebene für die Schauspielertruppe und als Königssitz im dänischen Helsingör gilt. Hier zeugen lediglich Bilder einer Lamellenwerbetafel von herbst- und winterlichen Waldimpressionen von vergangenen Zeiten.
Besonderer Clou der Bühne ist ein vorgelagerter Burggraben, durch den das Geschehen den Zuschauern deutlich näher kommt. Hierfür wurde der Orchestergraben geflutet. Zwar nur ein Paar Zentimeter, aber das reicht aus. In dessen Mitte befindet sich zudem eine, mit zahlreichen Pflanzen umsäumte kleine Insel. Sie dient Hamlet, aber auch seine Mutter Gertrud (passend dekadent und graziös: Sólveig Arnarsdóttir), als Stätte zum Ausruhen. Die Seiten dieses Burggrabens sind zu den Balkonen des Zuschauerraums mit Sandsäcken belegt. Über diese Seiten erfolgen viele Auf- und Abtritte, wie auch die Orchestergrabenbrüstung als Spielfläche genutzt wird. Zeitlich nicht exakt fixiert sind auch die Kostüme von Andrea Schmidt-Futterer. Einerseits werden moderne Anzüge getragen, andererseits gepolsterte Anzüge, die an Ritterrüstungen erinnern.
Neben der stimmungsvollen Ausleuchtung (Licht: Andreas Frank) sorgt vor allem Nils Strunk mit seiner E-Gitarre für emotionale Untermauerung (mit eigenen und fremden Kompositionen, nachzuhören unter: www.soundcloud.com/nilsstrunk). Er gibt zudem Hamlets Freund Horatio.
Für die erkrankte Barbara Dussler hatte kurzfristig Janina Schauer die Rolle der Orphelia übernommen. Hätte Intendant Uwe Eric Laufdenberg nicht vor Beginn darauf hingewiesen, wäre die andere Besetzung vielen gar nicht aufgefallen, denn Janina Schauer hat sich innerhalb zwei Tagen hervorragend in diese Rolle eingearbeitet, wofür sie beim Schlussapplaus auch extra bedacht wurde.
Der Claudius des Tom Gerber (spielt auch den Vatergeist), gleicht einem windigen Manager, der seine Mitspieler aus dem Weg räumen will, um seine eigene Machtposition zu stärken. In weiteren Rollen dabei: Michael Birnbaum (Polonius), Lukas Benjamin Engel (Güldenstern), Marcel Herrnsdorf (Cornelius), Benjamin Krämer-Jenster (Reynaldo / 2. Totengräber), Rainer Kühn (1. Schausp. (König) / 1. Totengräber), Felix Mühlen (Rosencrantz), Ulrich Rechenbach (Laertes), Marek Sarnowski (Voltemand / Lucianus / Priester), Matze Vogel (Marcellus / 2. Schausp. (Königin), Osric).
Innerhalb des Abends passiert sehr viel, wodurch es zu keinem Zeitpunkt langatmig wird, zumal manch Anachronismus zum Nachdenken anregt. Viele Bilder sind voller Poesie, wie das chorische Singen zu Beginn und Ende (statt eines Trauermarschs) oder die Aufführung der Theatertruppe. Nicolas Briegers modern angehauchter aber letztlich zeitloser „Hamlet“ erhielt nach über vier Stunden Spieldauer (inklusive einer Pause und damit 30 Minuten länger als Oliver Reeses Hamlet-Inszenierung 2011 am Schauspiel Frankfurt) am Ende, immerhin kurz vor Mitternacht und das an einem Sonntag, starken und lang anhaltenden Applaus.
Markus Gründig, September 15
The Glass Menagerie
The English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 5. September 15 (Premiere)
„Take a shot at the American Dream“
Die neue Spielzeit des English Theatre Frankfurt steht unter dem Motto „Take a shot at the American Dream“. Sie wurde jetzt mit einem Klassiker der US-amerikanischen Theaterliteratur eröffnet. Mit Tennessee Williams‘ am 26. Dezember 1944 in Chicago uraufgeführter „The Glass Menagerie“. Von Williams waren am English Theatre Frankfurt bereits „Cat on a Hot Tin Roof“ (ab September 2007) und „A Streetcar Named Desire“ (ab September 2009) zu sehen. Alle drei Stücke sind nicht zuletzt durch ihre zahlreichen Verfilmungen bekannt.
Wird bei Dramatisierungen der Amerikanische Traum thematisiert, geht es natürlich weniger um eine Erfolgsstory nach dem Motto „vom Tellerwäscher zum Millionär“. Vielmehr wird ein ernüchternder Blick hinter die Fassade der US-amerikanischen Gesellschaft gezeigt, werden Illusionen und Lebenslügen entlarvt. So vor allem auch im Œuvre Tennessee Williams‘. Sein großes Erstlingswerk „The Glass Menagerie“, das als Script in Hollywood zunächst abgelehnt worden war, ist dabei noch autobiografisch geprägt.
In „The Glass Menagerie“ geht es um die Geschichte der Familie Wingfield. Der Mann hat die Familie sitzen gelassen, die Kinder sind junge Erwachsene und leben noch bei der Mutter. Ein Generationenkonflikt zwischen materialistischen und idealistischen Wertvorstellungen wird dabei vor allem zwischen Mutter und Sohn deutlich. Extrem in sich gefangen ist die extrem schüchterne und mit Komplexen bepackte Tochter, die sich wegen eines steifen Beines von der Außenwelt abgekapselt hat. Williams nennt sein Stück ein „Spiel der Erinnerung“, denn Sohn Tom erzählt in Rückblenden, warum er vor Jahren von seiner Familie flüchtete.
Für das English Theatre Frankfurt inszenierte es jetzt der Brite Tom Littler in klassischer Manier und mit subtilem Gespür für berührende Momente. In der vergangenen Saison zeigte er am English Theatre bereits Patricia Highsmiths „Strangers on a Train“ und Jon Robin Baitzs „Other Desert Cities“.
Für das in den 1930er Jahren in einer Seitengasse von St. Louis (US-Bundesstaat Missouri) spielende Stück fand Bühnenbildner Bob Bailey eine ansprechende und dennoch abstrakte Umsetzung. Die Wohnung der Familie Wingfield mit ihrem Zugang über eine Feuertreppe wird mit zwei Plateaus angedeutet. Es sind zwei unterschiedlich große und auf unterschiedlicher Höhe aufgestellte Präsentierteller mit silbern glänzenden Borten, die für den Ess- und den Wohnbereich stehen (hinten gibt es ein drittes, ebenso rundes Plateau für die Feuertreppenplattform, die als Eingang dient). Umsäumt ist dieses Arrangement von schwarzen Wänden und unterschiedlich hohen dreieckigen Spiegelsäulen, die sich zwischen den Szenen drehen und die Szenerie dezent reflektieren. In diesem dunklen Ambiente gibt es keinen sichtbaren Ausgang, kein Tageslicht und am Ende auch keine Hoffnung mehr.
Williams hat zu dieser „zarten Elegie über das ungelebte Leben“ (Reclam) detaillierte Anmerkungen gegeben, die der „Konzeption eines neuen, plastischen Theaters dienlich sein sollen“. Musik mit eindringlichen Erinnerungsmotiven ist dabei „ein über das Literarische hinausgehender Akzent des Stücks“. Die überwiegend klassische Musik (Violine: Guy Button) wurde vom Sound Designer Max Pappenheim gefühlvoll eingebunden. Sie untermalt vor allem das Gefühlsleben von Laura. Klackende Geräusche ertönen als Bedrohung von der Außenwelt, deuten aber auch den Ablauf der Lebensuhren an (was am Kokon der Wingfield-Familie jedoch abprallt).
Vier Darsteller sorgen bei kammerspielartigem Ambiente für eindringliche Momente. Allen voran Laura Darrall mit großer Intensität als fragile Laura Wingfield, die stets Zuflucht zu ihren ebenso fragilen Glasfiguren sucht. Ihr Bruder Tom hat es nur scheinbar einfacher. Doch auch er ist eine tragische Figur, nicht nur durch die Vorbelastung seitens seines Vaters. James Sheldon, der bei „Strangers on a Train“ die Figur des Charles Bruno verkörperte, zeichnet den Zwist, in dem Tom steckt, glaubhaft nach. Nina Young gibt eine starke Mutter Amanda, eine attraktive und vor Energie sprühende Frau, die von ihren jugendlichen Reizen nichts eingebüßt hat und die von ihrer Umwelt dennoch als etwas anstrengend empfunden wird. Brian Martin glänzt als charmanter, strahlender und vitaler Jim O’ Connor.
„The Glass Menagerie“ ist noch bis zum 24. Oktober 15 zu sehen. Im Frühjahr 2016 präsentiert zudem das English Theatre zusammen mit der Europäischen Zentralbank im Rahmen der Kulturtage eine Produktion aus dem Gastland Malta, Tennessee Williams‘ „Rose Tattoo“.
Markus Gründig, September 15
Transit
Theater Willy Praml / Wu Wei Theater
Besuchte Vorstellung: 27. August 15 (Premiere)
Am Tag der Premiere von „Transit“ wurde bekannt, dass in Österreich zwei Dutzend Flüchtlinge in einem Schlepperfahrzeug gefunden wurden (inzwischen sind es über 70). Die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner sagte daraufhin: „Dieser Tag ist für uns ein dunkler Tag.“ Schon seit langem reißt der Strom der Flüchtlinge aus Syrien, Libyen und anderen Krisengebieten nicht ab, sondern wird von Tag zu Tag mehr. Viele Länder sind für die Flüchtlinge dabei nur eine Zwischenstation auf dem Weg in eine neue, ungewisse Zukunft. Sie sind „Transitäre“, so wie es schon vor, während und nach dem 2. Weltkrieg viele gab. Von einem Teil dieser „Transitären“ erzählt Anna Seghers in ihrem 1940 handelndem und 194? veröffentlichten Roman „Transit“. Hierbei wurde sie von ihren eigenen Erfahrungen auf der Flucht von Marseille nach Mexiko Stadt über Martinique, New York und Veracruz inspiriert.
Eine Dramatisierung dieses zu den bedeutendsten Werken der deutschen Exilliteratur zählenden Werkes erarbeitete jetzt der niederländische Dramaturg, Regisseur und Schauspieler Paul Binnerts. Bei der Inszenierung der Frankfurter Theater Willy Praml und WuWei in der Naxos-Halle führt Binnerts auch die Regie (ein externer Regisseur ist für das Theater Willy Praml ein Novum). Binnerts hat schon in den 1970er und 1980er Jahren in Frankfurt als Theatermann gearbeitet („Schlicksupp teatertrupp“; das „Wu Wei Theater“ ist gewissermaßen eine kleine Nachfolgekompanie davon).
„Transit“ handelt von einem jungen Mann, der im noch freien Marseille des Jahres 1940 temporär Zuflucht gefunden hat und dort, wie viele andere auch, auf Papiere für eine Auswanderung wartet. Dabei geht es nicht nur um das Ergattern eines Schiffstickets. Das Sammeln aller nötigen Unterlagen hat kafkaeske Züge, denn irgendein Dokument (Aufenthaltsgenehmigung, Ausreisegenehmigung, Bürge, Visa, Passierschein, Schiffsticket, Kaution etc.) scheint immer zu fehlen, unvollständig oder fehlerhaft zu sein. Schon sich in Marseille aufhalten zu wollen, geht nur mit dem amtlich dokumentierten Willen, die Stadt verlassen zu wollen. Sie alle haben es eilig, doch kommen sie nicht vorwärts.
Anders als der Roman mit seinen zehn Kapiteln, besteht Binnerts Theaterfassung aus einem kurzen Vorspiel und vier Teilen. Dabei kommt sehr viel aus dem Roman vor, freilich in anderer Reihenfolge. Stark gekürzt wurde die Freundschaft zwischen Seidler und der Familie Binnet, insbesondere das Verhältnis zu deren Jungen.
Per Live-Video (Videogestaltung: Seweryn Zelazny) werden nicht nur Szenen bewusst „gestellt“ (mit Hommage an ein anderes Flüchtlingsdrama aus dieser Zeit: den melodramatischen Film „Casablanca“ von 1942), sie werden auch von der Szenerie her untermalt. Mit Miniaturen einer Landstraße, des durch die Nationalsozialisten besetzten Paris, der Bombardierung von Schiffen und der Stadt Marseille (Miniaturwelten: Paula Kern). Ansonsten reichen zur Andeutung der Spielorte ein paar Stühle und Bistrotisch (Bühne, auch Kostüme: Michael Weber). Der Koffer des Schriftstellers Weidel mit seinen literarischen Hinterlassenschaften steht wie ein Mahnmal die ganze Zeit über im vorderen Bühnenbereich.
Musikalische „Interpunktionen“ sorgen für eine Auflockerung der vielen kurzen Szenen (Musik: Dietrich Stern). Hierbei wird gemeinsam ausgelassen getanzt, aber auch erhaben marschiert und wehmutsvoll Abschied gefeiert (Choreografie: Heike Henniog). Das Ensemble ist den ganzen Abend über auf der weiten Spielfläche präsent (dazu stehen die Darsteller in der Pause hinter den Tresen und verkauft u.a. ein Transit-Paket, ein Stück Pizza und ein Glas Rosé).
Sieben der neun Darsteller spielen jeweils mehrere Rollen (wofür zur Kenntlichmachung kleine Änderungen an Accessoires reichen). Reinhold Behling gibt u.a. den Paul Strobel, den Mann mit guten Kontakten zu wichtigen Stellen. Birgit Heuser glänzt als geschäftstüchtige und mit der Polizei kooperierende Zimmerwirtin, als Frau, die dank zweier Doggen in die USA ausreisen darf und als resignierende Frau, die als Trotzreaktion auf ihre verweigerte Ausreise nun ihr gesamtes Reisegeld in Austern und Champagner anlegt und umgehend konsumiert. Sam Michelson gefällt als auf die Formalien achtender Konsul (sowohl amerikanischer als auch mexikanischer Konsul). Willy Praml spielt voller Elan den tschechischen Dirigenten, der wegen eines vermeidlich fehlenden Passbildes einen Herzinfarkt bekommt und stirbt. Angelika Sieburg gibt eine kluge Schriftstellerin. Verena Specht-Ronique verzaubert als junge Marie, die Frau, die sich nicht entscheiden kann. Michael Weber gibt u.a. den einbeinigen Heinz, der sich nicht unterkriegen lässt. Andreas Wellano überzeugt als standesbewusster und um Maries Gunst werbender Arzt. Ideal besetzt ist mit Jaklob Gail vor allem aber die Rolle des Seidler, der dessen Unbekümmertheit und Fixiertheit auf Marie charmant vermittelt.
Tagespolitische Bezüge hat Regisseur Paul Binnerts außen vorgelassen. Für seine spielfreudige Umsetzung (unter Einbeziehung von Seghers Vorliebe für Techniken wie Montage und innerer Monologe) und die hervorragende Ensembleleistung gab es am Ende verdienten und großen Applaus.
„Transit“ ist auch Themenschwerpunkt für die Jahre 2015-2018 des Kulturfonds Frankfurt RheinMain (nach zuletzt „Impuls Romantik“), der dieses Projekt unterstützt.
Eine Fortsetzung ist bereits in Planung. Unter dem Arbeitstitel „Eine theatrale Intervention in und mit dem Transitraum RheinMain“ soll es ab Dezember/Januar Aufführungen geben. Dies als eine Kombination von Sagen, Mythen und Märchen sowohl von Flüchtlingen wie auch von uns Gastgebern. Ziel ist herauszufinden, was am Zusammentreffen mit anderen Kulturen fasziniert, mögliche Reibungen zu enttabuisieren und die Schönheit des Entdeckens formulieren zu lernen.
Markus Gründig, August 15