kulturfreak.de Besprechungsarchiv Theater, Teil 27

© Auri Fotolia

Living with Lady Macbeth

The English Theatre Frankfurt ~ Drama Club
Besuchte Vorstellung:
10. Juli 16

kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Die großen Stücke sind am English Theatre Frankfurt erfolgreich abgespielt, nun erobert vor der Sommerpause noch für eine Woche die Jugend die Bühne. Der Drama-Club des English Theatre Frankfurt zeigt mit Unterstützung der Ustinov Theatre School Rob Johns Stück Living with Lady Macbeth (das hier zuletzt in 2006 gespielt wurde). Beteiligt ist zudem die Maria-Ward-Schule Bad Homburg, Kunstvoll-Partner des English Theatre Frankfurt (im Rahmen der Förderung durch die Aventis-Foundation). Es ist zugleich die Abschlussproduktion von Regisseur Michael Gonzar, der in den vergangenen 11 Jahren mit großer Hingabe den Drama-Club und die theaterpädagogische Abteilung am English Theatre Frankfurt leitete (dem Haus wird er künftig bei einzelnen Projekten verbunden bleiben).

Living with Lady Macbeth
English Theatre Frankfurt ~ Drama Club
Lily Morgan (Aisling Hayes), Witches
© Martin Kaufhold

In der sorgfältig vorbereiteten Produktion sind mit fünf Mädchen und neun Hexen neben den acht Darstellern insgesamt 22 Personen beteiligt, dazu spielt ein kleines Orchester vorzugsweise Ausschnitte aus Verdis „Macbeth“. Es besteht aus Schülern und Lehrern der Maria-Ward School, die musikalische Leitung hat Dennis Tjiok inne. Zentrales Bühnenelement ist im Hintergrund eine große Leinwand, auf die kunstvolle Bilder und kurze Filme projiziert werden. Auf der eigentlichen Bühne befindet sich mittig ein flaches Podest und an den Seiten zwei Stahltreppen und ein Sessel. Die Filmsequenzen dienen dazu, Hintergründe zur Hauptfigur der jungen Lily Morgan zu geben (in Form von ihren Träumen und Alpträumen; Video Design: Urs Bauer).

Lily ist hilfsbereit, lieb, nett, rücksichtsvoll und genau das ist ihr Problem. Sie gilt schlichtweg als etwas langweilig. So ist es kein Wunder, dass sie sich ausgerechnet für die Figur der Lady Macbeth aus Shakespeares Drama Macbeth interessiert, eine Figur, mit der gemeinhin Härte und mörderische Leidenschaft verbunden wird. Im Rahmen einer Theateraufführung bewirbt sich Lily dann ausgerechnet für diese Rolle, die ihr keiner zutraut. Durch Einfluss der Außenwelt (inklusive Hexen) erfährt Lily aber eine Entwicklung, öffnet sich gewissermaßen auch ihren dunklen Seiten. Beim Vorsprechen geht sie dann derart aus sich heraus, dass sich die Lehrerin (Energiegeladen: Lea Dunbar) unter einem Tisch versteckt. Aisling Hayes gibt die Figur der Lily Morgan authentisch und rockt nebenbei mit ihrer Soulstimme ungemein.
Ein ruhiges Gemüt zeigt Lilys Freund Barry (Tobias Lang), während ihre Freundin Monica (Susanna Mauer) lebhafter ist. Selbstbewusst zeigen sich auch Lilys Mutter (Sharon Adam) und ihr posender Bruder (Felix Guba). Besonders gelungen sind, neben der zentralen Vorsprechszene, in der Lily mit scharfem Messer die Bühne zum Beben bringt, ob der Verbindung von filmischen und szenischen Geschehen die Szenen, wenn in Lilys Fantasie ein Mädchen nach dem anderen tot umfällt.
Auf die Rolle verzichtet Lily dann am Ende großzügig, sie hat ihr persönliches Ziel nämlich schon erreicht… Viel Applaus!

Die Spielzeit 2016/17 des English Theatre Frankfurt steht unter dem Motto „Strictly British ~ One Season To Rule Them All“ und startet am 2. September mit der Premiere von The Picture of Dorian Gray nach Oscar Wilde.

Markus Gründig, Juli 16


Totentanz

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
14. Juni 16 (Premiere)

Die Ehe von Alice und Edgar ist die Hölle auf Erden, für beide. Weder können sie ohne den anderen, noch mit ihm. Die einzige Hoffnung ist der Tod, der sie schon die ganze Zeit ihrer 25-Jährigen Ehe begleitet. August Strindbergs Drama Totentanz bietet einen Ehehölletrip der Extraklasse, wo vieles ausgesprochen wird, was sonst der Contenance wegen unausgesprochen bleibt. Daniel Foerster, Teil des REGIEstudio am Schauspiel Frankfurt, hat daraus jetzt in den Kammerspielen mit vier exzellenten Charakterdarstellern einen genialen und ins Monströse verzerrtes Spiel über zwischenmenschliche Abgründe gemacht. Zuvor zeigte er bereits in der Box „Der goldene Fleiss“ und „Fräulein Julie“ (ebenfalls von Strindberg, diese Inszenierung war im April dieses Jahr zu dem Regietheaterfestival Radikal jung nach München eingeladen worden).

Totentanz
Schauspiel Frankfurt
Alice (Konstanze Becker), Edgar (Oliver Kraushaar)
© Birgit Hupfeld

Foerster hat den ersten Teil etwas erweitert, den zweiten, im Hause von Kurt spielend, jedoch komplett gestrichen (was üblich ist). So beschränkt sich das Spiel ganz auf den wahnwitzigen Konflikt zwischen Alice und Edgar (sein perfides Spiel um Kurt in den Abgrund zu treiben und sein Tod bleiben außen vor, ebenso die Affäre zwischen den erwachsenen Kindern Alice und Allan).
Die Bühne von Julia Scheurer greift den Gedanken eines trostlosen Heims für die Festung an der Küste, in der das Paar lebt, mit einem schwarzen Portal auf. Im Hintergrund deutet ein im Licht glitzernder Vorhang aus Kunststoffstreifen das Meer an. In diesem düsteren Raum sind alle gefangen. Die Kostüme von Ellen Hofmann unterstreichen den ins Groteske führenden Inszenierungsansatz. Sie sind bunt, mit knalligen Farben. Alice trägt elegante Abendkleider im leuchtenden Lila (und später eins in Weiß, mit mondän gestylten Haaren), Kurt einen grün und dunkelblau gestreiften Anzug, der seine Außenseiterposition unterstreicht. Alices, einem Reifrock nachempfundenen, Kleid ist knallgelb, wie auch ihre Augenlieder gelb geschminkt wurden. Edgar, der Kapitän der Festungsartillerie, erscheint in einem schwarzen Pullover mit dezenten Rautemustern in rot.

Er, der als Jugendlicher seine jüngeren Geschwister ernähren musste, stets ein Außenseiter und Kämpfer war, ist nun verbittert und hochgradig zynisch. Oliver Kraushaar gibt ihn schonungslos und großartig in den unterschiedlichsten Stimmungen. Entsprechend dem vampirhaftem Wesen, wie das Paar sich selbst bezeichnet, ist sein Gesicht weiß geschminkt, die Haare nach hinten gelegt. Da wundert es nicht, dass sich seine Frau Alice vor ihm fürchtet. Als diese ist die famose Constanze Becker zu erleben. Hier trumpft sie vor allem mit ihrer komischen Seite und mondänem Körperbewegungsspiel auf, macht dabei ob ihrer ausdrucksstarken Gesichtsausdrücke jeder Stummfilmdiva starke Konkurrenz. Als Paar liefern die beiden sich einen außergewöhnlichen Kampf (von einer harmlosen Torte ins Gesicht bis zum Abmetzeln), aber auch ein außergewöhnliches Liebesspiel. Das funktioniert vor allem deshalb, weil die beiden auch im realen Leben ein Paar sind (und zwei Kinder haben).
In der tragischen Figur des Quarantänemeister Kurt fügt sich Michael Benthin trefflich ein.
Als eine Art alter Ego tritt die Figur der Judith hinzu, die das Geschehen pantomimisch und mit Fremdtexten ergänzt. In dieser Figur ist die junge Alexandra Lukas vom SCHAUSPIELstudio zu erleben, die hier unschuldig wie ein Kind, aber auch bitterböse umherflattert und ein kleines Highlight für sich darstellt.
Lang anhaltender Applaus für eine genial verstörend wirkende Inszenierung und fesselnde Schauspielkunst.

Markus Gründig, Mai 16


No.Where.Wana.Be

Schauspiel Frankfurt ~ Jugendclub
Besuchte Vorstellung:
29. Mai 16 (Premiere)

Ist man jung, kann man es kaum erwarten, endlich erwachsen zu sein. Ist man erwachsen, denkt man mit Wehmut an die Zeit der Jugend zurück. Im Idealfall hatte man eine unbeschwerte Jugend, ohne Krieg und Flucht. Doch selbst wenn man eigentlich alles hat, Eltern, die für einen sorgen, die Möglichkeit, Schulbildung zu erfahren und sich keine großen Sorgen machen muss, ist ein Glücksempfinden nicht garantiert. Davon zeugt das neueste Jugendclubprojekt am Schauspiel Frankfurt, das von Regisseurin Laura Linnenbaum erarbeitet wurde. Neun Jugendliche (Lotte Eggenweiler, Anna Kudaschov, Noemi Memmler, Marietta Saggau, Clara van Biezen; Kuzey Baldis, Aljoscha Habel, Reza Shafeh, Luis Skalieris) haben sich hierfür intensiv mit den Problemen heutiger Jugendlicher beschäftigt. Wie viel davon unmittelbar mit ihnen selbst zu tun hat, bleibt offen (schließlich ist ja alles Theater). Gemein ist ihnen, dass sie sich alle als Hikikomori bezeichnen, also nach diesen Japanern, die sich aus Angst und Verunsicherung vor der Welt isolieren und sich stark aus der Öffentlichkeit und von sozialen Kontakten zurückziehen. Sich überfordert und unzulänglich fühlend, wollen sie am liebsten nirgendwo sein (no where wanna be).

No.Where.Wanna.Be
Schauspiel Frankfurt ~ Jugendclub
Jugendclub
© Birgit Hupfeld

Um das Gefühl der Zurückgezogenheit der Jugendlichen dem Zuschauer auch sinnlich zu vermitteln, werden diese nur über ein sehr kleines Türchen in die Spielstätte Box eingelassen. Sie müssen sich klein machen, um in die Welt der Jugendlichen eintauchen zu können. Und diese erscheint dann zunächst nebulös, denn dicke Rauchschwaden aus Trockeneis durchziehen die Box, in der die Jugendlichen aufgereiht und mit über das Gesicht gezogenen schwarzen Perücken mit langen Haaren und in uniformierter Schultracht stehen (Bühne / Kostüme: David Gonter). Doch sie wollen und können nicht mehr den Erwartungen der Eltern, der Schule und der Gesellschaft entsprechen. Sie legen die Schultracht ab und berichten als Individuen größtenteils frontal zum Publikum von ihren Nöten: Dass sie nicht mehr mit anderen sprechen wollen, von sozialer Isolation, nicht Nein sagen zu können und von der Unmöglichkeit, die „interne Glücksquelle anzuzapfen“. Aber auch, zumindest beim Autofahren, so etwas wie Selbstbestimmung erfahren. Und von der Kraft der Musik, die einem von ihnen geholfen hat, den Weg nach draußen zu finden und der jetzt glücklich ist. Gleichwohl können sie sich untereinander nicht immer weiterhelfen, wer sich total verweigert, dem kann auch die Gemeinschaft der Hikikomori nicht helfen. Es zeigt sich aber auch, dass, wenn behutsam Nähe gesucht, Vertrauen gefunden wird und die erste Blockade des Alleinseins und das Gefühl unzulänglich zu sein, abnimmt.
Das mitunter wie ein Selbsterfahrungsworkshop anmutende Stück folgt einer strengen Dramaturgie und Choreografie, so dass es am Ende großen Applaus gab.

Markus Gründig, Mai 16


Die europäische Wildnis, eine Odyssee

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
26. Mai 16

Dass dem Nachwuchs keine Chancen eingeräumt werden, kann dem Schauspiel Frankfurt wahrlich nicht nachgesagt werden. Als jüngstes Beispiel dafür dient „Die europäische Wildnis, eine Odyssee“ von Sascha Hargesheimer, die jetzt in den Kammerspielen zu sehen ist. Das Stück entstand im Rahmen des Programms Schauspiel Frankfurt AUTORENstudio. Die Inszenierung erfolgte durch Katrin Plötner, ihrerseits Mitglied des aktuellen Schauspiel Frankfurt REGIEstudios. Und als Drittes ist bei der Darstellerseite mit Matthias Scheuring ein Mitglied des Schauspiel Frankfurt SCHAUSPIELstudio dabei. Die Produktion entstand zudem als Koproduktion für die diesjährigen Ruhrfestspiele Recklinghausen, wo sie am 11. Mai 16 uraufgeführt wurde.
Autor Sascha Hargesheimer ist in Frankfurt/M geboren. Er ist Mitbegründer des 2004 entstandenen freien Theaters Landungsbrücken Frankfurt und arbeitet auch als Regisseur. Sein Stück „Polen ist mein Italien“ gewann bei der Langen Nacht der Neuen Dramatik 2013 den Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik. Im Jahr 2014 wurde das Nachfolgestück „In Salz“ mit dem Osnabrücker Dramatikerpreis ausgezeichnet.

Die europäische Wildnis, eine Odyssee
Schauspiel Frankfurt
Justus Pfankuch, Heidi Ecks, Verena Bukal, Matthias Scheuring, Carina Zichner
© Birgit Hupfeld

„Die europäische Wildnis, eine Odyssee“ ist, was gegenwärtig im deutschsprachigen Raum sehr populär ist, kein Drama im engen Sinn, sondern eine kunstvoll gefertigte Textkollage, ein „Konvolut aus Bildern und Szenen“ (Verlag schaefersphilippen). Hargesheimer hält dem Zuschauer mit zahlreichen kleinen Szenen einen Spiegel vor. Er zeigt das Porträt einer verunsicherten und orientierungslosen Gesellschaft und zieht lose Verbindungen zum umherirrenden Odysseus. In der äußerlich schlichten Inszenierung von Katrin Plötner kommt das in weiten Teilen sehr unterhaltsam daher. Dabei ist die Bühne von Daniel Wollenzin bescheiden ausgestattet, längst nicht so spektakulär wie beispielsweise die von Volker Hintermeier bei Felicia Zellers „Zweite allgemeine Verunsicherung“ (mit einem ähnlich abstrakten und modernen Text). Hinter einem großen schmalen schwarzen Rahmen wird auf einem bläulichen Boden vor einer blauen Rückwand gespielt. Lediglich vier, zu einer Reihe zusammengestellte, Holzbänke dienen als Kulisse (über denen eine Partylichterkette hängt). Mehr bedarf es nicht, nicht zuletzt auch wegen der stets wechselnden Ausleuchtung von Jan Walther, die schöne Akzente setzt. Zu Beginn wird mit ordentlich Lärm ein Flugzeugabsturz simuliert, ein Dröhnen, das auch physisch zu spüren ist. Zwischen den Szenen gibt es kurze Musikeinspielungen (Musik: Markus Steinkellner).

Diesen Abend erheben in erster Linie die fünf hervorragenden Darsteller als die im Leben Getrieben und Umherirrenden. Sie füllen den Text prall mit Leben. Heidi Ecks als die Kurzurlauberin und Sextouristin, ist wieder einmal unglaublich ausdrucksstark. Die kurze Szene, in der sie als Verunsicherte in der U-Bahn das Weite sucht, wird bei ihr zu einem Glanzpunkt. Berührend ihr Spiel als sich allein fühlende Mutter im Krankenhaus. Carina Zichner zischt und ärgert sich super als die engagierte Journalistin. Verena Bukal scheitert als Hundebesitzerin (und Ehefrau Penelope) sehr unterhaltsam an einem überfüllten Tierheim. Matthias Scheuring ist ein gestandener Politiker im Anzug und Justus Pfankuch ein leger gekleideter Mann (Kostüme: Lili Wanner), der seine Sporttasche und Turban nur mit Gesten verdeutlicht. Wobei es hier keine festen Rollen und kaum Dialoge gibt.
Nach pausenlosen 90 Minuten sehr viel Applaus für Katrin Plötners gelungene Umsetzung der Szenen aus der „europäischen Wildnis“.

Markus Gründig, Mai 16


Shoot / Katzelmacher / Repeat

Schauspiel Frankfurt / HfMDK Frankfurt (im Bockenheimer Depot)
Besuchte Vorstellung:
20. Mai 16 (Premiere)

kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Noch vom Foyer geht es für alle Zuschauer erst einmal heraus, heraus aus dem Bockenheimer Depot und an den Außenmauern entlang zu einem der hinteren Seiteneingänge, wo sich dann alle im hinteren Bereich des rechten Seitenschiffs einfinden. Dort befinden sich bereits die neun Darsteller. Sie tragen Alltagskleidung, über die ist allerdings ein Tutu gestreift. Acht von ihnen tragen ein weißes, eine ein schwärzlich eingefärbtes Tutu (Kostüme: Raphaela Rose). Sie führen, zunächst zu verstörend wirkenden Klängen, einen Gemeinschaftstanz auf. Das Publikum stellt sich dabei rings herum. Die Musik wechselt zu einer a capella Version von „Because“ der Beatles („Because the world is round. It turns me on“) und schließt mit einer dynamisch aggressiv gefärbten Version von „Happy Birthday“ (von Modeselektor). Anfangs wird homogen getanzt, doch dabei bleibt es natürlich nicht. Die Gruppe splittet sich auf, findet sich wieder zusammen, nähert sich dem Publikum ziemlich nah, die Darsteller suchen engen Blickkontakt zum Publikum, ohne darauf allerdings direkt zu reagieren. Diese Tanzsequenz, die die Themen „Ausgrenzung“ und „Gewalt“ behandelt, dauert rund zehn Minuten.
Dann schreit eine Stimme aus dem Hintergrund: „Aus die Musik, es reicht, es reicht, ich kann nicht mehr…“. Der Zuschauer erfährt, dass es am Abend genau an diesem Ort einen brutalen Anschlag auf einen der Schauspieler gegeben hat. Mit schweren Kopfverletzungen liegt er nun im Krankenhaus, verzweifelt wird ein Zeuge gesucht, der muss ja hier sein, schließlich waren alle ja gestern abend auch hier. Dazu spricht Marion, die Frau des Opfers, per Videobotschaft zu allen. Dann wird ein Gebet gewünscht, an dem sich alle beteiligen sollen (Darsteller wie Zuschauer sollen sich an den Händen fassen), auf dass „die Stimme der Bevölkerung gehört wird“. Das nehmen manche Zuschauer sehr ernst und sind brüskiert, weigern sich bei dem Gebetsspiel mitzumachen. Der Großteil ist aber dabei. Eine Darstellerin spricht das sarkastische Gebet: „Oh Herr, wir danken dir für unsere normale Welt, wir danken dir für die normalen Männer und die normalen Frauen, die sich in dieser normalen Stadt tummeln…, einen hervorragenden Zinssatz gib uns heute.., verflucht seien die schwarzen Schafe, die Zeugen der Angriffe sind und sich nicht melden…, die Abgeordneten mögen ein Gesetz beschließen, dass die Zeugenverweigerer gebrandmarkt werden dürfen“. Amen, Halleluja und abschließend eine Art Kyrie. Dann geht es in den vorderen Teil des Seitenschiffs, über die Bühne in den Zuschauerraum. Dazu singt Paula König ein höllisches „Holy ~ everything is holy“, das sie mit einem grellen Schrei beendet (Musik: Sebastian Purfürst).

Shoot / Katzelmacher / Repeat
Schauspiel Frankfurt / HfMDK Frankfurt
Paula König, Cennet Rüya Voß, Gesa Köhler, Isabella Knöll, Alrun Hofert, Niklas Hugendick-Braasch, Tim Werth,Felix Bold, Robert Will
© Birgit Hupfeld

Beim Passieren der Bühne können großartige Porträtfotos der Darsteller bewundert werden (sie stammen von Sebastian Purfürst und erinnern an die schönen Schauspiel Frankfurt Ensemblefotos der Spielzeit 2012/13). Vor den Fotos stehen auf einem Regal zahlreiche Kinderfotos der jeweiligen Darsteller. Mit den Fotos wird lose ein räumlicher Bezug zu den jeweiligen Häusern im oberbayrischen Dorf gegeben, in dem Rainer Werner Fassbinders Stück Katzelmacher spielt, das nun als Hauptstück gegeben wird (Bühne: Anne Ehrlich).
Am Ende bleibt der griechische Gastarbeiter Jorgos erschlagen liegen. Er führt nicht die Geschichte, wie bei Fassbinder, fort. Dafür schließt Regisseurin Susanne Wolff, ihrerseits selber erfahrene Schauspielerin vom Deutschen Theater Berlin, einen Bogen zum Beginn. Inzwischen hat die Regierung die Brandmarkung von Zeugen, die sich nicht gemeldet haben, gestattet. Großer Jubel, der musikalisch von Georg Friedrich Händels Sarabande aus der Suite d-Moll (HWV 437) stimmungsvoll untermauert wird.
Wo es bei Ravenhills Episode „Gestern gab es einen Vorfall“ um die Frage geht, wie es dazu kommen kann, dass rechtschaffene Bürger auf einmal mittelalterliche Foltermethoden fordern und liberale Werte aufgeben, liegt der Fall bei Fassbinders Katzelmacher genau andersherum. Hier ist die Gruppe Zeuge (und nur die Geliebte schreit auf). Ist auch die Erfahrung mit Ausländern im Jahre 2016 eine ganz andere als 1968, als das Stück uraufgeführt wurde (zumindest in den Großstädten), ist diese Gegenüberstellung sehr plausibel. Regisseurin Susanne Wolff spricht deshalb auch über „einen Abend über Aggression“ (ernüchterndes Ergebnis: Gewalt ist immer präsent, mit oder ohne Ausländer, denn diese sind oftmals nur Auslöser, nicht Ursache).

Und von Gewalt gibt es hier einige zu erleben. Die im 3. Ausbildungsjahrgang befindlichen Studierenden der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt (Ausbildungsbereich Schauspiel) haben bereits viel Bühnenerfahrung. Zuletzt gestalteten sie den szenischen Liederabend No Love No Fear, ein Gemeinschaftsprojekt der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt (Ausbildungsbereich Schauspiel), der Hessischen Theaterakademie und den Staatstheatern Darmstadt und Mainz in Mainz (Premiere in Darmstadt wird am 1. Oktober 16 sein). So beschwingt wie dort, geht es hier nicht zu. Sie spielen sehr fortgeschritten, einzig die manchmal recht abrupten Gefühlsausbrüche wirken etwas zu überzogen. Zu den Darstellern, in alphabetischer Reihenfolge. Felix Bold gibt den Anführer Erich mit passend markanter Note. Charmant, aber auch mit Biss: die Gunda der Alrun Hofert. Der Schläger Bruno und Zimmergenosse Jorgos des Niklas Hugendick-Braasch zeigt mustergültig die Wandlung eines unauffälligen Bürgers zum brutalen Täter. Gesa Köhler gibt die aus Versehen schwanger gewordene Helga mit schöner Tragik. Glänzend abgeklärt wirkt die ganz auf ihre Karriere als Sängerin orientierte Ingrid der Paula König (sie gibt auch per Livevideo Marion, die Frau des Opfers in Ravenhills Episode). Sexy und verführerisch, dabei mit minimalen Gesten: die Elisabeth der Isabella Knöll. Mit herzlicher Frische: die verliebte Marie der Cennet Rüya VoßTim Werths gibt den „Katzelmacher“ Jorgos anmutig. Robert Will den Mitläufer Paul mit viel Elan.
Begeisterter Applaus.

Markus Gründig, Mai 16


Bad Jews

The English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
13. Mai 16 (Premiere)

Bevor es in der kommenden Spielzeit beim English Theatre Frankfurt „Strictly British“ heißt, steht auch das letzte Stück der aktuellen Spielzeit unter dem Saisonthema „Have a Shot at the American Dream“. Bei Ayad Akhtars „Desgraced“, das bis vor wenigen Tagen auf dem Spielplan stand, ging es um einen Streit zwischen zwei amerikanischen Pärchen aus dem New Yorker Upper East Side Viertel und insbesondere um die Glaubenspositionen eines aufstrebenden Anwalts, der seinen islamischen Glauben der Karriere wegen verleugnet.
Auch Joshua Harmons Komödie „Bad Jews“, die hier erstmals in Deutschland zu sehen ist, spielt in New York, auch hier steht eine Religion im Fokus. Als Pardon sozusagen, nun die jüdische. Doch ist die Religion nur ein Sinnbild, denn das Erstlingswerk Harmons behandelt die Frage, wer oder was macht einen guten, beziehungsweise einen schlechten, Menschen aus. Dazu werden aber auch weitere Themen angeschnitten, beispielsweise, wie man als Jude dem Thema Tätowierungen gegenübersteht (die entsprechende Stelle im 3. Buch Mose, Kapitel 19, Vers 28: „Ihr sollt um eines Toten willen an eurem Leibe keine Einschnitte machen noch euch Zeichen einätzen…“ wird ja sehr unterschiedlich interpretiert).

Die Produktion des English Theatre Frankfurt entstand in Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Ensemble Theatre Company von Santa Barbara, wo sie, mit gleicher Besetzung, in der zweiten Aprilhälfte diesen Jahres gezeigt wurde (und dort als die Produktion einging, die sich am schnellsten verkaufte). Für das Frankfurter Publikum bedeutet dies nicht nur eine Wiederbegegnung mit Regisseur Jonathan Fox („Who´s Afraid of Virginia Woolf“, „A Streetcar Named Desire“, „Cat on a Hot Tin Roof“ u.v.m.) sondern, nach längerer Pause, auch erneut in den Genuss eines amerikanischen Ensembles zu kommen (das natürlich mit entsprechendem amerikanischen Slang spricht).

Bad Jews
The English Theatre Frankfurt
Daphna (Eden Malyn), Liam (Adam Silver)
© Martin Kaufhold

Das Stück spielt an nur einem Abend in einer New Yorker Studentenbude. Die im Falle der Brüder Jonah und Liam aber eine recht feudale ist. Ihr Apartment ist nicht nur hochwertig eingerichtet, mitsamt schöner amerikanischer, also in das Wohnzimmer integrierter, Küche. Sie hat sogar einen Blick auf den Hudson River. Diesen zwar nur vom Bad aus, aber immerhin (Bühnenbild: Charlie Corcoran).
Hier treffen am Tag der Beerdigung des Großvaters Poppy drei Enkel aufeinander, einer bringt noch seine neue Freundin mit. Die Situation spitzt sich gekonnt von Minute zu Minute zu, bis es nach gut 100 Minuten (ohne Pause) zum großen Showdown kommt. Dabei geht es vor allem um ein Erbstück, das weniger einen materiellen, als einen immensen ideellen Wert hat: Ein Amulett in Form des jüdischen Chai-Symbols (bestehend aus hebräischen Buchstaben, die für „Leben“ stehen). Großvater Poppy hatte es während seiner Zeit im KZ zwei Jahre lang unter der Zunge versteckt gehalten und den Holocaust als einziger in der Familie überlebt.

Im Zentrum steht Daphne Feygenbaum, eine junge Frau (ohne Geschwister), die ihren jüdischen Glauben mitsamt der dazugehörigen Tradition extrem schätzt und würdigt. Ihr Name spielt auf die gleichnamige Nymphe der griechischen Mythologie an (im Stück wird der Figur vorgeworfen, ihre Beziehung nur erfunden zu haben). Die Figur ist sehr vielschichtig. Einerseits ist sie sehr aufgeschlossen, interessiert und modern, andererseits aber so sehr an konservative Werte verhaftet, dass sie ob ihrer Borniertheit von ihrem Cousin Liam glatt als Nazi bezeichnet wird. Zudem hat sie den meisten Text zu beherrschen. Eden Malyn gibt sie, mit mächtiger Haarmähne, großartig als böser Wolf im Schafspelz. Vordergründig äußerst aufgeschlossen und charmant, weiß sie nur zu gut mit spitzen Bemerkungen ihre Krallen auszufahren. Für den nicht karriereorientierten Cousin Liam ist sie ein absolutes No-Go. Adam Silver gibt ihn in seiner Anspannung und gefesselten Aggression ihr gegenüber, bravourös. Ist sie grade mal für kleine Mädchen, platzt die Wut mit Sprüngen und viel Gestik nur so aus ihm heraus. Stephanie Burden verleiht der lieben Melody aus Delaware, die einfach gestrickt ist und das Herz am rechten Fleck hat, ein anrührendes Bild. Klasse ihr „Summertime“ aus „Porgy and Bess“, das sie in bester Florence Foster Jenkins Manier vorträgt. Als ruhender Pol in der Mitte der streitenden Parteien, der für keinen Partei ergreifende Jonah (passend zurückhaltend: Cory Kahane).
Am Ende ist die Lage verzwickt, denn beide liefern gute Argumente, berechtigter Erbe des Amuletts zu sein. Nach einem kurzen, heftigen Streit gibt es keinen Sieger. Dafür aber sehr viel Applaus für die glänzende Deutschlandpremiere von „Bad Jews“ (gespielt wird, täglich außer montags, bis zum 1. Juli 16).

Markus Gründig, Mai 16


Clockwork Orange

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
7. Mai 16 (Premiere)

Anthony Burgess´ Bestsellerroman „Clockwork Orange“ von 1962 wurde vor allem durch die neun Jahre später (1971) erschienene Verfilmung durch Stanley Kubrick („2001: Odysee im Weltraum“) weltbekannt. Es ist die Geschichte des 15-jährigen Alex, ein brutaler Schläger, Räuber und Vergewaltiger, der keinerlei Reue für seine Taten und kein Mitleid für seine Opfer empfindet. Doch er wird gefasst und zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. Nach zwei Jahren nimmt er als Versuchskaninchen an einem „Umerziehungsprogramm“ teil und wird als „geheilt“ vorzeitig aus der Haft entlassen…
Mit diesem Roman, der ausführlich von Alex´s Schandtaten berichtet (allerdings in der fiktionalen Jugendsprache „Nadsat“, wodurch die entfesselte, grauenerregende Brutalität etwas gemildert erscheint), mahnt Burgess die freiheitliche Willensentscheidung des Menschen an und weist die Macht des Staates in Grenzen.

Vor zehn Jahren erarbeitete Julian König vom Frankfurter Theater Landungsbrücken eine Bühnenfassung des Romans. Für das Schauspiel Frankfurt erstellte jetzt Christopher Rüping (Jahrgang 1985 und designierter Hausregisseur der Münchner Kammerspiele) eine Bühnenfassung. Er übernahm auch die Regie für die Inszenierung, die in der Spielstätte Bockenheimer Depot gezeigt wird. Dass der Roman und die Verfilmung Menschen stark beeindruckt haben, verdeutlichte bei der Premiere am deutlichsten der Zuschauer und Frankfurter Immobilieninvestor Ardi Goldmann, der im perfekten Droogs-Outfit (Melone, weißer Anzug mitsamt übergezogenen Lendengurten) erschien.

Clockwork Orange
Schauspiel Frankfurt
Lukas Rüppel, Vicent Glander, Jan Breustedt, Felix Rech, Torben Kessler
© Birgit Hupfeld

Rüping hat für seine Dramatisierung die wichtigsten Passagen aus dem Roman übernommen. Das Bild von der Vorführung Alex zum Abschluss seiner Behandlung hat Rüping als Grundidee seiner Umsetzung genommen. Das Publikum ist Teil des Geschehens. Die unteren Sitzreihen wurden dazu aufwendig in ein halbrundes Auditorium verwandelt. Der Abend beginnt dann auch nicht unmittelbar mit dem Bericht des ersten Abends (den Alex mit seinen Droogs Pete, Georgie und Dim in der Kowowa Milchbar beginnen lässt), sondern mit einer Ankündigung eines außergewöhnlichen Probanden. Die vier Darsteller Vincent Glander, Torben Kessler, Felix Rech und Lukas Rüppel, allesamt in schwarzen Anzügen und weißen Hemden (Kostüme: Lene Schwind), verbreiten viel gute Stimmung, ganz so, als handele es sich um eine Showveranstaltung. Ein Drei-Gänge-Menü wird angekündigt, zunächst ist es noch hell im Saal und als ersten Gang gibt es Sekt, der von zwei Statisten mit rosa Pilzhaarperücken an das Publikum verteilt wird (Samuel Gärtner und Luca Paredes). Auf der Bühne stehen währenddessen vier Tische mitsamt Stühlen, hinter diese setzen sich die Vier dann und beginnen mit der Erzählung von Alex bewegten Leben. Diese wird für den Hauptgang unterbrochen, dazu erscheint dann schon J.P. Alexander, der Autor, auf den Alex ja zweifach trifft, aber eigentlich erst später.

Dann werden die Fenster des Bockenheimer Depots verdunkelt und der dritte Gang (Nachtisch) wird gereicht. Natürlich kommen nur die wenigsten Zuschauer in den Genuss des Drei-Gänge-Menüs, vor allem die an einem der Gänge Sitzenden haben hierbei klare Vorteile. Warum hier das Auditorium verführt wird, zeigt sich deutlich, wenn es um Alex Therapie geht. Denn bei dieser spielt die Pharmaindustrie die größte Rolle (nicht ohne Grund ist ja derzeit ein Gesetzgebungsverfahren über ein Antikorruptionsgesetz im Gesundheitswesen in der Schwebe). Eine einzige, im Durchmesser nur fünf Millimeter große Wundertablette, verhilft hier dem Gefangenen 6655321 in die Freiheit: „Amyktasan frontal“. Ein 14-tägiges Folterprogramm (die „Ludovico-Therapie“, bei dem dem fixierten Verbrecher die Augen aufgespannt werden und er sich endlos gewaltverherrlichende Filme ansehen muss), wie im Buch und im Film, hat Rüping dem Publikum erspart.
Die Verkürzung des zweiten Teils (im Gefängnis) ist aber auch das Einzige, was man der Inszenierung ankreiden kann.
Insgesamt bietet der Abend tolles Theater satt, mit vielen eindringlichen Bildern, die einen so schnell nicht mehr los lassen (und das sind nicht nur die Masken der Rowdys).

Zu den bereits erwähnten vier Darstellern, die abwechselnd die verschiedenen Rollen spielen, kommt kurz vor der Pause noch Jan Breustedt (vom SCHAUSPIELstudio) als Alex dazu. Eingesperrt in eine Plexiglasvitrine, erinnert er an den gefesselten Hannibal Lecter in „Das Schweigen der Lämmer“. Erschütternd wirkt es, wenn er immer wieder mit dem Kopf gegen die Plexiglaswände schlägt oder wenn ihm später kotzübel ist und er sich auf dem Boden krümmt und windet. Doch auch die vier Droogs begeistern durch ihr akkurates, gelöstes und vielschichtige Spiel, sei es als Opfer oder Täter, als Mutter oder Vater oder in einer der weiteren Figuren.
Beeindruckend ist auch die Bühne von Jonathan Mertz. Anfangs ein beschauliches Podium wie für eine Talkrunde, nutzt sie auch den weiten Raum des Bockenheimer Depots. Vom Bühnenhintergrund kommt sowohl imposant der Glaskäfig vom Gefangenen 6655321 vorgefahren, wie, dank ein bisschen Geäst auch mit ländlicher Attitüde ausgestattet, das kuschelige Zuhause des Autors J.F. Alexander.

Beim Ende weicht Rüping vom Happy End des Buches ab (wie es auch Kubrick getan hat). Hier werden alle entweder von Alex erschossen oder bringen sich selber um, inklusive Zuschauer des Auditoriums.

Sehr viel Applaus für ein aufwühlend, prägnant und großartig dargebotenes Clockwork Orange.

Markus Gründig, Mai 16


Der Sturm

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
15. April 16 (Premiere)

Gemessen an den Bearbeitungen, die Shakespeares Spätwerk „Der Sturm“ durch andere Künstler widerfahren ist, zählt es zu den erfolgreichsten Werken. Was allerdings die Aufführungsstatistik anbelangt, kann es nicht mit seinen Bühnenerfolgen “Der Sommernachtstraum”, “Romeo und Julia” oder “Hamlet” mithalten. Dabei verbindet es eine romantische Liebesgeschichte mit Drama und Humor und bietet als Märchen für Erwachsene den Reiz, einen besonderen Bühnenzauber entfachen zu können. Dies ist jetzt Andreas Kriegenburg am Schauspiel Frankfurt ganz großartig gelungen. Grundsätzlich ist seine Inszenierung überaus poetisch gehalten. Diesen ihm eigenen Stil zeigte er hier bereits 2013 mit Tschechows “Die Möwe”. Bei Shakespeare kann er allerdings auch eine große Portion Humor mit dazu packen. Geboten wird das Stück in der leicht zugänglichen Neuübersetzung aus dem Englischen von Frank-Patrick Steckel, die hier erstmals aufgeführt wird.

Der Abend beginnt ungewöhnlich. Dies liegt nicht nur an dem roten Samtvorhang, der die Bühne abdeckt (und der sonst nur sehr selten zum Einsatz kommt), sondern an dem vom Stück losgelösten Anfang. Eine Konzertpianistin (Franziska Junge) betritt mit Frack und sehr langen schwarzen Haaren die Bühne, von der zunächst nur eine dunkle Wand zu sehen ist (diese Wand wirkt zunächst wie ein überdimensionales Stillleben). Die Konzertpianistin watschelt in Wasser, vermutet einen Rohrbruch und konstatiert, dass die Semperoper 1945 auch nicht besser ausgesehen habe, als es gerade hier aussehe. Am seitlich positionierten Flügel angekommen, dauert es etwas, bis ihr “kunstvolles” Klavierspiel ertönt, zunächst steht ein virtuoser Kampf mit den langen Haaren an. Wenn sie dann die Tasten mit wilden Gesten niederschlägt, hierbei auch ihre Ellenbogen einsetzt und das Getöse immer lauter wird, erwacht das Bühnenstillleben und der Sturm wird immer stärker. Die in den Seilen an der “Schiffswand” Hängenden stürzen schnell zu Boden und suchen das Weite. Wenn die Wand gen Bühnenhimmel entschwebt, wird der Blick auf die große Bühne frei. In deren Zentrum steht ein großer Baum, beziehungsweise das, was von ihm noch übrig ist. Denn ein Sturm hat auch ihm einst stark zugesetzt, sodass er teilweise horizontal verläuft. Anstelle von Blättern trägt er aufgespießte Seiten aus Prosperos Buch. Umsäumt ist er von Wasser, von sehr viel Wasser. Die ganze Bühne besteht aus einem großen Bassin. Das allerdings sehr flach ist, nur wenige Zentimeter. Insgesamt aber schon beeindruckend und ein treffliches Bild für die Insel (Bühne: auch Andreas Kriegenburg).
Eine dezente Klangwelt untermalt die zauberhafte Atmosphäre (wie auch das Licht von Frank Kraus). Die Geräusche werden dabei überwiegend von den Geistern produziert (mit artifiziellen und echten Musikinstrumenten).

Der Sturm
Schauspiel Frankfurt
Caliban (Michael Benthin), Prospero (Felix von Manteuffel), Ariel (Franziska Junge), Geister (Elena Packhäuser, Sina Weiss, Sam Michelson, Carlos Praetorius)
© Birgit Hupfeld

Für den poetischen Gesamteindruck sorgen auch die Kostüme von Andrea Schraad. Hierbei sind es insbesondere die hellen und ärmelfreien Kleider der Geister (Elena PackhäuserSina Weiss, Sam MichelsonCarlos Praetrorius) mit ihren Stoffstreifen. Die Geister haben alle lange Haare, sind weiß geschminkt und es lässt sich nie so genau sagen, ob es nun gute oder böse Geister sind. Den Luftgeist Ariel gibt die brillant aufspielende und sich in Höchstform präsentierende Franziska Junge (mit langen schwarzen Haaren). Jede ihrer vielen, mitunter unmöglichen, Posen wirkt sehr ausdrucksstark und schon von ihrer Mimik her spricht sie Bände.
In der Rolle des Prospero ist Felix von Manteuffel zu erleben. Diese Rolle passt sehr gut zu ihm. Er verkörpert den verbannten Herzog von Mailand mit großer Würde und menschlicher Wärme und ihm, dem großen Sprecher, zuzuhören, ist ein Genuss. Dazu gesellt sich die kaum wiederzuerkennende Katharina Bach als liebreizende Tochter Miranda. Ebenso wenig kaum zu erkennen ist, ob seiner langen Haare und seines kräftigen Bartwuchses, Michael Benthin als wilder Caliban. Das Verschrobene der Figur gibt er bestens wieder. Im Quintett der bösen Schiffbrüchigen ragt Oliver Kraushaar als stark auftretender König Alonso heraus. Er hat auch die körperlich beste Kondition im Zustand der geistigen Umnachtung (seine intensiven Körperzuckungen hält er viele Minuten durch, wo die anderen deutlich zurückhaltender agieren). Seinen verloren geglaubten Sohn Ferdinand verkörpert Nico Holonics charmant und souverän. Martin Rentzsch gibt den Königsbruder Sebastian, Thorsten Danner den fiesen Antonio (der einst Prosperos aus Mailand vertrieb). Gonzalo und Adrian werden von Sascha Nathan und Christoph Pütthoff mit Puppen gespielt. Wesentlich stärker kommen die beiden Darsteller als Komikerduo Trinculo und Stephano daher (die eifrig in Hamburger Platt reden). Ihr Spiel bildet einen starken Kontrast in der ansonsten besinnlichen Inszenierung. Ihre Witze sind mitunter etwas platt, aber sie spielen zum Schreien komisch. Und gespielt wird hier mit sehr viel Körpereinsatz, nicht nur von diesen und von Franziska Junge. Regisseur Kriegenburg bedient nicht nur Erwartungshaltungen des Publikums, er spielt auch mit ihnen bzw. lässt mit ihnen spielen. Wenn man beispielsweise denkt, endlich ist Pause, wird man durch das Trio Caliban, Trinculo und Stephano eines Besseren belehrt.

Das Böse wird auch bei Shakespeares Sturm nicht grundsätzlich überwunden, aber in seine Schranken verwiesen. Eine nie aufhörende Aufgabe…
Viel Applaus und die Chance auf einen neuen Publikumsfavoriten.

Markus Gründig, April 16


4.48 Psychose

Schauspiel Dortmund zu Gast im Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
18. März 16

Als die britische Dramatikerin Sarah Kane im Herbst/Winter 1998/99 ihr fünftes und letztes Stück „4.48 Psychose“ schrieb, war der Euro noch nicht eingeführt, führten die Vorläufer der ersten Smartphones noch ein Schattendasein und auch die Digitalisierung war natürlich nicht so weit, wie sie es heute ist. Das in dem Stück behandelte Thema eines eingeschlossenen, leidenden Ichs ist zeitlos, auch wenn Kane mit der fragmentarischen und losen Erzählstruktur ihren besonderen, konsequenten Weg fortführte (dem ihre Stücke „Zerbombt“, „Phaidras Liebe“, „Gesäubert“ und „Gier“ vorangingen).
Am Schauspiel Dortmund feierte „4.48 Psychose“ in der Inszenierung von Kay Voges am 3. Mai 2014 Premiere. Sie erfolgte in Kooperation mit dem Chaostreff Dortmund e.V. (einer  „bunt gemischten Gruppe aus computer-, technikbegeisterten und kreativen Menschen“, der nicht mit dem Chaos Computerclub zu verwechseln ist). Im Rahmen der vom Schauspiel Frankfurt veranstalteten Thementage „Digitale Welten – Welchen Fortschritt wollen wir“, war diese Inszenierung jetzt auch an zwei Abenden in Frankfurt zu erleben, denn in dieser wird versucht, mit Hilfe digitaler Mittel eine kranke Seele zu erforschen.
Ruhig gestellt durch Antidepressiva, Neuroleptika und Schlafmittel ist die Seele ruhig gestellt. Doch früh um 4.48 Uhr hört die Wirkung der Medikamente auf und die Seele erwacht zu ihrem Wahnzustand, überkommt sie die Verzweiflung. Hier beginnt das Stück.

4.48 Psychose
Schauspiel Dortmund
Merle Wasmuth, Björn Gabriel, Uwe Rohbeck
© Edi Szekely

Der besondere Inszenierungsansatz bringt es mit sich, dass nicht nur die Darsteller auf der großen Bühne spielen, sondern, dass sich auch die 200 Zuschauer auf der Bühne befinden (bei herabgelassenem Eisernen Vorhang zum Publikumssaal). Im Zentrum steht ein großer, erhöht positionierter Kubus, in dem sich hinter Gazewänden drei Darsteller aufhalten. Das Publikum sitzt aufgeteilt in vier Blöcken (á fünf Reihen mit je 10 Plätzen) herum. So wird jeder Zuschauer noch mehr zum unmittelbaren Beobachter. Denn die drei Darsteller, die über zahlreiche Kabel an medizinische Messgeräte angeschlossen sind, wirken wie Versuchskaninchen in einem Medizinlabor. Ihre Vitaldaten (Puls, Herzfrequenz, Körpertemparatur, etc.) werden immer wieder großflächig auf den Kubus projiziert, dem sogenannten „Mensch-Maschinen-Knoten“ (Bühne : Jan P. Brandt und Kay Voges). Fünf live-Techniker sitzen dafür seitlich an einem Tisch (Live-Soundtrack: T. D. Finck von Finckenstein, Live-Video: Mario Simon, Live-Engineering: Lucas Pleß, Live-Wording: Anne-Kathrin Schulz, Live-Ton: Chris Sauer). Sie tragen weiße Hemden mit Fliegen, weiße Hosen und schwarze Metzgerschürzen. Sie steuern eine ganz besondere Software, wodurch eine außergewöhnliche Echtzeit-Videokunst gezeigt wird. Körperimpulse und Gesprochenes der drei Protagonisten im „Mensch-Maschinen-Knoten“ werden dabei in bewegtes Licht verwandelt, ebenso in Töne, Musik und Impulse. Zudem wird in Echtzeit komponiert und improvisiert. Richard Wagners Liebeswähnen aus „Tristan und Isolde“ und Mozarts „Lacrimosa“ (Requiem) trifft hier auf die Schreie einer kranken und verzweifelten Seele, auf Soundclips und harte Beats. Es ist ein multi-audiovisuelles technikaffines Szenarium, in dessen Zentrum aber immer noch drei Menschen stehen.

Kanes Todespoem wurde von drei großartigen Darstellern dargeboten: von einer Frau (Merle Wasmuth) und zwei Männern (Bijörn Gabriel und Uwe Rohbeck). Sie trugen weiße Klinikhemden und schwarze Boots. Auf unterschiedliche Art und Weise, aber überaus prägnant, füllten sie Kanes Worte mit einer ungeheuren Innigkeit, die betroffen machte. Die Einsamkeit, in der sich die Person befindet, ihre abgrundtiefe Verneinung dem Leben gegenüber, ihre pathologische Trauer und das sie alles nicht mehr ertragen kann, wird nicht zuletzt durch die unterstützenden Videokameras, sehr plastisch vermittelt wird (dabei werden u. a. die langen Haare abrasiert und sich die Pulsader aufgeschnitten). Die drei sind dabei abwechselnd Patient und Arzt, aber auch Opfer, Täter und Zuschauer.
Regisseur Kay Voges fragt in seiner Inszenierung, was vom Menschen jenseits seines Datenmaterial bleibt, was ihn ausmacht.
Viel Applaus für groß dargebotenes Theater auf kleinem Raum, der nur ob der ernsten Thematik wegen (Sarah Kane litt an einer schweren Depression und hatte sich, 28-jährig, noch vor der Uraufführung umgebracht) etwas zurückhaltend ausfiel. Und großer Respekt für alle Beteiligten, die Kanes schwierigen Text so eindringlich und plastisch umgesetzt haben.

Markus Gründig, März 16


Remote Frankfurt

Schauspiel Frankfurt / Rimini Protokoll
Besuchte Vorstellung:
17. März 16 (Premiere)

Das nicht alles gut ist, in der „schönen neuen Welt“, wurde vom Schauspiel Frankfurt mit der Dramatisierung von Aldous Huxleys bekanntestem Roman vergangenes Jahr im Bockenheimer Depot gezeigt, die schon auf die aktuellen Thementage „Digitale Welten – welchen Fortschritt wollen wir?“ einstimmte. Der Audiowalk „Remote: Frankfurt“ knüpft daran an und hinterfragt geschickt verspielt, wie frei wir dank der neuen digitalen Welt heute noch sind. Die Antwort: Hinsichtlich der Entwicklung einer gesunden, individuellen Meinung, die Gegebenes kritisch hinterfragt, ist die Zukunft apokalyptisch. Das Denken wird uns abgenommen, wir verkümmern zur ferngelenkten Masse (die beispielsweise gesagt bekommt, wo sie was einzukaufen hat).
Bei dem Audiowalk „Remote: Frankfurt“ handelt es sich um eine Produktion von Rimini Protokoll (Regisseure Stefan Kaegi und Jörg Karrenbauer) und die seit 2013 bereits in über 28 Städten veranstaltet wurde. Beispielsweise in Berlin, Basel, Wien, aber auch in Moskau, New York City oder gar in Abu Dhabi. Für jede Station wird auf die individuellen Verhältnisse eingegangen, ist keine Station unmittelbar mit der anderen vergleichbar. Doch stets ist es eine Gruppe von 50 Teilnehmern, die mit Funkkopfhörern ausgestattet, die eigene Stadt erkundet und bei der dennoch jeder Teilnehmer viel über sich selbst erfährt.

Remote Frankfurt
Schauspiel Frankfurt / Rimini Protokoll
© Birgit Hupfeld

Die Frankfurter Tour beginnt an der Friedhofshalle des Bornheimer Friedhofs. Zunächst geht es zu einzelnen Grabsteinen. Das Ende unseres Daseins steht also zu Beginn der ungewöhnlichen Erkundung. Dann setzt sich die Gruppe, einem Trauermarsch gleich, in Bewegung (über die Kopfhörer ertönt dazu dann auch ein Trauermarsch). Durch eine „Vereinsamungsanlage“ (Drehtür) wird die Gruppe kurzzeitig getrennt, um sich dann durch ein Schrebergartengelände gen St. Katharinenkrankenhaus und weiter mit der U-Bahn in die Innenstadt zu begeben, wo die Tour nach 1,5 bis 2 Stunden endet.
Anders als eine Audiotour, wie man sie von Museen oder Sehenswürdigkeiten her kennt, ist diese nicht nur ob ihrer Route ganz anders. Denn die Ansprachen erfolgen interaktiv. An den jeweiligen Örtlichkeiten werden punktgenaue Ansagen gemacht. Was ob des unterschiedlichen Lauftempos und nicht vorhersehbarer unterschiedlicher Beeinflussungen (wie Straßenverkehr) grandios klappt. Faszinierenderweise ist keine Person ausfindig zu machen, die die Fäden in den Fingern hat (d. h. das System steuert).
Zunächst spricht eine weibliche Computerstimme. Sie stellt sich mit ihrem Namen (Julia) vor und ist schnell in der Du-Form. Sie ist, einer Datenkrake gleich, bestrebt, von den Teilnehmern zu lernen und sie kennenzulernen. Sie will das Leben einfacher machen und Entscheidungen abnehmen. Auf dem Weg von Bornheim in die City wird nicht nur einem ganz besonderen Theaterspiel zugeschaut, es wird beobachtet, andächtig gelauscht, es müssen Entscheidungen gefällt werden, es wird gerannt und getanzt. Dabei kann jeder für sich selbst entscheiden, ob er den Anweisungen der Stimme, die sich im Laufe des Walks von Julia zu Peter transformiert, nun folgt oder nicht. Und nebenbei wird man gar selbst zur Attraktion und von Touristen fotografiert.
Der vielseitige Spaziergang, der selbst in der City mit unbekannten Ecken aufwartet, endet mit einem gemeinsamen Blick in den Abendhimmel und auf die Frankfurter Skyline (den Ausblick kennen klassische Musikliebhaber). Er macht deutlich, dass der digitalen Zukunft mit Vorsicht vertraut werden sollte, damit wir nicht zu ferngesteuertem Organmaterial degenerieren.

Markus Gründig, März 16


Die Netzwelt

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
11. März 16 (Premiere)

Quaid nimmt das Angebot der Firma REKALL an, die ihren Kunden künstliche Erinnerungen einpflanzt, die nicht von echten zu unterscheiden sind. Auf Wunsch kann für einen ultimativen Erfahrungsrausch zusätzlich ein „Ego-Trip-Paket“ dazu gebucht werden. Quaid bezahlt dann fast mit seinem Leben dafür. Bei dieser Science-Fiction Geschichte handelt es sich um den Spielfilm „Total Recall“ mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle. Er erschien im Jahr 1990. Damals gab es zwar schon PCs und BTX, doch das World-Wild-Web startete erst fünf Jahre später richtig durch (mit Windows 95 und dem Internet Explorer 1.0). Heute ist das Internet zur größten Selbstverständlichkeit geworden. Mit der fortschreitenden Digitalisierung nahezu sämtlicher Lebensbereiche gibt es nicht nur Vorteile, sondern es drohen auch Nachteile und Probleme. Das Schauspiel Frankfurt präsentiert in diesem Zusammenhang die von Veronika Breuning kurierten Thementage „Digitale Welten – Welchen Fortschritt wollen wir?“, und „untersucht in Theaterstücken, Diskussionen und Vorträgen nach künstlerischen und gesellschaftlichen Veränderungen sowie Risiken und Chancen der neuen Technologien. Prominente Gäste aus den Bereichen Wirtschaft, IT, Soziologie und Philosophie zeigen in Vorträgen und Debatten, wie sich unser Verständnis von Privatheit und Öffentlichkeit im Zuge der digitalen Revolution wandelt und welche Folgen sich daraus für Beziehungen, Karriere, Freundschaften sowie für politische und kreative Gestaltungsmöglichkeiten ergeben.“

Im Rahmen dieser Thementage erfolgte jetzt in den Kammerspielen die Inszenierung von Jennifer Haleys „Die Netzwelt“. Das Stück wurde im vergangenen Jahr in München (Residenztheater) erstmals auf Deutsch aufgeführt. Den Gedanken von künstlicher Identität aus „Total Recall“ hat Halley hierbei auf das Internet der Zukunft übertragen. Der Wunsch des Menschen, einmal jemand ganz anderes zu sein, Dinge tun zu können, die man sich sonst nicht traut, sind in der neuen Netzwelt ganz einfach möglich. Grenzen gibt es keine mehr, selbst Brutalität und die größten Perversitäten können, weitergehender als in herkömmlichen Computerspielen, erlebt werden.

Die Netzwelt
Schauspiel Frankfurt
Iris (Alexandra Lukas), Papa (Thomas Huber)
© Birgit Hupfeld

Der verheiratete, aber kinderlose Sims, hat für sich und seine Kunden eine neuartige virtuelle Welt geschaffen, die mit allen Sinnen zu erfahren ist. Seine eigene pädophile Veranlagung kann er hier zudem als gewinnbringendes Geschäftsmodell nutzen. Innerhalb seines Webspaces, den er „Refugium“ nennt, wird er einfach „Papa“ genannt (in dieser Rolle sehr stimmig: Thomas Huber). Neben der sinnlichen Erfahrung, die beispielsweise auch die Wahrnehmung von Gerüchen bietet, hat sein „Refugium“ den unschlagbaren Vorteil, dass zwar alles erlebt werden kann, aber mit keinerlei Strafe zu rechnen ist, denn es kommen ja keine realen Menschen zu Schaden. Oder vielleicht doch? Immerhin gibt es in der globalen Netzwelt Community der Zukunft dennoch so etwas wie eine Ethikkommission, die eine junge, kühn agierende Ermittlerin (sehr apart: Paula Hans als Morris) ansetzt, um Sims virtuelles „Refugium“ zu löschen, weil befürchtet wird, dass die User die Unterscheidung zwischen realer Außenwelt und künstlicher Netzwelt nicht mehr uneingeschränkt treffen können und so zur Gefahr für die Allgemeinheit werden. Mit mondän wirkenden Rolli, enger Hose, erhöhten Schuhen (Kostüme: Almut Eppinger), goldenem Lidschatten und Kurzhaarschnitt, erinnert Morris an Anna, die starke außerirdische Führerin in der Sciene-Fiction Serie „V – Die Besucher“.
Mithilfe des Agenten Woodnut (bodenständig, aber doch verführbar: Viktor Tremmel) kann innerhalb des extrem gut geschützten „Refugiums“ zunächst der User Doyle (trefflich paralysiert: Peter Schröder) ausfindig gemacht werden, der eine besondere Beziehung zum Mädchen Iris (schön unbeschwert: Alexandra Lukas; Mitglied des SCHAUSPIELstudios) hat.

Regisseur Bernhard Mikeska, der am Schauspiel Frankfurt mit seinen installativen Theaterentwürfen „Remake :: Rosemarie“ , „Je t’aime :: Je t’aime“ (beide im Bockenheimer Depot) und „Making of :: Marilyn“ (der fantastischen 1 : 1 Performance im Schauspielgebäude) extrem begeisterte, setzt Haleys Stück hinsichtlich der sexuellen Gewalt sehr behutsam um. Auch wenn er das Stück in einer klassischen Theateranordnung zeigt, konfrontiert er den Zuschauer dennoch immer wieder mit sich selbst. Denn die große Wand, vor der die Ermittlerin ihre Fragen stellt, besteht aus riesigen Spiegeln, sodass jeder Zuschauer sich selbst vis-à-vis sehen kann. Mit veränderter Ausleuchtung (Licht: Frank Kraus) sind die Spiegelscheiben plötzlich transparente Glasscheiben und der Blick wird frei auf einen zauberhaften Wald innerhalb des „Refugiums“ (Bühne: Steffi Wurster). Waldgeräusche, wie Flügelschläge von aufgescheuchten Vögeln oder das Summen von Fliegen, werden dezent eingespielt. Wenn das Mädchen Iris mit einem weißen Hasen auftaucht und ihn in ein Baumstammloch setzt (das später plötzlich fehlt), ist diese Andeutung auf „Alice im Wunderland“ natürlich nicht zufällig, wird über eine mögliche pädophile Neidung des Autors Lewis Caroll ja auch spekuliert und gewissermaßen eine zusätzliche Brücke zu realen Außenwelt geschaffen.

In den rund 100 pausenlosen Minuten werden nicht nur aktuelle Fragestellungen angesprochen (beispielsweise: wie grenzenlos darf das World-Wide-Web sein, verhindert oder begünstigt Gewalt im Netz auch das reale Leben?), das Stück wartet auch mit einem bedrückend, faszinierenden Ende auf (das hier natürlich nicht verraten wird). Sehr viel Applaus.

Markus Gründig, März 16


Der goldene Fleiß

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
6. März 16 (Premiere)

Nicht nur Hessen durchzieht ein Rechtsruck, auch bundesweit haben rechtspopulistische Parteien einen starken Zulauf und die bisherige Willkommenskultur und die Integrationspolitik werden immer stärker hinterfragt. Befindet sich Deutschland am Scheideweg? Wie gehen wir, wie gehe ich, mit der Not außerhalb Deutschlands um? Reicht es zur Befriedigung des humanistischen Leitbildes aus, dass die Regierung Gelder für die allernotwendigsten Grundbedürfnisse von Flüchtlingen und Menschen in Not zur Verfügung stellt? Und was macht unsere Gesellschaft aus, dass andere so viel Leid und Not auf sich nehmen, um in unser Land zu kommen? Mit dem als Auftragswerk für das Schauspiel Frankfurt entstandene Stück „Der goldene Fleiss“ von Alexander Eisenach wird genau diesen Fragen nachgegangen. Allerdings nicht theorielastig, sondern in Form einer turbulenten Komödie mit viel Tiefgang.

Eisenach war in der Saison 2013/14 Mitglied des Schauspiel Frankfurt REGIEstudios, inszenierte in der Saison 2014/15 einfallsreich Jean-Paul Satres „Das Spiel ist aus“ in den Kammerspielen und ist seit dieser Saison Mitglied des Schauspiel Frankfurt AUTORENstudios. Sein Text ist nicht so abstrakt wie jüngst Felicia Zellers vorgestelltes Stück „Zweite allgemeine Verunsicherung“, besteht auch nicht aus abgebrochenen Sätzen. Es gibt benannte Figuren, wobei die erzählte Geschichte auch immer wieder mit längeren Passagen über unterschiedliche Positionen hinsichtlich der Flüchtlingsproblematik und moderner Kriegsführung angesprochen werden. Dabei fallen mitunter harte Aussagen, die vielleicht öfters gedacht, aber aus Gründen der political correctness selten öffentlich ausgesprochen werden. Nun, im Theater dient dies der konstruktiven Auseinandersetzung.

Der goldene Fleiß
Schauspiel Frankfurt
Alexej Lochmann, Carina Zichner; Paula Skorupa, Timo Fakhravar
© Birgit Hupfeld

Die Inszenierung präsentiert eine geballte Ladung Nachwuchskräfte: Text, Regie und Darsteller kommen alle aus der Nachwuchsarbeit (Schaupiel Frankfurt AUTORENstudio, REGIEstudio und SCHAUSPIELstudio) und sie ist alles andere als langweilig. Die pausenlosen 100 Minuten sind eingerahmt in eine moderne Adaption des Mythos vom Goldenen Vlies (das der Anführer der Argonauten Jason raubte und heim nach Iolkos brachte, um dann an der Seite von Medea König von Korinth zu werden). Eisenach lässt seine Geschichte im sudanesischen Darfur beginnen, wo eine Voodoopriesterin die Notlage Afrikas und einen mangelnden Willen vorwärts zu kommen erkennt und deshalb den jungen Jayson beauftragt, Hilfe in Form des goldenen Fleiß aus dem weiten Norden zu besorgen, um der Bevölkerung Glück, Zufriedenheit und Wohlstand zu bringen. Moderne Zeiten werden mit Ironie auf den Kopf gestellt.
Zusammen mit einem Freund begibt er sich mit einem Schlepperboot auf die gefährliche Reise über das Mittelmeer nach Europa, um nach Gefangennahme durch Grenzschutzbeamte, Flucht in einem LKW, schließlich als Angepasster einem Bürgermeister bei seiner ehrenvollen Selbstbeweihräucherung als Vorzeigeflüchtling zu dienen. In der Inszenierung von Daniel Foerster wird das Ganze von klassischer Musik (wie sehnsuchtsvolle Liebesmotive von Wagner oder Mahler) und dezente Clubsounds stimmungsvoll untermauert.

Die vier aus dem SCHAUSPIELstudio kommenden Darsteller zeigen, dass sie bereit sind, in die Welt zu treten. Alle spielen hervorragend und mit immenser Präsenz: Paula Skorupa als andächtige Voodopriesterin und emotionale wie gescheite Aello, Carina Zichner als bübischer Jayson, Timo Fakhravar als Marbadu (ein tänzerischer, feuriger Liebhaber zudem), Alexej Lochmann als schmieriger Schlepper Goras, Pepe und in Strapse und goldenem Kleid als Madame Dea (Kostüme: Katja Quinkler).
Für den Jungregisseur Daniel Foerster ist dies die zweite Arbeit für das Schauspiel Frankfurt, eine ob ihrer vielen Facetten sehr überzeugende. Im Dezember 15 feierte seine Ibsenumsetzung „Fräulein Julie“ hier Premiere, sie wurde in der vergangenen Woche zum Festival Radikal Jung des Volkstheater München eingeladen.
Im Zentrum der Bühne von Julia Scheurer steht eine große Holzkiste, die zunächst das Schlepperschiff darstellt und dann zur Bühne von Madame Dea wird. Vor dem Hintergrund eines romantischen Sternenhimmels wird aber auch gespielt, wie auch im an sich leeren Raum. Ein aktuelles Thema wird hier mit viel Schwung und Energie dargeboten, am Ende gab es sehr viel Applaus für den vielseitigen Diskurs.

Markus Gründig, März 16


Disgraced

The English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
4. März 16 (Premiere)

“It’s all about identity”

Ayad Akhtars Erfolgsstück von 2012 wird nach seiner deutschsprachigen Erstaufführung diesen Januar (Schauspielhaus Hamburg) inzwischen zwar bundesweit gespielt, im nahen Wiesbaden beispielsweise seit Ende Februar, dennoch gab es mit der Inszenierung des English Theatre Frankfurt erst jetzt die englischsprachige Erstaufführung in Deutschland. Für diese Inszenierung hat John B. Emerson, Botschafter der USA in Deutschland, die Schirmherrschaft übernommen. Zur Premiere konnte er leider nicht kommen (dafür war US-Generalkonsul James W. Herman zu Gast), allerdings hatte er eine Videobotschaft geschickt, die vor der Premierenvorstellung gezeigt wurde. Darin betont er den treffenden Zeitgeist des Stücks hinsichtlich des komplexen Themas „Integration“. Die eigentlich US-amerikanische Geschichte könne nicht nur in Deutschland, sondern in Zeiten der Globalisierung auch überall gespielt werden.
In Deutschland läuft das Stück unter dem Titel „Geächtet“ (Übersetzung Barbara Christ). Das ist nur eine der möglichen Übersetzungen von „disgraced“, passender wäre eigentlich „in Schande fallen“ oder „sich blamieren“. Denn das tun am Ende alle in diesem so freundlich beginnenden Stück. Da wird der Karriere wegen eine Ehe verleugnet und ein Seitensprung begangen (womit indirekt das Vorurteil eines Teils der islamischen Männerwelt über westliche weiße Frauen bestätigt wird), andere verleugnen ihren islamischen Hintergrund, indem sie ihre Namen ändern, um in der Gesellschaft nicht benachteiligt, nicht geächtet zu werden. Hinter zunächst harmlosen Wortspielereien geht es nicht zuletzt um unsere Selbstwahrnehmung.

Disgraced
The English Theatre Frankfurt
Amir (Selva Rasalingam), Emily (Maya Wasowicz)
© Martin Kaufhold

Regisseur Adam Lenson, der am English Theatre Frankfurt vor fünf Jahren bereits Eric Cobles „The Dead Guy“ inszenierte, zeigt „Disgraced“ packend, textnah und ohne Verfremdungen. Die Bühne von David Woodhead (auch Kostüme) nutzt nicht die gesamte mögliche Breite aus, rechts bleibt eine Lücke. Zu sehen ist ein modern eingerichtetes Wohnzimmer mit Couchbereich samt Orientteppich, Kamin, Bücherregal, Barwagen und rundem Esstisch, mitsamt zwei Flurbereichen im Hintergrund. Auch hier steht ein auf einer Wand aufgehängtes Bild im Fokus, Sonnenstrahlen fallen über Balkonfenster seitlich herein, zumindest für die ersten beiden und die letzten Szenen. Die Hauptszene mit dem gemeinschaftlichen Essen findet abends statt, da ist dann alles Licht auf den Raum fokussiert (Licht: Chris Withers). Das Blau von Emilys Wandbild findet sich auch im umsäumten Bühnenhimmel, der zwischen den Szenen zum Leuchten gebracht wird.

Die im Mittelpunkt stehende Figur des Amir Kapoor (eigentlich Abdullah) gibt Selva Rasalingam souverän und mit viel Charme, erinnert dabei manchmal an Dean Martin (ganz anders war er als einer der Söldner von Silva, James Bonds Gegenspieler in „Skyfall“, zu erleben). Einen glaubwürdigen und starken Charakter vermittelt Maya Wasowicz mit der Figur der Künstlerin Emily Hughes-Kapoor. Den als Kurator am Whitney Museum arbeitenden Isaac gibt Edward Wolstenholme, unter dem Deckmantel von Aufgeschlossenheit und Freundlichkeit verfolgt er ganz zielstrebig seine Pläne. Der Erfolg scheint der Anwältin Jory eher zuzufallen, Susan Lawson-Reynolds gibt sie als taffe Person. Als junger Mann, der seinen Weg noch nicht gefunden hat, überzeugt Adam Karim (Rolle des Neffen Abe).

Sehr viel Applaus für das gelungen umgesetzte, moderne und packende Drama um Identitätsbestimmung, politische Korrektheit und Selbstwahrnehmung.

Markus Gründig, März 16

It’s all about identity ~ Neues Mission Statement des English Theatre Frankfurt
The English Theatre Frankfurt (ETF) formuliert, passend zu seinen beiden Stücken „Disgraced“ und „Bad Jews“, sein Leitmotiv neu, werden mit diesen Stücken doch hochaktuelle Themen wie Religion, Kultur und Identität thematisiert. Hieraus hat das ETF ein neues audio-visuelles Leitbild entwickelt: „We are the English Theatre“ portraitiert die Vielfalt der Menschen, die das ETF ausmacht, die Summe mannigfaltiger Identitäten, die ein kulturelles Ganzes ergeben. Das ETF zeigt damit Gesicht. Die musikalische Basis für den neuen Clip stellt der bewegende Song „Hora“ der britischen Band Oi Va Voi dar.

„Hora“ by Oi Va Voi:

It’s all about identity
Construction of a family
Of difference and simile
What I give you and you give me
It’s all about identity
This tribal sense of dignity
Of tolerance and unity
Of prejudice and bigotry
It’s all about identity
A web of who we’d like to be
Let’s cut and paste our memory
A dark and timeless industry
It’s all about identity
A strength and solidarity
A dazed, confused desire to find
A place and time in history
It’s all about identity
Or how the sheer majority
Impose a predetermined badge
And wait to judge you silently
It’s all about identity
A retrospective odyssey
But where I live and who I meet
Are stronger in defining me


Geächtet

Staatstheater Wiesbaden
Besuchte Vorstellung:
27. Februar 16 (Premiere)

Ayad Akthars „Geächtet“ ist eines der populärsten neuen Stücke in der Saison 2015/16. Uraufgeführt in Chicago im Jahr 2012, mit dem Pulitzerpreis im Jahr 2013 ausgezeichnet, fand die deutschsprachige Erstaufführung zwar erst diesen Januar im Hamburger Schauspielhaus statt (Übersetzung: Barbara Christ). Doch schon wenige Tage darauf folgten Inszenierungen in Berlin und Zürich (Theater Neumarkt, in der Regie von Alexander Eisenach und u. a. mit Claude de Demo), München, Ingolstadt und Dortmund. Zahlreiche weitere Theater werden es allein noch in dieser Saison herausbringen.
Das Stück des amerikanischen Autors mit pakistanischen Wurzeln (Jahrgang 1970) greift Themen auf, die allgemeingültig sind, heute aber ganz besonders aktuell im Raum stehen. Es ist ein klassisch aufgebautes Konversationsstück, das hinter die Fassaden moderner multikultureller Liberalität blickt. Dabei kommen schnell die Themen Islamfeindlichkeit, Antisemitismus, Assimilation und Identitätsverlust zur Sprache. Es nimmt keine Haltung ein, ist weder eindeutig für oder gegen eine bestimmte Seite. So wie das Leben aus vielen Schattierungen besteht und nicht pauschalierend schwarz und weiß, gut und böse, gesehen werden kann. In bester Theatertradition regt es zum Nachdenken an. Und zum Dialog der Kulturen. Denn aufeinander zugehen, sich für den Fremden ernsthaft zu interessieren, ist ein erster Schritt zur Integration. Dabei müssen es nicht die großen Themen wie IS und Selbstmordattentate sein. Die Schwierigkeit, die Deutsche mit islamisch klingenden Namen bei der Jobsuche erleben, ist ein offenes Geheimnis. Nicht überall ist man so offen, wie beispielsweise bei den Opern- und Theaterhäusern (wo ein multikultureller Dialog seit Langem ganz automatisch geführt wird).

Geächtet
Staatstheater Wiesbaden
Amir (Stefan Graf), Isaac (Ulrich Rechenbach), Jory (Sithembile Menck), Emily (Janina Schauer)
© Bettina Müller

In Wiesbaden wurde „Geächtet“ jetzt im Kleinen Haus von Bernd Motti inszeniert. Die Bühne von Friedrich Eggert (auch Kostüme) zeigt ein zeitgemäß eingerichtetes Wohnzimmer des kinderlosen Ehepaares Emily und Amir. Viel weiß unterstreicht dabei den scheinbar edlen und reinen Charakter der Figuren. Als Besonderheit gibt es eine zweite Zuschauertribüne auf der Rückseite (mit acht Reihen und 105 Sitzplätzen), sodass sich die Darsteller praktisch inmitten des Publikums befinden. Für die (kurzen) Umbauzeiten zwischen den vier Szenen ertönt nicht nur lautstark (und wie übersteuert klingend) jeweils ein von Conrad Ahrens live gegebener Rap (er spielt auch den jungen Abe), es werden auch Comiczeichnungen auf die Vorhänge projiziert. Diese zeigen u.a. eine Skyline und vorüberziehende Flugzeug. Aber auch das amerikanische Mount Rushmore National Memorial (das Denkmal mit den vier in Stein gemeißelten Präsidenten Washington, Jefferson, Roosevelt und Lincoln), jedoch mit langen Bärten, sodass sie wie Islamisten anmuten (Illustration: Benjamin Bartenstein), Animation: Gerard Naziri).

Janina Schauer gibt die Künstlerin Emily hinreißend und bezaubernd, als ein Bilderbuch Gutmensch. Integer und stärker ist die aufstrebende afroamerikanische Anwältin Jory, von der im Schleswig-Holsteinischen Henstedt-Ulzburg geborenen Sithembile Menck gezeichnet. Als undurchsichtiger jüdischer Kurator Isaac (mit dickem Rauschebart), der mit seinen Bemerkungen und Fragen zwar ein inspirierender, aber auch die anderen aus der Reserve lockender Zeitgenosse ist, gefällt dezent aufspielend Ulrich Rechenbach. Im Zentrum steht die Figur des jungen und tüchtigen Anwalts Amir, Muslim wider Willen, den Stefan Graf mit viel Charme und großem Format gibt. Vom Rezensenten vor zwei Jahren am Staatstheater Mainz als aufstrebender Nick in „Wer hat Angst vor Virgina Wolf“ gesehen, erscheint er diesem hier wie eine andere Person, so präsent und vielschichtig, wie er den Amir präsentiert, gleichgültig ob in Schlafanzughose und Jackett oder im 600 Dollar teuren Edelhemd, als Sieger oder als großer Verlierer.
Sehr viel Applaus.

Markus Gründig, Februar 16


Iphigenie

Theater Willy Praml
Besuchte Vorstellung:
26. Februar 16

„Jeder Fremde ist heilig“

Wenn es um das Thema Menschenopfer und dessen Überwindung geht, denkt manch einer noch an die alttestamentarische Geschichte von Abraham, der Gott seinen einzigen Sohn Isaak opfern soll, schließlich aber nur einen Widder opfert, da Gott Abrahams Gottesfurcht dann doch ausreicht (1. Buch, Kapitel 22). Auch schon die griechische Antike kennt eine Symbolfigur, die für die sittliche Überlegenheit über die Barbarei, für die Überwindung des Menschenopfers steht: Iphigenie. Die älteste Tochter Agamemnons (Führer im Trojanischen Krieg) und Klytämnestras wurde von der Göttin Artemis nach Tauris versetzt (der heutigen Halbinsel Krim). Als Priesterin war sie dazu bestimmt, alle Fremden, die der Artemis geopfert wurden, auf ihren Tod vorzubereiten. Als dann eines Tages ihr von den Erinnyen gehetzter Bruder Orest mitsamt seines Freundes Pylades auftaucht, beendet Iphigenie ihre Tätigkeit und flieht mit den beiden. Der Mythos fand in Literatur, Musik und bildender Kunst eine große Rezeption. Johann Wolfgang von Goethe brachte für seine „Iphigenie“ noch den taurischen König Thoas mit ins Spiel. Als eine Ausnahmeerscheinung gibt es im Stück selbst keine Toten, sondern sogar ein glückliches Ende. Thoas lässt die Drei ziehen und beendet die Opferung von Menschen.

Iphigenie
Theater Willy Praml
Iphigenie (Birgit Heuser)
© Seweryn Zelazny

Das Frankfurter Theater Willy Praml, das dieses Jahr seit 25 Jahren besteht, eröffnet mit Goethes „Iphigenie“ sein Jubiläumsjahr. Gleichzeitig ist es in gewisser Weise eine lose Fortsetzung der im vergangenen Jahr begonnen Auseinandersetzung mit der Flüchtlingsthematik (Anna Seghers „Transit“ ab August 15), schließlich sollen im Lande Tauris alle Fremden geopfert werden. Prinzipal Willy Praml wies vor der besuchten Vorstellung in seiner fundierten und kurzen Stückeinführung dann auch auf Parallelen zwischen Iphigenie und Angela Merkel hin. Im Untertitel zur Inszenierung steht die Frage „Kann Humanität den Schrecken dieser Erde überwinden?“.
Dank der einmaligen Naxos-Hallen-Architektur bedarf es keines großen Bühnenbildes für den Spielort (einen Hain vor Dianes Tempel). Im beheizten Spielbereich im Publikumssaal reichen drei barock anmutenden weißen Gartenstühle auf weißen Bodenplatten, im unbeheizten Spielbereich der weiten Halle steht ein Portal erhaben im Zentrum (Bühne: Michael Weber). Dabei handelt es sich um das ehemalige Hauptportal des im Jahr 1944 zerstörten alten Frankfurter Schauspielhauses. In Teile zerlegt, lagerte es seit der Insolvenz der Firma Holzmann ab 2002 ob der Platzverhältnisse in der Naxos-Halle und wurde erst jetzt wieder zusammengesetzt.

In einer auf gute zwei Stunden gebrachten pausenlosen Fassung geben lediglich drei Darsteller Goethes Versdrama, laut Reclams Universalbibliothek das „vollendste Beispiel antikisierender Dramatik in deutscher Sprache“, packend wider.

Die Figur der reinen Priesterin Iphigenie, eine verstoßene Frau, die aber innerlich stärker ist als alle Kämpfer um sie herum, wird von Birgit Heuser sehr innig und gefasst interpretiert. Anfangs in einen eleganten dunklen Mantel gehüllt, später in einem glitzernden, eng anliegenden Abendkleid, steht bei ihr das Wort im Zentrum. Jede Silbe wird dabei ganz bestimmt betont und ihrem akkuraten Vortrag zuzuhören, ist schon ein Genuss an sich (und ihr Textanteil ist zudem nicht gerade gering). Durch die Verwendung von Mikrophonen ertönen die Stimmen besonders prägnant.
Iphigenies Gesicht und die freie Haut an Armen und Rücken sind weiß geschminkt, schließlich bereitet sie als Priesterin Menschen auf den Tod vor. Gleichzeitig trägt sie aber auch einen farbenfrohen Blumenkranz auf dem Kopf, der auf ihr hohes Humanitätsideal anspielt (Kostüme: Michael Weber). Sie weiß, „dass unsere Leidenschaft zur Waffe dient, doch ein andres spricht zu ihr, ein älteres, weshalb sie sich widersetzt, das Gebot, dem jeder Fremde heilig ist“.

Iphigenie
Theater Willy Praml
Pylades (Jakob Gail), Iphigenie (Birgit Heuser), Orest (Michael Weber)
© Seweryn Zelazny

Die Männer an ihrer Seite geben nicht minder Goethes Sprache treffsicher hervorhebend wider. Mit leidenschaftlichem Spiel dabei: Jakob Gail (als um sie werbender König Thoas und als zum Tod verurteilter Pylades) und Michael Weber (als Vertrauter des Königs und fluchbeladenen Bruder Orest). Als Besonderheit ist noch ein Kinderchor beteiligt (Schüler der Klasse 6e der Frankfurter Helmholtzschule). In einheitlicher Schultracht (weiße Blusen/Hemden und schwarze Röcke/Shorts) erobern sie mit dem als Kontrast eingebrachten gute Laune Lied „Erzähl mal“ von Deine Freunde die Bühne. In dessen Refrain heißt es „..Ich hab ́ ein schönes, neues Spiel! … Es ist ganz leicht, wer zu viel redet, verliert…“ Während des knapp vierminütigen Liedes spielen die Kinder. Einer liest zufrieden in einem Buch, eine macht gymnastische Bodenübungen, andere bereiten ein Picknick vor oder laufen Händchen haltend im Kreis. Doch die friedliche Atmosphäre wird schnell von Streitanwandlungen unterbrochen. Also ändern sich die Menschen nicht zwangsläufig zum Guten.
Dies verlangt immer wieder außergewöhnliche Menschen, die anderen ein Vorbild sind, wie eben Iphigenie, die sich auch zum Nachdenken zurückzieht. Hierbei erfolgt eine Videoprojektion aus dem stillen Örtchen (bei der besuchten Vorstellung musste diese Sequenz aber wegen eines technischen Problems in den Zuschauerraum verlegt werden).  Zum Schluss kommen die Kids erneut ins Spiel, nun als kommentierendes Volk. Wie generell zum Schluss ordentlich Stimmung gezaubert wird. König Thoas erscheint mit Blitz und Donner begleitet hoch erhaben in Übergröße und ein eingespieltes Beethoven Medley sorgt zusätzlich für dramatische Untermauerung. Gleichwohl ist das Ende nicht so selbstverständlich, wie es bei Goethe steht. Wenn Iphigenie mit ihrem Bruder Orest schließlich geht und Thoas‘ Segen erbittet, scheint sie diesem nicht wirklich zu trauen, denn immer wieder kommt sie zurück und wiederholt ihre Bitte. Ein berechtigtes Fragezeichen über den versöhnlichen Schluss und die Utopie von einer sich bessernden Menschheit. Sehr viel Applaus.

Markus Gründig, Februar 16


Der Revisor

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
20. Februar 16 (Premiere)

Nikolai Gogols „Der Revisor“ ist eine Provinzposse, die sich bestens für eine Aufführung an Freilichttheatern eignet (wie für die Burgfestspiele Bad Vilbel, wo es 2007 gespielt wurde). Freilich auch für ein großes Haus, wie das Schauspiel Frankfurt (hier zuletzt 1993, mit Jürgen Holtz als Stadthauptmann), wo die Inszenierungen von Komödien wie Frayns „Der nackte Wahnsinn“ oder Dürrenmatts „Die Physiker“ das Publikum begeisterten. Den „Revisor“ in ein ähnliches Format zu packen, schien Regisseur Sebstian Hartmann (inszenierte zuletzt 2015 beeindruckend Dostojewskis „Dämonen“) jedoch nicht zu reichen. So bearbeitete er die beißende Satire stark, kürzte, stellte Szenen um und fügte weitere Texte ein. Herausgekommen ist ein überdrehtes Spiel, das das Publikum bei der Premiere stark polarisierte. Das Frankfurter Premierenpublikum ist im Allgemeinen ja sehr diplomatisch und freundlich zurückhaltend. Hartmann und sein Team mussten zum Schlussapplaus aber auch etliche Buhrufe hinnehmen. Was ihn sicher nicht überrascht hat, Theater soll ja auch wirken und zu Diskussionen anregen und darum hat er sich redlich bemüht.

Der Revisor
Schauspiel Frankfurt
Jan Breustedt, Isaak Dentler, Sascha Nathan, Katharina Bach, Steve Binetti, Franziska Junge, Linda Pöppel, Holger Stockhaus, Max Meyer
© Birgit Hupfeld

Insgesamt ist die Inszenierung mit 2,5 Stunden nicht länger als sonst üblich. Allerdings gibt es keine Pause (bei der Premiere verließen dennoch einige Besucher die Vorstellung vorzeitig). Ungewöhnlich ist schon der Beginn. Wenn das Publikum in den Saal eintritt, betreten zeitgleich die Darsteller die offen einsehbare Bühne, halten einen Smalltalk, einer putzt mit einem Besen noch einmal die Bühne, Sascha Nathan reicht dem Publikum Bonbons, Max Meyer trägt ein trauriges Emoticon auf dem Rücken, andere laufen durch den Saal und sprechen zum Publikum. Alle tragen Smoking und Zylinderhüte als Bild für die einheitliche Masse (erst später kommen Glitzerkleider und farbige Haare dazu; Kostüme: Adriana Braga Peretzki). Auch wenn es nach einem spritzigen Auftakt, bei dem die Darsteller aufgekratzt durch die Szene huschen, eine Einweisung in das Stück gibt und die Rollenzuordnung bekanntgegeben wird, gibt es diese gerade nicht. Denn unmittelbar folgt eine ganz andere Rollenzuteilung. So drückt der einheitliche Kleidungsstil auch aus, dass hier jeder jede Rolle spielen kann (und dies teils auch tut). Und es gibt gewissermaßen Theater im Theater. „Der Revisor“ soll gespielt werden, die Darsteller sind Schauspieler, die Schauspieler spielen (und sich mit ihren realen Vornamen ansprechen). Diesem 10-minütigen Vorspiel folgt ein halbstündiges Solo von Holger Stockhaus. In den Jahren 2004 bis 2007 war er am Schauspiel Frankfurt bereits als Gast zu erleben. Von 2008 bis 2012 gehörte er Anke Engelkes „Ladykracher“-Ensemble an. Er ist regelmäßig im Fernsehen zu sehen, auch wenn sein Schwerpunkt im Theater liegt. In seinem Solo führt er mit großem Charme und agilen Körperbewegungen auf bayrisch, hessisch und „St. Petersburgisch“ weiter in das Geschehen und die Figuren ein. Allein dieser Auftritt lohnt einen Besuch!

Ab dann wird es allerdings immer anstrengender, Sebastians Hartmanns überdrehten Inszenierungsansatz zu folgen, der sich nicht jedem unmittelbar erschließt. Absurdes und Komisches stehen ständig im Mittelpunkt, worüber viele herzhaft lachen. Diejenigen, die für diese Art von Humor keinen Zugang haben, sind eher gelangweilt. Oftmals fragt man sich, was soll das jetzt. Beispielsweise wenn es einem Darsteller schlecht geht, weil er meint, beim Publikum nicht anzukommen (er sei „nicht lesbar“) und sich in seiner Verzweiflung auszieht und nackt über die Bühne rennt (der athletisch gebaute Jan Breustedt vom SCHAUSPIELstudio). Oder im Saal ein Zaubertrick gemeinsam mit einer Zuschauerin demonstriert wird, das Damentrio Katharina BachFranziska Junge und Linda Pöppel eine längere Schnurbart-Nummer zum Besten gibt oder Holger Stockhaus über Schauspielerauszeichnungen (von den goldenen Kamera bis zum österreichischen Nestroy etc.) referiert. Immerhin helfen die Größen Isaak DentlerMax Mayer und Sascha Nathan, diese etwas weit hergeholten Bezüge zu heutigen Rollenspielen, als unterhaltsam zu empfinden. Dramaturg Dr. Michael Billenkamp führt im Programmheft aus, dass es um moderne Rollenspiele geht, um unsere Bilder, die wir von unserem Gegenüber haben. Optisch wird dieser Ansatz durch den Einsatz von zwei Drehbühnen unterstützt. Dabei ändern sich die Optiken ständig, zeigen entweder eine freie Fläche vor einer gestreiften Wand oder zwei leere Räume (für das Zuhause des Stadthauptmanns; Bühne: auch Sebastian Hartmann). Neben dem Gitarristen Steve Binetti gibt es auch schön klingende Gesangseinlagen der DarstellerInnen.
Am Ende ein etwas gespaltenes Publikum, starker Applaus und wie erwähnt, auch Buhrufe.

Markus Gründig, Februar 16


Zweite allgemeine Verunsicherung

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
19. Februar 16 (Premiere)

„Überleben im eigenen Leben“

Felicia Zeller ist eine sehr produktive Autorin, sie schreibt nicht nur Theatertexte und Prosa, sie ist auch als Autorin und Regisseurin auf dem Gebiet der Neuen Medien aktiv. Schon 2008 schrieb Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung anlässlich der Uraufführung von „Kaspar Häuser Meer“ in Freiburg (das Stück wurde später auch vom Freien Schauspiel Ensemble Frankfurt gespielt), sie sei „eine Art schwäbische Jelinek, ein Pollesch für die Damen: produktiv bis zur Hyperaktivität, leidlich berühmt und berüchtigt für ihre Sprachspiele.“ Als Auftragsarbeit für das Schauspiel Frankfurt entstanden, feierte im Oktober 2012 ihr Stück „X-Freunde“ Premiere in den Kammerspielen, das mit dem 38. Mülheimer Dramatikerpreis und dem Hermann-Sudermann-Preis für Dramatik ausgezeichnet (letzteren erhielt im vergangenen Jahr übrigens der ehemalige Hausautor des Schauspiel Frankfurt, Nis-Momme Stockmann), sowie vom Fachmagazin „Theater heute“ zum „Stück des Jahres 2013“ gekürt wurde.

Auch das jetzt uraufgeführte Stück „Zweite Allgemeine Verunsicherung“ (ZAV) ist als Auftragsarbeit für das Schauspiel Frankfurt entstanden. Der Text des Stücks findet sich als Beilage in der Februar-Ausgabe des Fachmagazins „Theater heute“ (das zumindest bei der Premiere, auch im Foyer der Kammerspiele verkauft wurde). Es ist kein leichter Text, er ist komplex und etwas spröde und es ist schon gar kein Drama im engen Sinn und hat auch nichts mit der EAV, der österreichischen Pop-Rock-Band Erste Allgemeine Verunsicherung zu tun. Es gibt keine benannten Figuren, die eine spezielle Geschichte erzählen. Dennoch wartet er mit wunderbarem Sprachwitz auf, der moderne Befindlichkeiten reflektiert und dem Zuschauer einen Spiegel vorhält und die Grenzen des Absurden streift („.. also lasse ich die Milchprodukte weg, die Fleischprodukte, keine Süßigkeiten, kein Getreide, Laktosehaltiges, Glutenhaltiges, alles, was Inhaltsstoffe hat…“). Erzählt wird beispielsweise vom Traum, einmal im großen Galakleid auf einer Preisverleihung zu sein, und den Vorwürfen und Selbstvorwürfen, wenn es dann so weit ist.
Es geht um Alltagsängste und Nöte, ähnlich, wie es der russische depressive Intellektuelle bei Tschechow tut und die Klage darüber, dass dieser „Iwanow“ ja bereits schon geschrieben ist. Um Unfähigkeit, das eigene Befinden überhaupt noch beurteilen zu können und selbst da, auf Google angewiesen zu sein (wie auch auf eine „Blickerkennungs-App“), aber auch um das Älterwerden (und den damit einhergehenden körperlichen Veränderungen). Es sind viele kleine pittoreske Szenen, die für sich auch alleine stehen könnten. Meist erscheinen sie zunächst erheiternd, stimmen dann aber doch nachdenklich. Sätze werden dabei nicht immer im herkömmlichen Sinn beendet (in einem Interview zu ihrem neusten Stück nennt Zeller diesen Stil „Text- und Gedankenbeschleuniger“). Sie enden wie Gedanken, die plötzlich ganz wo anders sind. Geerdet und im Hier und Jetzt ist dabei niemand. Antworten werden auch in der Verneinung gesucht: „Wofür begeistere ich mich nicht. Worüber freue ich mich nicht. Was traue ich mir nicht zu. Was habe ich alles nicht getan in meinem Leben.“ Überleben im eigenen Leben ist keine Selbstverständlichkeit, auch nicht, wenn jemand im Film „One Million Insider“ einen der Insider gespielt hat.
Formal geht es um eine Filmpreisverleihung, bei der jemand für das beste adaptierte Drehbuch nominiert ist „Iwanow reloaded“ (wie das Stück auch ursprünglich heißen sollte) und die „22. Bottropper Power-Tagen“, mit einer sechsundvierzig Komma fünf Jahre jungen Frau, die im Frühstücksraum eines Hostels das Durchschnittsalter senkt. Doch sind dies nur sehr lose Formalien, die kaum wahrnehmbar sind. Entscheidend sind die Figuren mit ihren Verunsicherungen, die sich untereinander nicht beseitigen, sondern untereinander verstärken (und somit zu zweiten allgemeinen Verunsicherungen werden).

Zweite allgemeine Verunsicherung
Schauspiel Frankfurt
Vincent Glanert, Verena Bukal, Constanze Becker, Till Weinheimer, Martin Rentzsch
© Birgit Hupfeld

Für die Uraufführung hat das Schauspiel Frankfurt enorm viel in Bewegung gesetzt und Regisseurin Johanna Wehner (ehemals Mitglied vom REGIEstudio des Schauspiel Frankfurt und jetzt Oberspielleiterin am Theater Konstanz) die regieanweisungsfreie Vorlage sehr einfallsreich umgesetzt. Die Reihenfolge hat sie verändert, so steht zu Beginn nicht das Lamento „Mein Mantra“, sondern die Passage über die Hölle („Die Hölle ist eine Wiederholung“), die eigentlich kurz vor dem Schluss kommt. Hierbei tauchen zunächst nur ein paar sich flink bewegende Finger aus dem Bühnenboden hervor, dann drei verängstigte Männer. Die Bühne von Volker Hintermeier lässt seine langjährige Zusammenarbeit mit Jürgen Kruse erkennen, mit dem er hier bereits Borcherts „Draußen vor der Tür“ erarbeitet hat. Auch bei der ZAV erinnert das Bühnenbild an Kruses dunkle und überbordende Bühnen (wie bei „Leonce und Lena“). Allerdings ist diese hier nicht so überladen, im Gegenteil. Den ganzen Raum nimmt ein riesiges angerostetes Stahlkorsett ein, das ein Teil eines Flugzeugs sein könnte. Der Boden ist in quadratische Elemente (Dielen und Gitter) unterteilt, neben kalten Neonröhren gibt es auch einen eleganten Kronleuchter. Es herrscht eine apokalyptisch anmutende Endzeitstimmung in dieser von zwei Felsen umsäumten Szenerie. Aufwendig und farbenfroh sind die Kostüme von Ellen Hofmann. Die Verunsicherung der Protagonisten wird durch Geräusche verstärkt. Immer wieder ertönt das laute Knistern wie bei einem Kurzschluss. Dazu gibt es aber auch als Pardon das frohgemut stimmende Harry-Lime-Thema von Anton Karas, das hier in vielen verschiedenen Variationen erklingt (Komposition: Joachim Schönecke; bekannt wurde die Zithermelodie durch den Film „Der dritte Mann“ von 1949). Zum wunderbaren Theatererlebnis machen diesen Text vor allem die fünf grandios spielenden Darsteller Constanze BeckerVerena BukalVincent GlanderMartin Rentzsch und Till Weinheimer. Sie führen Zellers Figuren als sich ständig gegenseitig verunsichernde Zeitgenossen brillant vor.

Viel Applaus für das bravourös dargebotene zwanzigste Werk von Felicitas Zellers.

Markus Gründig, Februar 16


The Witches

The English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
7. Februar 16 (Premiere)

Seit vielen Jahren haben Sprachvermittlung und der Dialog mit der Jugend in vielseitiger Form eine lange Tradition am English Theatre Frankfurt. „Words in Action“, Workshops, Initiierung des „English Drama Network“ und der Ustinov Theatre School sind einige der Projekte. Seit 2005 gibt es den Drama Club unter der Leitung von Michael Gonszar, der jährlich ein bekanntes Stück aufwendig inszeniert (zuletzt das Musical „Alice in Wonderland”). Für ein noch jüngeres Publikum (ca. 12-16 Jahre) stehen die „Plays for young audiences“, die auch als „Schooltours“ angeboten werden. Für diese Produktionen wird die Sprache auf das Niveau der Jugendlichen angepasst. Lehrer werden zudem mit umfangreichen Begleitmaterialien (wie Skripten, Arbeitsblätter und Follow-up-Workshops) unterstützt.  Unter der Regie der Education Managerin des English Theatre Frankfurt, Lea Dunbar, feierte jetzt Roald Dahls „The Witches“ in der Bühnenbearbeitung von David Wood seine Premiere im Rahmen der Reihe „Plays for young audiences“.
Geschichten von Roald Dahl wurden schon oft von Hollywood erfolgreich verfilmt, am bekanntesten dürfte Tim Burtons Version von „Charlie und die Schokoladenfabrik“ sein. Auch „The Whitches“ wurden bereits verfilmt, der deutsche Titel lief unter „Hexen hexen“, die Rolle der „Grand High Witch“ (Oberhexe) spielte dabei Anjelica Huston.
James the bar, also das Foyer des Hauses, war zur Premiere mit vielen bunten Luftballons geschmückt, neben Donuts gab es kunterbunte alkoholfreie Drinks, die als „Giftgemisch“ schon herrlich auf das Stück einstimmten. Zudem waren zahlreiche der jungen Besucher im passenden Hexenoutfit gekommen, schließlich war es der Faschingssonntag und nur wenige Meter entfernt fand der große Fastnachtsumzug der Stadt Frankfurt statt.

The Witches
English Theatre Frankfurt
James Moore, Sophia Anspach, Oliver Kubiak, Sam Michelson, Sharon Adam
© Sebastian Bruch

Gespielt wird auf der großen Bühne, auf der, noch bis zum 14. Februar 16, abends das Musical „The Life“ gegeben wird und ab 4. März 16 Ayad Akhtars „Disgrace“ („Geächtet“). Trotz weniger Bühnenelemente, nicht zuletzt, weil die Inszenierung auch auswärts gespielt wird, ist man schnell in der Geschichte drin. Anfangs, im Heim der Großmutter, genügt ein gemütlicher Ohrensessel und ein Bett für Bruno. Dieses zeigt sich als sehr wandlungsfähig. Mit wenigen Handgriffen wird es zu einem Hoteleingang oder Tisch umfunktioniert. Einen überdimensionalen Suppentopf gibt es auch noch (Bühne: Olga Gromova). Im Hintergrund wird die Geschichte zusätzlich teilweise als Schattenspiel untermauert.

Alle fünf Darsteller spielen, mit großem Einsatz, mehrere Rollen. Als gutherzige und markante Großmutter, die gerne auch mal eine Zigarre raucht, einen beherzten Schluck aus dem Flachmann nimmt oder mit ihrem Popo wackelt, begeistert James Moore. Ihren Enkel Bruno gibt Oliver Kubiak mit jugendlicher Attitüde. Schauspieler Sam Michelson, bekannt auch durch das Frankfurter Theater Willy Praml, gibt u.a. den stets hungrigen Jungen mit dicken Bauch, der als erstes zu einer Maus verwandelt wird, zeigt aber auch viel Charme als Koch und wird als streitsüchtige französische Hexe gar zerstückelt. Als attraktive und böse Grand High Witch verwandelt Sharon Adam die Jungs in Mäuse, bis sie schließlich selbst im großen Kochtopf landet. Sophia Anspach versprüht als Event Managerin am Hoteleingang viel gute Stimmung, gibt zudem u. a. die Deputy High Witch und einen Frosch. Natürlich zeigen die Hexen, wenn sie bei ihrer Festveranstaltung ihre Perücken abnehmen und ihre Glatzen präsentieren, ihr wahres Aussehen (Kostüme: Melanie Schöberl).
Wobei Lea Dunba hierbei das ganze Publikum zum Teil der RSPCC (Royal Society for the Prevention of Cruelty to Children) macht und, fast wie bei der Rocky Horror Show, zu Mitmachaktionen auffordert (“Squish them, squiggle them and make them disappear!”). Eine kurze Hip-Hop Nummer sorgt für eine gewisse Auflockerung bei dieser nur gut einstündigen Aufführung. Und wer Roald Dahl kennt, weiss natürlich auch, dass das Ende nicht ganz so Happy End mäßig ist, wie es zunächst scheint…

Im English Theatre Frankfurt ist das Stück noch am 7. bis 11. März 16 zu sehen (Eintritt nur Euro 10,00). Für den Tourneezeitraum stehen die Termine 15.-19. Februar, 11.-15. und 25.-29. April 16 zur Verfügung.

Markus Gründig, Februar 16


Das Jahr des magischen Denkens

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
31. Januar 16 (Premiere)

“Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben, das man kennt, hört auf“
Joan Didion

Inmitten der Endphase des diesjährigen Karnevals, wo ausgiebig gelebt und gefeiert wird, wo vieles durchgeht, was sonst verboten ist, bringt das Schauspiel Frankfurt in der kleinen Spielstätte „Box“ ein Stück über das Sterben, den Tod und den Verlust geliebter Menschen. Was einerseits wie ein Kontrast anmutet, ist andererseits das pralle Leben. Auch wenn Sterben, Tod und Verlust gerne ausgeblendet und verdrängt werden, geschehen sie nun einmal tagtäglich, egal, welche Jahreszeit gerade gefeiert wird. Erkrankungen, Naturkatastrophen und Terrorakte nehmen keine Rücksicht auf unser Zeitempfinden. Die US-amerikanische Autorin und Journalistin Joan Didion (Jahrgang 1934) hatte Anfang des Jahrtausends zwei herbe Verluste zu verbuchen. Erst starb ihr Ehemann John Gregory Dunne am 30. Dezember 2003 vollkommen unerwartet an einem Herzinfarkt: „Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben, das man kennt, hört auf“. Ihre Trauer hat sie in Form des Sachbuchs „The Year of Magical Thinking“ abgearbeitet. Noch während der Arbeit an diesem Buch verstarb dann auch noch, nach längerer Krankheit, ihre Adoptivtochter Quintana Roo Dunne.
Therese Willstedt, Mitglied des RegieSTUDIOs am Schauspiel Frankfurt, präsentierte jetzt die von Didion selbst erarbeitete Dramatisierung ihrer Memoiren von „Das Jahr magischen Denkens“, wie der deutsche Titel lautet. Die Bühnenfassung in der Übersetzung von Terence French hatte im Januar 2008 am Hamburger Ernst-Deutsch-Theater ihre deutschsprachige Erstaufführung (es spielte Daniela Ziegler). Die Bühne von Marten K. Axelsson (auch Licht) und Ina Conrad (auch Kostüme) konterkariert das mit dem Thema Trauer verbundene Schwarz. Sie besteht aus einer großen Ecke, aus hellen quadratischen Platten, die eine schöne Atmosphäre zaubern, auch wenn das Licht meist aus harten Neonröhren kommt. Gleichsam ist dies ein Bild für die Situation, wie sie Joan für sich wahrnimmt: sie fühlt sich in die Ecke gedrängt, sieht keinen Ausweg.

Das Jahr magischen Denkens
Schauspiel Frankfurt
Joan (Kate Strong, Heidi Ecks)
© Birgit Hupfeld

Es ist keine leichte Aufgabe, ein derartiges Gedächtnisprotokoll szenisch darzustellen. Clou der Inszenierung ist, dass Willstedt der Figur der Joan ein Double an die Seite gestellt hat. So sind auf der kleinen Bühne der Box die Schauspielerinnen Heidi Ecks und Kate Strong zu erleben. Beide gleichen sich äußerlich stark, nicht nur wegen der ergrauten Haare und weil sie die gleichen schwarzen Kleider mit Rollkragen und Schuhe tragen. Heidi Ecks obliegt es, den Großteil des Textes zu sprechen (bei 90 Minuten Aufführungsdauer ist das eine ganze Menge). Kate Strong ist gewissermaßen die physische Verkörperung ihrer mit der Trauer verbundenen körperlichen Schmerzen und Auseinandersetzungen. Denn diese bleiben nicht aus, auch wenn die Nachricht vom Tod des Mannes, mit dem sie 40 Jahre verheiratet war, gut verkraftet wurde (rein äußerlich, nach Meinung des Sozialbetreuers im Krankenhaus). Strong, die einst in Forsyths Frankfurt-Ballett tanzte, kauert mit entsetztem Blick in einer Ecke, versucht sich ihrem geliebten Schatz John wieder zu nähern, will Vergangenes wiederbeleben, krümmt und windet sich auf dem Boden. Das tut sie mit einer außergewöhnlichen Darstellungskraft und Körpersprache.
Ecks wie Strong zeigen mit beeindruckender Schauspielkunst die Leere und die „magischen Tricks“, mit denen versucht wird, das Unumstößliche doch noch zu korrigieren, die Isolation, den Verzicht auf jegliche Hilfe von Außen, das Scheitern, sich im Krankenhaus, in der die Tochter im Koma liegt, verständlich zu machen. Viele bedrückende Episoden werden angesprochen, dies sehr direkt und nie anklagend.

Zwei starke Frauen, ein großer Abend. Eine der besten Inszenierungen der Saison. Sehr viel Applaus, Bravo-Rufe (selbst von Kollegen aus dem Ensemble).

Markus Gründig, Februar 16


Kollektion

Junges Schauspiel Frankfurt (im MMK2)
Besuchte Vorstellung:
28. Januar 16 (Premiere)

Nachdem das Junge Schauspiel zuletzt das Projekt „Frankfurt Babel” mit jungen Flüchtlingen im Bockenheimer Depot zeigte, folgte nun wieder ein inklusives Jugendprojekt. Die Aktion Mensch erklärt Inklusion als das Gegenteil von Ausgrenzung: „Wenn jeder Mensch – mit oder ohne Behinderung – überall dabei sein kann, in der Schule, am Arbeitsplatz, im Wohnviertel, in der Freizeit, dann ist das gelungene Inklusion“.

Zehn Jugendliche, mit leichter und ohne Behinderung, sind an dem neuen Projekt beteiligt, das in Kooperation zwischen Schauspiel Frankfurt und dem MMK Museum für Moderne Kunst im MMK2 an insgesamt vier Abenden als ein schönes Beispiel für eine gelungene Inklusion gezeigt wird. Genutzt wird dabei die aktuelle Ausstellung „Tuchfühlung – Kostas Murkudis und die Sammlung des MMK“. Murkudis (1959 in Dresden geboren) ist ein international renommierter Designer. Er ist ein Grenzgänger zwischen Mode und bildender Kunst, zwischen künstlerisch-freiem und kommerziellem Arbeiten und leistet sich mit seinen „Laborkollektionen“ Unikate. Seine Summer/Spring Kollektion 2011 war als multimediale Modenschau in Zusammenarbeit mit Carsten Nicola bereits im MMK 1 zu sehen. „Tuchfühling“ ist die erste umfassende Museumsausstellung, die ausschließlich ihm gewidmet ist. Im 14 Stationen umfassenden Ausstellungsparcours finden sich Kleidungsstücken, Backstage-Fotografien von Modenschauen sowie Film- und Soundinstallationen und Einblicke in sein Archiv und den Prozess seiner Ideenfindung (die Ausstellung läuft noch bis zum 14. Februar 16).

Kollektion
Junges Schauspiel Frankfurt im MMK2
Ensemble
© Jessica Schaefer

Um Ideenfindung und Identifikation geht es bei der knapp einstündigen Performance „Kollektion“, die Martina Droste (Theaterpädagogin und Leiterin vom Junges Schauspiel Frankfurt) und Katharina Mantel (Leitung Kunstvermittlung beim MMK) zusammen mit zehn Jugendlichen (Sabrina BauerCarlotta Gemünd, Sarah HallwachsLilly HausmannJasmin RohrigAdrian FischbeckAlexander JägerMirko ScheuerSebastian Winter) erarbeitet haben. Diese nehmen das Publikum mit durch die Ausstellung. Ausliegende Sitzkissen und Museumshocker (die von Station zu Station mitgenommen werden) sorgen dafür, dass man sich stets wohlfühlt und keine langen Beine bekommt. Zu Beginn steht ein Lauf der Jugendlichen an. Nicht unbedingt eine Modeschau, auch wenn mehrfach von einer zur anderen Seite gelaufen wird. Erst läuft jeder der Jugendlichen alleine, mal schnell, mal langsam. Dann zu zweit und schließlich präsentieren sie sich gemeinschaftlich, um mit dem Publikum zur nächsten Station weiterzuziehen. Bei dieser befinden sie sich dann hinter einem Vorhang (dem „Imaginary Screen“ der Ausstellung). Nur ihre Schatten sind jetzt zu erkennen. Sie sprechen von ihren Lebensvorstellungen, Wünschen und Träumen (wobei dabei oft „viel Geld verdienen“ genannt wird). Ein Berg aus unterschiedlichen Kleidungsstücken, Stofffetzen und Schals dient dann als erste unmittelbare Auseinandersetzung mit Werkstücken von Murkudis. Wie wirkt welches Teil bei wem und warum beim anderen so ganz anders, ist dabei die Frage. Am Ende dieser Station soll sich dann einer der Jugendlichen „nützlich“ machen. Doch was heißt das überhaupt, „nützlich“? Dies leitet zu einem ganzen Fragenkatalog in der Station „Summer/Spring Kollektionen 2009–2013“ über. Bei der es auch um Persönliches geht. Wie „Wann fühlst du dich schön?“. Die Antwort „Wenn ich alleine bin“. Oder was man an sich mag und was nicht.
Die Auseinandersetzung der Jugendlichen lässt natürlich auch das Publikum über diese Fragen nachdenken. Zum Schluss dient ein riesiges Tuch aus dünnem Stoff für allerhand Verwandlungen, wie für Kopf- und Ganzkörperschmuck, als eine Art Bodenstange für körperliche Ertüchtigungen, als Umhüllung, Versteck und Verpackung. Das Publikum sitzt währenddessen vor dem Ausstellungsbereich der Spring/Summer Kollektion 2014, die den Titel „4D – A Tribute to Franz Erhard Walther“ trägt und einen unmittelbaren Dialog mit der bildenden Kunst darstellt.
Am Ende sehr viel Applaus für die engagiert dargebotene und nachdenklich stimmende Performance über Selbstinszenierung und Identitätsfindung inmitten der Ausstellung „Tuchfühlung“ des MMK2.

Markus Gründig, Januar 16


Schuld und Sühne

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
15. Januar 16 (Premiere)

Nun hat sie ihren Abschluss gefunden, die Dostojewski Trilogie am Schauspiel Frankfurt. Nach „Der Idiot“ (November 2013) und „Dämonen“ (Januar 2015) folgte nun eine Dramatisierung von „Schuld und Sühne“, einem der bedeutendsten Romane der Weltliteratur. Jedes der Stücke wurde von einem anderen Regisseur inszeniert, jeweils sehr unterschiedlich. Von der szenischen Einrichtung her ragt dabei Sebastians Hartmanns „Dämonen“ am stärksten heraus (mit einer großen Holzhütte in der Bühnenmitte). Stark in Erinnerung geblieben sind aus dieser Inszenierung insbesondere die Schauspieler Manuel Harder und der körperlich behinderte Tolga Tekin. Zentrale Figur der in einer Art Erdloch spielenden Inszenierung von „Der Idiot“ (Regie Stephan Kimmig) war Nico Holonics. Dieser spielt, u.a. nach seinem zwischenzeitlichen Triumph als Oscar in „Die Blechtrommel“, nun auch die Hauptrolle in „Schuld und Sühne“: Die Figur des 23-jährigen Studenten Rodion Romanowitsch Raskolnikow, von der Mutter auch nur Rodja genannt.

Für Regisseur Bastian Kraft, der in den Kammerspielen bereits Schnitzlers „Traumnovelle“ und Highsmiths „Der talentierte Mr. Ripley“ inszeniert hat, ist es die erste Arbeit im Schauspielhaus. Dabei ist er den Kammerspielen gewissermaßen treu geblieben, denn die große Bühne nutzt er fast gar nicht. Im Gegenteil, über weite Strecken findet das Geschehen in einer kleinen Box statt, die erhöht und leicht zurückversetzt von der Bühnenrampe platziert ist (ein verspiegelter Glassarg). Die vertikalen Flächen rund um diese Box sind mit Platten abgedeckt. Erst kurz vor dem Epilog öffnet sich die Bühne, verschwinden Box und Wände und nur der leere Bühnenraum ist einsehbar, in dem es, passend für den sibirischen Ortsbezug im Epilog, sanft schneit (Bühne: Ben Baur).
Die Idee, das im Roman als unmöglich beschriebene Zuhause von Raskolnikow, eine Studentenbude, die mehr einem Schrank gleicht, als Spielort zu verwenden, ist nicht verkehrt. Am Anfang wirkt das sogar sehr spektakulär und durch den Einsatz von Livevideobildern, beeindruckend und großartig (Video: Stefan Bischoff). Zwar wird dieser klaustrophobisch anmutende Raum ganz langsam Stück für Stück in der Höhe größer, für die Länge des Stückes und der Größe des Romans (über 700 eng bedruckte Seiten), ist es aber wenig.

Schuld und Sühne
Schauspiel Frankfurt
Oliver Kraushaar, Lukas Rüppel, Christoph Pütthoff, Nico Holonics, Torben Kessler
© Birgit Hupfeld

Anfangs liegt Raskolnikow alleine darin und philosophiert eine knappe halbe Stunde über sein Leben (Gesamtspieldauer: gute 3 Stunden inklusive einer Pause). Geschickt in Szene gesetzt, wie die weiteren Darsteller hinzukommen, wofür die Rückwand der Box hochgefahren wird. Zunächst tritt die alte Pfandleiherin Aljona Iwanowna ein, aufgrund der engen Platzverhältnisse mit stark gebeugtem Rücken. Im roten Kleid aus einem dick wirkenden Stoff (Kostüme: auch Ben Baur) verbirgt sich Oliver Kraushaar. Mit überzogener Mimik sorgt er für Lacher im Saal. Als Pfandleiherin hat er nicht viel zu sagen, denn diese wird alsbald mit einer Axt erschlagen. Das Kleid abgestreift, spielt er in Unterwäsche (wie nachfolgend alle weiteren Darsteller auch), andere Figuren des Romans, wie den von Raskolnikow abgelehnten Hofrat Pjotr Petrowitsch Luschin. Ebenso treten nach und nach alle weiteren Darsteller hinzu. Dies ist eine schöne Idee, Raskolkows Alpträume zu visualisieren. Christoph Pütthoff gibt den Freund und Studenten Dimitrij Prokofjitsch Rasumichin, aber auch die Mutter Pulcherija Alexandrowna Raskolnikowa (indem er sich kurzerhand den Pullover über den Kopf zieht). Lukas Rüppel ist der Gutsbeitzer Arkadij Iwanowitsch Swidrigajlow (der pädophile Gutsbesitzer mit Alpträumen, der auf Raskolnikows Schwester Dunja heiß ist) und einen der Anstreicher (der ein Geständnis abliefert). Torben Kessler ermittelt als Staatsanwalt Porfirij Petrowitsch spitzfindig auch aus dem Saal heraus.
Vor der Pause läuft eine junge Frau (Sonja) mit auf dem Publikum gerichteten Blick von rechts nach links über die Bühne. Später gibt Corinna Kirchhoff mit viel Anmut und innerlicher Stärke diese Figur der jungen Sonja, die für ihre Familie ihr Glück aufgegeben hat und als Prostituierte arbeitet, um Eltern und Geschwister zu ernähren und die mit ihrer unerschütterlichen Liebe zu Raskolnikow diesen bis nach Sibirien begleitet und das Wunder schafft, dass Raskolnikow eine Wandlung seiner Persönlichkeit erfährt.
Fokus und Star des Abends ist Nico Holonics, als besessener, im Wahn befindlicher Phantast und Doppelmörder. Wie er sich windet und Raskolnikows Leiden spürbar macht ist ein großartiges Erlebnis.

Vieles aus dem Roman klingt an, weshalb Kenner ihre Freude daran haben. Anderes wird nur kurz angeschnitten, die angeprangerten sozialen Verhältnisse in Petersburg/Russland beispielsweise. Ein Abend, der insbesondere zu Beginn sehr stark wirkt. Viel freundlicher Applaus.

Markus Gründig, Januar 16


Fräulein Julie

Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung:
12. Januar 16

Strindbergs naturalistisches Trauerspiel „Fräulein Julie“ aus dem Jahre 1888 handelt von einer adeligen Frau, die während der Johannisnacht eine Affäre mit einem Diener hat. Damals eine Unmöglichkeit mit gravierenden Folgen, für die Frau. Wie Dramaturgin Henrieke Beuthner im Programmheft zur Neuinszenierung dieses Stückes am Schauspiel Frankfurt erklärt, hat es, trotz der inzwischen geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse, auch heute noch viel zu sagen. Regisseur Daniel Foerster, seit dieser Spielzeit Mitglied im Schaupiel Frankfurt REGIEstudio, stellt sich hiermit vor und zeigt das drei Personenstück temporeich als eine zeitlose Parabel über emotionale Abhängigkeiten. Denn diese bestehen zwischen den Drei, dem Fräulein Jullie, dem Diener Jean und seiner Verlobten Kristin, wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen.

Gespielt wird in der Box. Um die unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen darzustellen, haben Lydia Huller und Robert Sievert die Spielfläche als ein großes schwarzes Podest gestaltet, das die gesamte Breite einnimmt. In der Höhe nimmt es ungefähr die Hälfte der Raumhöhe ein. Dadurch ist ein Aufsteigen schwierig (wie es das im richtigen Leben auch ist). Gleichwohl ist die Welt oben nicht besser als die Welt unten. Denn oben kann man sich ob der kurzen Distanz zur Decke nicht so frei bewegen, wie es die einfachen Leute unten tun können. Insoweit herrscht eine gewisse Parität.

Fräulein Julie
Schauspiel Frankfurt
Fräulein Julie (Katharina Bach), Jean (Alexej Lochmann), Kristin (Verena Bukal)
© Birgit Hupfeld

Inmitten dieser einnehmenden Festung sitzt zu Beginn und Ende die fromme Köchin Kristin (beflissen und akkurat: Verena Bukal). Sie ist der ruhende Pol zwischen den Extremen Julie und Jean, die nach zartem lustvollen Gestöhne seitens Kristins aus zwei Klappen auftauchen. Kristin trägt ein eigentümliches, gefüttertes Kleid aus Jeansstoff in Form einer Pyramide (also unten sehr weit und oben eng). Ihre Körperlichkeit kann sie damit wahrlich nicht zur Schau stellen, aber das will sie ja auch gar nicht, im Gegenteil.
Umso exzentrischer und wilder ist die Julie der Katharina Bach, die einen eng anliegenden goldenen Jumpsuit trägt. Jean (Alexej Lochmann) kommt mit T-Shirt und Anglerhose daher (Kostüme auch Lydia Huller und Robert Sievert). Ihre Augen sind von Anfang an stark geschminkt, als hätten sie sich schon lange vorher einen Kampf geliefert.

Von ihrer Anatomie her sind die beiden ein sehr unterschiedliches Paar, auch von ihren Bewegungen her. Sie bewegt sich sehr geschmeidig, katzenartig, er hölzern.
Schon bald entkleiden sie sich (aber nicht ganz) und fallen übereinander her. Gekuschelt wird nur, um den anderen zu reizen, wenn Julie etwa lustvoll mit ihrer Zunge am Ohr von Jean schleckt. Mit vergossenem Bier (die Einliterbierdosen einer dänischen Marke sind der einzige Verweis auf den Norden), etwas Erde und aus den Händen gestreuten goldenen Glitzersternchen, herrscht schnell eine wilde Szenerie. Der Kampf der beiden ist brutal, sie schenken sich nichts und beide spielen mit vollem Körpereinsatz, koste es, was es wolle. Es ist verwunderlich, dass bei ihnen keine blauen Flecken zu sehen sind. Insbesondere Lochmann zeigt eine mehr als respektable Leistung, ist er doch noch Mitglied im SchauspielSTUDIO.

Regisseur Daniel Foerster führt mit Elan und Wucht durch dieses heftig überzogen dargebotene Kammerspiel, das allein schon ob der gezeigten Vehemenz betroffen macht. Viel Applaus!

Markus Gründig, Januar 16