Alkestis
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 17. Dezember 16
438 vor Christus wurde Euripides´ Tragödie Alkestis erstmals aufgeführt. Sie handelt von Admetos, dem König von Pherai in Thessalien, der sterben soll. Nur wenn jemand stellvertretend für ihn stirbt, darf er weiterleben. Ausgerechnet seine von ihm so geliebte Frau Alkestis opfert sich für ihn. Dank dem starken Herakles wird sie aber dem Totengott Thanatos entrissen und kehrt zu Admetos zurück.
Die Inszenierung des Schauspiel Frankfurt zeigt nicht eine überlieferte Fassung von Euripides, sondern eine Bearbeitung des britischen Lyrikers Ted Hughes (1936-1998), die ein Jahr nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Das Besondere hieran ist das persönliche Schicksal, das dahintersteht. Hughes war mit der Lyrikerin Sylvia Plath verheiratet. 1962 trennte sich das Paar. Sie hatte starke psychische Probleme, die nach mehreren Selbstmordversuchen 1963 schließlich im Selbstmord gipfelten (zur Erinnerung sei hier an Laura Linenbaums Silent Noise gedacht, das Sylvia Plaths psychischen Problemen auf die Spur ging und im November 2014 Premiere in der Box hatte). Und auch Hughes´ zweite Frau schied durch Suizid aus dem Leben. Das er zum Ende seines Lebens also Euripides Alkestis bearbeitete, verwundert somit nicht. Hughes Alkestis wurde jetzt von Durs Grünbein (* 1962) aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt und in dieser Übersetzung am Schauspiel Frankfurt erstaufgeführt. Seine Übersetzung changiert zwischen antiken Anklängen und modernem, direkten Sprachgebrauch („und ich weiß, dass mein Körper so wie er jetzt ist wirklich alles ist was mir geblieben ist und wenn er alt und unfickbar wird dann kann ich ihn genauso gut auch umbringen“).
Die belgische Regisseurin Julie Van den Berghe (* 1981) hat ein auf den ersten Blick schrill und grotesk anmutendes Spektakel gezaubert, das aber trotz aller äußeren Effekte und optischen Verstörungen großes Schauspiel bietet und unter die Haut geht.
Der Abend beginnt mit einem Vorspiel, einer intimen Liebesszene zwischen dem Königspaar Alkestis und Admetos. Schon wenn das Publikum den Saal betritt, sitzen sie eng umschlungen hinter einem Gazevorhang auf dem Boden. Ein weißer Stoffkranz formt ihr Liebesnest, das sich sodann zu einem riesigen Gebilde aufbläst, um in einer Bühnenbodenluke zu verschwinden. Vor dem Gazevorhang sitzt Viktor Tremmel als gesitteter Todesgott Thanatos (klassisch in schwarz gekleidet und mit Brille, ohne Hörner, aber mit teuflisch roten Pumps, kunstvoll gestalteten roten Fingernägeln und rot gefärbten Füßen) und liest zunächst eine Zusammenfassung der Tragödie vor, unterbrochen von kurzen Einlagen am E-Piano durch Virginia Goldmann (später u. a. auch als eine Nixe Rusalka/Arielle: eine weitere Frauenfigur, die ihr Leben aus Liebe zu einem Mann opfert) .
Plötzlich steht dann nur noch die Alkestis der Paula Hans in zentraler Position auf der Bühne, in einer Art Fetisch-Hochzeitskleid (weiß, aber angerissen und verschmutzt und mit einem mit Kabelbindern fixierten Korsett). Die Hände nach oben gestreckt, trägt sie nur am rechten Bein einen weißen Stiefel mit hohem Absatz. Mit dem linken Bein erreicht sie barfüßig gerade so den Boden. Ein Glucksen, Schluchzen und Stöhnen ist zu hören, eine Soundcollage wie aus einem Alienfilm (Musik: Berny Kloos). Dann eröffnet sie ihren großen Monolog mit einem deklamatorischen Aufruf an die Göttin und spricht voller Schmerzen im Ausdruck von ihrem nahenden Tod („heute steige ich hinab, in die Erde, noch heute Abend werde ich nichts sein, im Dunkeln, nichts im Tod…“). Dieser Monolog beinhaltet auch Auszüge aus dem bekannten Gedicht „Lady Lazarus“ von Sylvia Plath, in dem sie ihre Selbstmordversuche beschreibt (es ist größtenteils zweisprachig im Programmheft abgedruckt).
Dann kommt Thanotos höchstpersönlich um sie in den Hades zu geleiten. Er entkleidet Alkestis, nimmt das Leben aus ihrem zarten Körper und trägt den Leichnam behutsam davon. Dies ist hier eine ebenso bemerkenswerte dichte Szene, nicht zuletzt wegen der hohen darstellerischen Qualität.
Die Bühne von Lucas Devriendt ist, trotz Allgegenwärtigkeit des Todes, nicht schwarz gehalten, sondern ganz in Weiß (so wie der Übergang in den Tod auf Bühnen ja gerne als weißer Lichttunnel vermittelt wird). Sie zeigt Admetos Haus als weitgehend leeren großen Raum, nur eine Handvoll weiße Plastikstühle stehen am Rand. Der Raum ist von herabhängenden weißen Kunstoffbahnen eingesäumt, die lose als Säulen angesehen werden können. Im Hintergrund befinden sich die Schlafgemächer im schlichten Format eines Doppelbettes.
Manches erscheint zunächst oberflächlich oder albern, das trügt aber. Denn gerade die scheinbar heiteren Szene, wenn Admetos beispielsweise mit seinem Stuhl über die Bühne hüpft, sind Momente großen Ausdrucks persönlichen Leids. Oder wenn Britney Spears Hit „Baby One More Time“ erklingt und währenddessen dem Admetos die Alkestisim Traum erscheint, die ihn oral befriedigt. Das Lied handelt von einer vergangenen Liebe und der Liedtext („Hit me, baby, one more time“) kann durchaus mehrdeutig interpretiert werden.
Als König Ametos ist Nico Holonics nur stimmlich zu erkennen. Auch er trägt eine Art kurzes weißes Fetisch-Hochzeitskleid (dass er am Schluss auszieht, um sich ganz der wiedererwachten Alkestis hinzugeben) und nur einen weißen Stiefel (korrespondierend am linken Bein). Seine Maske hat lediglich zwei lange Haarbüschel und ist ein famoser Ausdruck seines Leids. Dazu ist sein, wie auch Alkestis`, Gesicht von Leid und Schmerz gezeichnet: Dunkel und rot die Augenpartien, blutverschmiert die Mäuler, so als hätten sich die beiden gerade gegenseitig aufgefressen.
Mehr als Farbtupfer sind auch die anderen Figuren (die meisten tragen auch nur einen Schuh). Heidi Ecks als nüchtern kommentierende Mutter von Admetos in einem fürstlichen Galakleid, im dunklen Anzug mit Fliegermütze der nachdenklich gestimmmte Vater Pheres des Peter Schröder. Der starke und mächtige Herakles des Björn Meyer trägt einen athletischen Ringeranzug in blau und ein goldenes Jackett mit verschnürten Ärmeln. Apollo, Gott der Musik und der Medizin, verkörpert mit viel Spielfreude und deutsch wie englisch sprechend sowie an der ER-Gitarre, Justus Pfannkuch vom SCHAUSPIELstudio. Unter seinem schwarzen Mantel trägt auch er einen Ringeranzug, allerdings in lila und eine gewisse Erwartungshaltung des Publikums widerspiegelnd: mit einer „Büchs in der Büchs“. Die Kostüme stammen vom Kreativ-Label MAISON the FAUX (Joris Suk und Tessa de Boer), einem Grand Couture Fashion House, das Mode für Menschen entwirft, die offen genug sind, um sich durch die oft engstirnige Welt frei zu bewegen. Schließlich gibt es auch ein paar wenige live Videoprojektionen, allerdings ohne nachhaltige Wirkung.
Der Abend endet, wie er gewissermaßen begonnen hat, mit einem Aufschrei der widererweckten Alkestis. Jetzt nicht an die Göttin, sondern mit dem Ausruf „Ich bin die Mutter“. Ein lediglich dezenter Hinweis auf das glückliche Ende. Viel Applaus.
Markus Gründig, Dezember 16
Cinderella
English Theatre Frankfurt – Plays for young audiences
Besuchte Vorstellung: 11. Dezember 16 (Premiere)
Früher hat die aus Südafrika stammende Lea Dunbar bei den Drama-Club Produktionen des English Theatre Frankfurt mitgespielt, inzwischen hat sie von Michael Gonzar die Leitung der Theaterpädagogik des English Theatre Frankfurt übernommen. Bereits im Februar inszenierte sie hier Roald Dahls The Witches. Jetzt setzte sie einen deutschen Klassiker, der auch im Ausland sehr populär ist, in Szene: Das Aschenputtel-Märchen der Gebrüder Grimm.
Lea Dunbar entwickelte eine eigene Bühnenfassung für das Frankfurter Publikum, mit lokalen Bezügen, viel Musik (von sanften Balladen, über Anklänge von Madonnas „Vogue“ bis hin zu „Jingle Bells“ und „We wish you a merry Christmas“) einem Erzähler (David Morrow) und lediglich vier Darsteller. Sie hat die alte Geschichte behutsam in die Moderne übertragen. So will Cinderella ein „Harry Potter“ Buch lesen und trägt beim Ball des Prinzen zeitgemäß goldene Sneaker.
Gespielt wird für ein junges und jung gebliebenes Publikum. Die kurzweiligen 65 Minuten Spieldauer stimmen mit Gesang und Spiel wunderbar in die Weihnachtszeit ein. Denn die Geschichte der jungen Cindy, die von ihrer Stiefmutter als Haushaltskraft ausgenutzt wird und dennoch ihren Traumprinzen findet, macht auch heute noch die Herzen weit. Und so herrschte große Begeisterung im English Theatre, die ganze Aufführung über.
Cinderella nutzt das Bühnenbild der aktuellen Abendproduktion Spamalot, mit einer handvoll Gegenstände (Requisite: Dirk Conrad). Und mit einem „Spamalot“-Song geht es auch gleich los. Bis der am E-Piano sitzende Weihnachtsmann (auch David Morrow, als musikalischer Leiter) dezent darauf hinweist, dass hier etwas nicht stimmt. Aus der Not wird gewissermaßen eine Tugend gemacht und mit tatkräftiger Unterstützung des Publikums entsteht dann doch eine fabelhafte Cinderella-Aufführung. Zunächst wird die Rollenverteilung festgelegt, was bei der Fairy Godmother zum Streitpunkt gerät, denn zwei wollen diese Rollen spielen. Also darf das Publikum entscheiden.
Und weil es mehr Rollen als Darsteller gibt, gibt es zudem Doppelbesetzungen.
Oliver Kubiak gibt so nicht nur den strahlenden Prince Charming, sondern im Fummel auch eine der gut gelaunten, aber bösen Stiefschwestern (Candy). Sophia Ansbach ist die andere böse Stiefschwester Mandy (nicht minder gut gelaunt und auch die Sally Snoop). Der Inszenierungsidee das Publikum stark einzubinden folgend, wird die Rolle der Titelfigur Cinderella quasi aus dem Publikumssaal heraus besetzt. Laura Palys gibt eine vermeidliche Technikmitarbeiterin des Hauses, die sich kurzerhand bereiterklärt, die Cindarella zu spielen. Das macht sie mit anrührender und überzeugender Herzlichkeit. Clou der Inszenierung ist wiedereinmal James Morgen, der mit seiner direkten Art, seinem stilsicheren Outfit (Kostüme: Melanie Schöberl) und seiner charmanten, direkten und witzigen Art sowohl als bitterböse Stiefmutter, wie als gute Fee, zum absoluten Publikumsliebling gerät.
Wenn schließlich Cinderella im weißen Hochzeitskleid am Arm ihres Prinzen erscheint, freuen sich junge wie jung gebliebene Zuschauer mit ihr.
Kräftiger Applaus.
Markus Gründig, Dezember 16
Kein schöner Land
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 19. November 16 (Premiere)
Als heiter musikalisches Familientableau in vier Akten beschreibt Kein schöner Land einen Super-GAU. Ein riesiger Komet wird auf die Erde stürzen und alles menschliche Leben vernichten. Wie eine durchschnittliche deutsche Familie damit umgeht, zeigt Lydia Steier mit kurzweiligen 90 Minuten (ohne Pause) mit ihrer ersten Theaterinszenierung. Bisher hat die gebürtige Amerikanerin vor allem mit ihren Operninszenierungen für Aufsehen gesorgt. Wie zuletzt mit Donnerstag aus Licht am Theater Basel, das von der Zeitschrift „Opernwelt“ zur Aufführung des Jahres 2016 gewählt wurde. Am Staatstheater Mainz inszenierte sie bereits im November 2012 Franz von Suppés Operette Fatinitza und im Januar 2015 den Überraschungserfolg Perelà – Uomo di fumo (von Pascal Dusapin). Am 14. Januar 2017 wird dort zudem ihre Inszenierung von Christoph Willibald Glucks Armide Premiere feiern.
Kein schöner Land ist ein knallbunter und mitunter skurril anmutender Theaterspaß (aber nicht so überzogen wie bei beispielsweise bei Jürgen Kruse). Er entstand in Kooperation mit den EUROPA KULTURTAGEN der Europäischen Zentralbank, die dieses Jahr Deutschland in seinem Facettenreichtum thematisieren.
Es wird viel gesungen, querbeet durch die unterschiedlichsten Stile. Von Johann Sebastian Bach (Arie „Heute wirst du mit mir im Paradies sein“ aus der Trauerkantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ BWV106), über Richard Wagner („Mild und leise“, Auszug aus Isoldes Liebestod) und Paul Abraham („Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände“ aus Victoria und ihr Husar) bis hin zum Schlager (wie Helge Schneiders „Käsebrot“). Gesungen wird von den sechs Darstellern, auf unterschiedliche Art und Weise und stets auf Deutsch. Wobei ausgesprochener Schöngesang natürlich nicht beabsichtigt ist, schließlich ist der Abend kein Konzert. Dennoch sind die siebzehn Gesangsnummern ein Erlebnis, da sie individuell für diesen Abend von Niclas Ramdohr arrangiert wurden und live von einer kleinen Band gespielt werden (Niclas Ramdohr, Ilja Köster, Sebastian Nitsch, Martin Standke) und eben sehr kunstvoll ertönen.
Die handlungstragenden Texte zwischen den Songs stammen von Frederik Laubemann, nach einer Outline von Lydia Steier (grob angelegt an Michel de Ghelderodes La Balade du grand Macabre). Sie bieten tagesaktuelle Bezüge und viel pauschale Aussagen.
Die vorgelagerte Bühne von Flurin Borg Madsen zeigt ein offenes Einfamilienhaus. Mit Wohnküche, Kinderzimmern und dem Schlafzimmer der Eltern. Davor befinden sich eine Straße (nebst Fahrbahnmarkierung), ein Abfallbehälter und viele Säcke Müll. In diesem Bereich haust der Landstreicher Hobo (ungewohnt schrullig: Till Weinheimer). Er ist zwar nicht Teil der Familie, wird aber zumindest durch deren Tochter Lilly hin und wieder unterstützt. Diese gibt im pinken Outfit Carina Zichner. Ihren Bruder, Sportskanone Peter, verkörpert Owen Peter Read (Mitglied des SCHAUSPIELstudio). Er ist hier die interessanteste Figur, da er im Angesicht der bevorstehenden Krise der Wahrheit ins Auge schaut und sich, koste was es wolle, für seinen Weg entscheidet, auch wenn er dadurch beim Vater unten durch ist. Dieser hat hehre Ansprüche, hat aber selber reichlich dunkle Seiten (vielschichtig: Robert Gallinowski). Die Mutter bemüht sich redlich, scheint aber selbst vom Leben überfordert zu sein. Die großartige Franziska Junge zeigt sie mit künstlichem Hüftvolumen (Kostüme: Alfred Mayerhofer ) als biedere reife Frau, die jedoch zumindest für ihr eigenen Glücksgefühle zu sorgen weiß (wenn sie schon keine Lust mehr auf ihren Mann hat). Als ausgebildete Sängerin verleiht sie ihren Songs eine besonders zarte Melancholie. Die gute Fee Olfo im Hause verkörpert sich stets treu bleibend (und Kopftuch tragend, auch wenn alle anderen ihre wahre Identität zeigen) Yodit Riemersma. Als Nachrichtensprecher ist der Fernsehmoderator Roberto Cappelluti auf kleinem Bildschirm zu sehen.
Das ungewohnte Format schien dem Premierenpublikum neu, so gab es keinen Zwischenapplaus, den manche Nummer durchaus verdient hätte. Dies wird sich bei künftigen Aufführungen sicher bessern, denn einen gewissen Kultfaktor bietet das Stück durchaus. Zumindest am Ende viel freundlicher Applaus.
Markus Gründig, November 16
Der kalte Hauch des Geldes
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 11. November 16 (Premiere / Uraufführung)
„Wir suchen das Glück, das ist unser Programm“
Ein jeder träumt von seinem kleinen bisschen Glück, strebt nach einem finanziellen Polster, um sich auch morgen noch ein wenig Komfort oder Luxus leisten zu können. Die Macht nach mehr führt aber auch, im Kleinen wie im Großen, zu immer kurioseren Stilblüten. Schlagzeilen der letzten Zeit („Abgasskandal“, Finanz- und Bankenkrise etc. pp) verdeutlichen, dass das kapitalistische Finanzsystem als Brandbeschleuniger für Boom und Krise werden kann. Nicht zu vergessen, das Ungleichgewicht. Wohlstand auf der einen Seite, stehen Armut, Ausbeutung (von Menschen und Natur) und Kinderarbeit auf der anderen Seite gegenüber. Von daher ist es unabdingbar, das System immer wieder zu hinterfragen. Und das Theater bietet dafür einen ganz besonders guten Rahmen. Autor und Regisseur Alexander Eisenach (früheres Mitglied des REGIEstudio und des AUTORENstudio am Schauspiel Frankfurt) nutzt es für sein neuestes Stück auf genialische Weise. Bei seinem „Finanz-Western“ Der kalte Hauch des Geldes verbindet er die spielerischen Möglichkeiten modernen Theaters mit einem vielschichtigen Text (von ihm selbst verfasst), der konkret eine Geschichte erzählt, gleichzeitig aber unser System kritisch zur Disposition stellt und Fragen für mögliche Utopien stellt. Es ist ein unterhaltsames Schauspiel, bei dem Slapstick und gesellschaftskritische Theorien eine wunderbare Synthese bilden und belegen, wie aktuell Theater sein kann. Chapeau Mr. Eisenach!
Schon das gut zweistündige Stück mit Pause zu geben, macht aufmerksam (ist man sich doch wohl schon im Vorfeld darüber klar, dass das Publikum in der Pause nicht gehen wird). Der „Finanz-Western“ spielt dann auch tatsächlich im Wilden Westen der USA. Die Eisenbahn dringt unaufhaltsam in immer weitere Gebiete vor. In Gegenden, wo die einstigen Goldquellen längst versiegt sind. Dementsprechend wird der Abend mit einer kurzen Eisenbahnfahrt eröffnet und dann ist man plötzlich im Wilden Westen angekommen. Im kleinen Ort El Plata (übersetzt: Das Silber), im Saloon der resoluten Marisol (anklagend und kämpferisch: Verena Bukal), die sich an die Gesetze der Männerwelt angepasst hat und mit Alkohol und leichten Mädchen die Nöte der Männer bedient und damit ihr Geschäft macht, auch und gerade in schlechten wirtschaftlichen Zeiten.
Dorfmogul Baxter (passend verwegen: Christian Kuchenbuch), Sheriff Logan (ihm reicht ein charmantes Lächeln, um groß zu wirken: Christoph Pütthoff) und der ehemalige Kopfgeldjäger Sneaky Sam (als Haudegen sehr präsent: Lukas Rüppel) zocken, bis ein tougher Fremder mit dem Namen Nomoney (vom SCHAUSPIELstudio, vielseitig: Sina Martens) auftaucht, sich erst einmal zwei rohe Eier mit Schnaps einfährt und dann anfängt, unangenehme Fragen zu stellen. Aber das Leben in La Plata wird auch von innen bedroht. Baxter, der, wie Marisol zu Beginn detailliert schildert, wie er genau hier vor acht Jahren die erste Goldquelle aufgespürt hat, ist inzwischen ein reicher Mann. Doch die Geschäfte laufen schlecht, viele Goldminen sind inzwischen wieder dicht und nun rückt auch noch die Eisenbahn immer näher. Und damit die Zivilisation mit ihren Auflagen und Gesetzen. Da ist nicht nur das beliebte Glücksspiel bedroht. Baxter wäre aber nicht der Baxter, wenn er nicht einen Ausweg wüsste. Wenn es hier kein Gold mehr gibt, sei‘s drum. Dann verkauft er eben die Hoffnung darauf und entwickelt daraus ein Derivaten-Modell. Dann wird statt dem Fremden auch noch ein unschuldiger Musiker (Singer Songwriter Boo Hoo alias Bernhard Karakoulakis, der die Westernatmosphäre mit seinen ruhigen Folkballaden emotional untermalt) rücksichtslos ermordet und bei einer wilden Schießerei jeder gegen jeden, wird mächtig viel Pulver verschossen.
Nach der Pause herrscht eine gewisse postkapitalistische Atmosphäre. Ein Bühnentransparent vermittelt eine winterliche Naturlandschaft mit ein paar wenigen Höhlen. Nur in der Ferne sind die Umrisse einer Burg zu erkennen: einer Finanzhochburg (trefflich gestaltet aus Bleistiftspitzen). Nachdem vor der Pause das ganze Pulver verschossen wurde, geht es jetzt im kürzeren zweiten Teil besinnlicher zu. Unter beschaulichem Schneefall ist vom schönen Wilden Westen jetzt nichts zu spüren, Dunkelheit und Kälte beherrscht die Szenerie, der kalte Hauch des Geldes ist förmlich zu spüren.
Die Bühne von Daniel Wollenzin zeigt einen schönen, modern angehauchten Saloon (inklusive Schwingtür und zwei Spucknäpfen). Eingerahmt in die bühnenbeherrschende Bar mit vielen Whiskyflaschen ist eine große Leinwand, die für Livevideoprojektionen genutzt wird. Und diese kommen hier richtig gut rüber, sowohl in ihrer Quantität, wie in der Größe und Qualität. Die Kamera (Live-Kamera: Oliver Rossol) ermöglicht auch Bilder von dem Geschehen hinter der Bühne, wie die anfängliche Eisenbahnfahrt oder später die Szenen in Nomoneys Herbergszimmer. Wertvoll ist vor allem aber die Möglichkeit, sich ganz nah an die Darsteller heranzuzoomen. Dadurch entstehen ganz außerordentliche Filmbilder. Beispielsweise bei dem intimen Gespräch bei Kerzenschein zwischen Baxter und Sheriff Logan, oder bei der Annäherung zwischen Marisol und Nomoney. Für eine passende Westernatmosphäre sorgen mit Kleid (für Marisol), Colts, Hüte und Westen für die Herren, zudem die Kostüme von Julia Wassner. Nomoney ist am Ende erkenntnisreicher und kann ohne Duell im goldenen Anzug und auf High Heels abgehen.
Die Dialoge durchziehen aufwühlende Fragen zum Gemeinwohl, die fast schon in einen Grundkurs über moderne Finanzprodukte enden. Bei aller kunstvoller und verspielter Sensibilisierung über die Gefahr des Kollabierens des kapitalistischen Systems und der Suche nach Alternativen, mündet das Stück aber nicht ins Thema Sozialismus. Es unterhält und regt zum Nachdenken gleichermaßen an. Denn wir alle „suchen das Glück, das ist unser Programm“.
Großer Jubel beim Publikum.
Markus Gründig, November 16
Projektionen ~ Performanceprojekt mit jugendlichen Neu- und Alt-Frankfurter/innen
Schauspiel Frankfurt ~ Junges Schauspiel (im Deutschen Architekturmuseum)
Besuchte Vorstellung: 6. November 16
Zerstörte Häuser, seien es durch Kriegsgewalt (wie in Aleppo) oder durch Naturgewalt (wie in Zentralitalien) sind uns ein gewohnter Anblick, aus den Nachrichten. Doch was hat es mit Zerstörung auf sich? Ist sie nur schlecht oder birgt sie nicht auch die Chance für einen Neuanfang?
Beim neuesten Jugendprojekt des Schauspiel Frankfurt, das in Kooperation mit dem Deutschen Architekturmuseum entstand, gehen zwölf Jugendliche auf eine Erkundungstour, um über Begriffe wie Ängste, Sicherheit, Mauern und Zerstörung zu reflektieren. Damit es nicht bei einem abstrakten Theoretisieren bleibt, wird schon zum Beginn an kleinen Modellen gebastelt. Ort des Geschehens: das Auditorium des Deutschen Architekturmuseums (DAM). Dieses bietet mit seiner, einem Baldachin nachempfundenen, Architektur einen treffenden äußeren Rahmen, „denn dort, wo der Mensch vier Stützen und ein Dach errichtet, findet er Geborgenheit und seine Identität, indem er sich gegen die ungeschützte Weite des Raumes abgrenzt“ (DAM).
Theaterpädagogin Martina Droste, bildender Künstler und Kunstvermittler Jorma Foth und der aus dem Irak geflüchtete Filmemacher Shaho Nemati haben mit den zwölf Jugendlichen Marieke Eisenkrämer, Lucia Gauss, Lena Neckel, Lena Roth; Haian Al Mhithawi, Ramón Böhme, Sameer Kareemi, Tim Keller, Maximilian Mainusch, Sia Moeini, Q. und Majd Shalgeen ein Performanceprojekt erarbeitet, kein Theaterstück. Hierbei handelt es sich um Jugendliche mit und ohne Fluchthintergrund. Die Zuschauer sitzen an den Mauern des Auditoriums, die Akteure basteln zunächst in kleinen Gruppen. Was sie da basteln, wird erst im Laufe des Abends deutlich. Sie tragen alle weiße Kleidung, die nicht nur mit den weißen Wänden des Auditoriums korrespondiert, sondern auch eine gewisse Unschuld und Unvoreingenommenheit ausdrückt (Kostüme: Katja Quinkler).
Die innerhalb von acht Minuten gefertigten Gegenstände sind kleine Modelle. Für sich betrachtet, ergeben sie zunächst wenig Sinn. Doch wenn die Jugendlichen dann darüber nachdenken, was einen glücklich macht und welche Bedeutung Ängste haben können, verdeutlichen die kleinen Kunstwerke plötzlich viel mehr. Eine kleine Box aus Spiegeln reflektiert die Angst, die jeder in der einen oder anderen Form mit sich trägt. Eine geschnitzte offene Hand auf der ein kleines Bett steht, verbindet eine Jugendliche mit Kindheitserfahrungen. Bei einem Objekt wird gestritten, ob es sich nun um ein christliches Kreuz oder um eine Vogelscheuche handelt und ein mit zahlreichen kleinen Holzpfählen versehener Zylinder steht für unser Gehirn und die unbewussten Ängste darin.
Zwischen den Erörterungen werden nicht nur Bilder einer verlassenen und heruntergekommenen Schuleinrichtung auf die Wände projiziert, sondern auch Livebilder aus dem Auditorium, die mittels einer kleinen gebastelten Kamera eingefangen werden. Oder Bilder vorüberziehender Vögel (grenzenlose Freiheit schlechthin). Die angesprochenen Begriffe werden gerne in Frage gestellt bzw. von unterschiedlichen Seiten betrachtet. So wie Wände, die nicht nur schützen, sondern auch abgrenzen. Und wie wäre wohl ein Haus ohne Wände? Eine Frage, die auch an das Publikum gestellt wird.
Es sind kurzweilige 70 Minuten, bei denen nicht nur nach konstruktiven Elementen in der Destruktion geforscht werden, sondern auch immer wieder Bezüge zu den konkreten Lebenserfahrungen der Protagonisten hergestellt werden.
Markus Gründig, November 16
Prinz Friedrich von Homburg
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 4. November 16 (Premiere)
Regisseur Thalheimer ist zurück in Frankfurt. Nach seinen Erfolgsinszenierungen von Ödipus/Antigone, Maria Stuart, Medea, Kleiner Mann, was nun? und zuletzt Penthesilea hat er sich nun weiteres Stück von Heinrich von Kleist vorgenommen: Prinz Friedrich von Homburg. Diesen Klassiker inszenierten hier zuletzt 1995 Amélie Niermeyer (mit Wolfram Koch in der Titelrolle) und 2006 Armin Petras (mit Robert Kuchenbuch als Prinz; das war die ausgefallene Inszenierung, die komplett im Regen spielte).
Nun also der Prinz in der Sicht von Michael Thalheimer und seinem bewährten Team. Viel schwarz im leeren Raum zeigt wieder einmal die Bühne von Olaf Altmann. Sie versinnbildlicht mit geschickt ausgeleuchteten verkürzten Seitenwänden (Licht: Johan Delaere) preußisch akkurate Geradlinigkeit. Überraschend wirkt der Einsatz der großen Drehbühne, die von einer schnörkellosen Rotunde eingerahmt ist. Effektvoll wird im Laufe des Abends der Boden der Rotunde dem Prinzen unter den Füßen weggerissen, sodass er wie eine Marionette in der Luft hängt (was ein treffendes Bild für seine isolierte Situation zwischen Held und angeklagtem Kriegsverbrecher darstellt). Die im Stück omnipräsente Frage, Traum oder Wirklichkeit? erfährt in diesem dunklen Nichts mit etwas Rauch eine fast schon mystische Atmosphäre. Diese wird mit leisem Getöse untermalt, das bei der Schlacht von Fehrbellin mit ohrenbetäubenden Kanonenschlägen gehörig aufbraust (Musik: Bert Wrede). Die fünf Akte werden, leicht gekürzt, ohne Pause gespielt, in gut 100 Minuten (bei Petras waren es 120, bei Niermeyer 150 mit einer Pause).
Der Prinz ist von Anfang an der Welt entrückt. Schon vom Kleidungsstil her, trägt er doch ein Totenhemd statt einer Uniform, so wie es zumindest angedeutet der Graf Hohenzollern (vehement: Stefan Konarske), der Feldmarschall Dörfling (engagiert: Michael Benthin) und Obrist Kottwitz (wortstark: Martin Rentzsch) tun (Kostüme: Nehle Balkhausen). Dieser Prinz, von Felix Rech rhetorisch stark und feinfühlig und mit großem körperlichen Einsatz gespielt, ist in seiner Flatterhaftigkeit ein rechter Träumer und alles andere als eine Kämpfernatur. Wolfgang Michael gibt in der ihm eigenen Art Friedrich Wilhelm, den die Staatsräson einfordernden Kurfürsten von Brandenburg, einen etwas gelangweilt wirkenden, daher schlurfenden Herrscher. Vom SCHAUSPIELstudio ist Alex Friedland als Rittmeister von der Golz mit von der Partie.
Corinna Kirchhoff zeigt mit starker Präsenz eine anrührend leidende und zagende Kurfürstin. Einen guten Eindruck bei ihrem Hausdebüt macht Yohanna Schwertfeger als Prinzessin Natalie von Oranien. Diese ist hier der Staatsräson letztlich nicht gewachsen und schneidet sich deshalb effektvoll die Kehle durch (ansonsten gibt es zwar viel blutverschmierte Körper und Kleidung, aber kein offenes Blutvergießen auf der Bühne).
Viel freundlicher Applaus für eine Inszenierung, die mit schönen Bühnenoptiken aufwartet und sich vor allem auf die Titelfigur konzentriert.
Markus Gründig, November 16
Ich hätte gern den Charme von Adriano Celentano
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 16. Oktober 16
Die Menschheit in ihrer jetzigen Ausprägung befindet sich nicht nur in einer gesellschaftspolitischen Sackgasse, sie steuert geradewegs auf ihren Untergang zu. Was ist da zu tun, was kann der Einzelne ändern, um die Welt zu retten? Danach fragt Roscha A. Säidow in ihrem neuesten Stück. Sie ist seit der der vergangenen Spielzeit Stipendiatin des AUTORENstudio am Schauspiel Frankfurt. Für dieses schrieb sie jetzt Ich hätte gern den Charme von Adriano Celentano. Das Stück wurde unter ihrer eigenen Regie nun in der Spielstätte Box uraufgeführt. Hier hatte Säidow bereits im Dezember 2012 Philipp Löhles Genannt Gospodin inszeniert, ein Stück das auch die Themen Globalisierung und kapitalistische Gegenwart beinhaltet.
Zu Beginn sitzen drei Personen kopfüber in Weltraumanzügen und Schutzhelmen (Kostüme: Jelena Miletić, Helmbau: Ivana Klickovic) auf einer Bank an einem Tisch (Bühne: Daniel Wollenzin). Mit Schläuchen und Kabel sind sie mit der Raumfähre verbunden, in deren Innerem sie sich befinden (auch wenn es eher wie ein altes biederes Wohnzimmer aussieht). Dann ertönen aus Lautsprechern Stimmen und Geknister, seitlich positionierte Ventilatoren und Scheinwerfer gehen an, ein Countdown beginnt: ten, nine, eight… Und stoppt bei two. Der Start wurde abgebrochen, wie es scheint, nicht zum ersten Mal. Vier LED-Spots, die eine Kuckucksuhr in einer Glasvitrine umsäumen, leuchten auf, eine freundliche Frauenstimme weist darauf hin, dass jetzt eine frische Sauerstoffbrise eingelassen wird (ein bayerischer Alpenbrisenduft, wofür der Helm abgenommen werden kann), schon bald folgt die erste Mahlzeit (vegan und irgendwie aus recht viel Chemie), wofür sich drei Klappen öffnen. Dies geht so eine ganze Weile: Essen, Sauerstoffzufuhr, virtuelle Entspannung und ständige Fehlstarts. Irgendwann kommen dann doch Zweifel auf, bleibt es nicht bei oberflächlichen Floskeln. Was geht hier wirklich vor? Wer hat die Finger im Spiel und wie viel Selbstbestimmung bleibt noch?
Panik und Verzweiflung erfasst sie, schließlich machen sie das hier schon seit zwei Wochen mit. Das anfänglich hoch gelobte harmonische Zusammenleben dieser drei unbedeutenden Hobbyastronauten geht gehörig in die Brüche. Wie auch das Experiment in Frage gestellt wird, wie das Leben als Ganzes, so losgelöst von der Natur, wie es heute gelebt wird (wo beispielsweise die wenigsten einen Wald mal wirklich betreten haben), gealtert und nutzlos für die Gesellschaft.
Und was hat es mit der Organisation STA ~ Space To All auf sich? Tobt nicht um sie herum ein Krieg? Warum gibt es keine Antworten von außerhalb, obwohl doch überall Überwachungskameras sind? Sind sie nur Versuchskaninchen?
Dies alles lässt sich freilich auch auf das heutige Dasein übertragen. Die angesprochenen Grundfragen haben Potential für tiefergehende Betrachtungen, hier bleibt es bei pauschalen und oberflächlichen Argumenten und jeder kann anschließend für sich die Gedanken weiterführen. Der Verlust von Lebensutopien wird hier unterhaltsam beschrieben, wofür die drei Darsteller Heidi Ecks, Alexandra Lukas und Justus Pfankuch (die beiden letzteren sind vom SCHAUSPIELstudio) mit großer Spielfreude sorgen. Der Stücktitel ist dabei das Zitat der jungen Sarah, die gerne den einzig wahren Schlüssel für das Glück hätte, so wie Andriano Celentano für ein unbeschwertes Leben steht (der ja eher aus dem Zeitalter ihre Eltern bzw. Großeltern stammt).
Viel Applaus.
Markus Gründig, Oktober 16
Safe Places
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 8. Oktober 16 (Premiere)
Das ist schon bemerkenswert: Tosender Applaus bei einer Stückuraufführung, wie es jetzt bei der Premiere von Falk RichtersSafe Places im voll besetzten Schauspielhaus (das bekanntlich 680 Plätze bietet) passierte. Dabei erzählt der Dramatiker und Regisseur Falk Richter noch nicht einmal eine klassische Geschichte. Schlimmer noch. Statt die Zuschauer in eine fremde Traumwelt zu entführen, konfrontiert er sie mit der europäischen Tagespolitik. Und doch erlebt der Zuschauer einen herausragenden Abend.
Falk Richter, der im vergangenen Jahr in der Spielstätte Bockenheimer Depot den Abend Zwei Uhr nachts gestaltete, arbeitete für Safe Places Hand in Hand mit der Choreografin Anouk van Dijk zusammen (beide zeichnen für die Regie verantwortlich). Und sie verbinden hervorragend vier Schauspieler und sechs Tänzer zu einem harmonischen Ganzen, zeigen dem Zuschauer, dass wir alle Europa sind und dies mehr als nur ein pauschale Aussage ist.
Imposant ist die Bühne. Nicht wegen ihrer ausgefeilten gestalterischen und technischen Ausführung (wie zuletzt bei Königin Lear), sondern schlicht, weil sie in ihrer vollen Breite und nahezu voller Tiefe zu sehen ist. Im hinteren Bereich deutet eine kleine Hügellandschaft und ein paar Bäume Europa an (Bühne: Katrin Hoffmann). Davor bilden ca. zwanzig aufgestellte quadratische Bürotische eine Art Laufsteg, der zu Beginn in einem hohen Tempo vom Ensemble tänzerisch erklommen wird und schon hier verdeutlicht, dass Europa auf der Kippe steht. Einzelne stürzen ab, fangen sich wieder, kämpfen miteinander, finden zueinander. Verschiedene Szenarien werden in kurzen Miniaturen gespielt. Danach folgt unter dem Titel „Auf dem Weg in den Bürgerkrieg“ ein zunächst etwas theoretisch anmutender Diskurs über die Fragen, die die Menschen heute angesichts der Flüchtlingsproblematik, Brexit und dem drohenden Zerfall Europas bewegen. Hierzu sitzen die vier Darsteller Constanze Becker, Paula Hans, Nico Holonics und Marc Oliver Schulze an bzw. auf den Tischen und diskutieren (um das, was uns und unsere Werte auszeichnet, über das Ankommen im 21. Jahrhundert, um politische Vielfalt im Freistaat Bayern, die Kölner Silvesterübergriffe). Dabei wird aber auch ein Blick auf die Flüchtlinge gelegt. Dass es nicht ausreicht, mit Teddybären nach ihnen zu werfen. Themen sind zudem die verweichlichten deutschen Männer, die Traumata der Geflohenen und die Integration der Ostbürger
Im weiteren Verlauf wechseln tänzerische Einlagen (mit starker Musik von Malte Beckenbach) mit klassischen Sprechszenen. Diese sind oftmals Monologe. Wie der von Constanze Becker bei „Festung Europa“ („Ich bin Europa“, größtenteils auch im Programmheft abgedruckt), bei der sie zunächst die dunklen Seiten der europäischen Geschichte und Gegenwart schlagwortartig auflistet, oder Marc Oliver Schulzes Aufruf zu einer Bestandsaufnahme und dem Wunsch, sich durch eine „Firewall“ gegen die toxischen Inhalte zu schützen und eine tragfähige Lösung zu finden. Dass wir gerne unser (altes) Brot für die Welt geben, dient Constanze Becker als ironische Anspielung auf die deutsche Vielfalt und Komplexität, der es sich gefälligst anzuschließen gilt. Paula Hans zeigt das Bild einer Überforderten und spricht über Räume der Gewalt, die möglicherweise nicht mehr geschlossen werden können. Nico Holonics verweist auf die Seite der Deutschen, die sich über rechte Strömungen im eigenen Umfeld echauffieren („Die Menschheit minus 1“).
Es sprechen auch die aus vielen verschiedenen Ländern kommenden Tänzer, als Stimme der Anderen (zunächst untermauert vom Geräusch eines sich drehenden Hubschrauberrotors als Ausdruck der massiv auf sie einwirkenden Umwelt): Vom Unverständnis über die Deutschen und die komplizierte Situation, wo sie doch dringend Einfachheit, Klarheit und Ruhe benötigen. Später haben sie Gelegenheit, sich zum Thema „Wo fühle ich mich sicher“, auch eine persönliche Seite von sich vorzustellen (was zugleich der emotionalste Teil des Abends ist). Die Tänzer sind: Joel Bray (Australien; Aborigine), Luca Cacitti (Italien), Tímea Kinga Maday (Ungarn), Shay Partush (Israel), Christopher Tandy (Wales), Nina Wollny (Deutschland) und Yen-Fang Yu (Hongkong; „Little China“). Und gewissermaßen ist auch Nico Holonics hier hinzuzuzählen, ist der Schauspieler doch auch bei vielen Tanzszenen mit von der Partie (ohne aus der Puste zu kommen).
Unter dem pathetischen Titel „Tod fürs Vaterland“ und dem ironischen Song „Deutschland braucht Grenzen“ schließt der Abend (die Szene beginnt mit Constanze Becker als Engel des Todes; Kostüme: Daniela Selig), der ein gut gemachter und unterhaltsamer Aufruf ist sich zu entscheiden, ob diese Demokratie, diese pluralistische Gesellschaft, dieses Europa gewünscht ist.
Markus Gründig, Oktober 16
One for the Road / Der stumme Diener
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 7. Oktober 16 (Premiere)
Harold Pinter ist vielen Menschen durchaus ein Begriff, auch wenn kaum jemand einen Werktitel nennen kann. Der 1930 in London geborene Dramatiker hatte in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts seine größten Erfolge auf den Bühnen feiern können. In den gegenwärtigen Spielplänen sind, was britische Gegenwartsdramaturgen angeht, jedoch Namen wie Alan Ayckbourn, Michael Frayn, Simon Stephens oder Tom Stoppard angesagt.
So ist es als Verdienst dem Schauspiel Frankfurt anzurechnen, dass es jetzt zwei Einakter von Harold Pinter aus der Versenkung gehoben hat und einen Blick auf das besondere Werk Pinters richtet. In der Co-Regie von Jürgen Kruse (inszenierte hier bereits Leonce und Lena, Draussen vor der Tür und Seid nett zu Mr. Sloane) werden die beiden Einakter One for the Road / Der stumme Diener gezeigt (Co-Regie deshalb, da Kruse bekanntlich die Darsteller aktiv mit in den Inszenierungsprozess einbezieht).
Außerordentlich einnehmend ist zunächst die Bühnenoptik. Für One for the Road wurde eine große Kuppel aus Metallstreben geschaffen. Sie stellt nicht nur das Büro des Ermittlers Nicolas dar, sie wirkt gleichzeitig wie eine große Gefängniszelle und deutet mit ihren äußeren Verzierungen gar eine Weltkugel an (Folter ist nun einmal nicht lokal beschränkt). Innen steht ein buntes Sammelsurium an Einrichtungsgegenständen aus den 60ern (Bühne: Volker Hintermeier). Das Stück soll Pinter innerhalb einer Nacht geschrieben haben, nachdem er eine Gruppe von Frauen über die Situation von Gefängnisinsassen in der Türkei befragt hatte. „We love you“ der Rolling Stones ertönt zu Beginn lautstark. Diesen „we“-Song („We don’t care if you only love „we““) schrieben 1967 Mich Jagger und Keith Richard, nachdem sie wegen Drogendelikten verhaftet worden waren).
Auch wenn die beiden Folteropfer (ob seiner erlittenen Folterungen heftig Blut spuckend, der Victor des Isaak Dentler und seine blutüberströmte, geschundene zarte Frau Gila der Alexandra Finder) einige Sätze sprechen, wie auch deren Sohn Nicky (Daniel Kravtsenko), ist es letztlich ein großer Monolog des Nicolas. Und der ist bei Pinter, dessen frühe Werke vom absurden Theater inspiriert sind, sehr speziell. Oliver Kraushaar gibt ihn überzeugend und sehr facettenreich (nicht nur im Spiel, mit gezogenen und abgehackten Wörtern auch von der Aussprache her). Am Ende dieses Stückes (vor der Pause) herrschte bei der Premiere große Betroffenheit im Publikum und es gab kaum Applaus.
Für Der stumme Diener, uraufgeführt am Schauspiel Frankfurt 1959, wird die Kuppelkonstruktion nach hinten gerückt, zwei Betten und ein schaler Lastenaufzugsschacht davor platziert. Hier geht es jetzt nicht um etwas Politisches, sondern um zwei Auftragsmörder, die in einer Art Hotelzimmer die Zeit totschlagen und auf ihren nächsten Auftrag warten. Das Stück ist leichter zugänglich, es gibt sogar zahlreiche Lacher im Publikum. Hier lümmeln Ben (Isaak Dentler) und Gus (Oliver Kraushaar) herum und verhandeln ihre kleine Welt. Während Ben zum zigsten Mal die gleiche Tageszeitung liest und sich immer noch über einzelne Berichte amüsiert ereifert, leert Gus den kleinen Lastenaufzug (den „stummen Diener“), in dem ständig in Briefumschlägen Essensbestellungen landen, obwohl doch hier längst keine Restaurantküche mehr ist. Schließlich ist es soweit, ein neuer Auftrag ist da und Gus hat sich mit einem weißen Anzug richtig chic gekleidet (Kostüme: Raphaela Rose).
Freundlicher Applaus.
Markus Gründig, Oktober 16
Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran
oder warum das Gegenteil von Liebe nicht Hass, sondern Angst ist
theaterperipherie Frankfurt/M
Besuchte Vorstellung: 29. September 16 (Premiere)
Schon länger steht theaterperipherie nicht mehr ausschließlich für junge theaterbegeisterte Menschen mit Migrationshintergrund auf und hinter der Bühne. Das Theater hat sich weiterentwickelt, ist hinsichtlich der gewählten Themen offener geworden, ohne seine Wurzeln zu verleugnen, denn Theater ist für alle da, auch in der postmigrantischen Gesellschaft.
Eine bezaubernde theaterperipherie-Arbeit feierte jetzt Premiere: Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran oder warum das Gegenteil von Liebe nicht Hass, sondern Angst ist. Das Stück beruht auf dem im Jahr 2001 erschienenen Theatermonolog „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ des französischen Schriftstellers Éric-Emmanuel Schmitt (auch Autor von Oskar und die Dame in Rosa). Seine Werke wurden bereits in 40 Sprachen übersetzt und sollen sich mehr als zehn Millionen Mal verkauft haben. 2003 erschien eine Filmversion. Für seine Rolle als Monsieur Ibrahim erhielt Omar Sharif 2004 den César als bester Hauptdarsteller.
Der Reiz der theaterperipherie-Umsetzung ist die gelungene Bearbeitung der Vorlage durch Ute Bansemir und Jan Deck. Sie erzählen die rührselige Geschichte von dem jungen Juden und dem alten Moslem weiter und haben sie in kurzen Rückblenden dennoch integriert.
Ihr Stück fängt da an, wo es sonst aufhört. Im Laden von Moses/Momo, der ihn von Ibrahim geerbt hat (und in die Unendlichkeit übergegangen ist). Sie zeigen seinen ersten Tag im wiedereröffneten Laden. Und hier trifft der frischgebackene und hochmotivierte Jungunternehmer auf alte Kunden Ibrahims, die ihm den Start alles andere als leicht machen. Dabei nehmen sie den neuen Inhaber erst einmal kritisch in Augenschein. In witzigen wie besinnlichen Miniepisoden wird die Geschichte poetisch fortgeführt und dabei sind äußerst geschickt Inhalte der alten Geschichte eingebunden. Momos Besuche bei den leichten Damen fehlen ebenso wenig, wie eine rasante Autofahrt.
Das Stück ist allgemeingültig und religionsfrei ausgerichtet, auch wenn vereinzelt ein Koranzitat der Lebensweisheit fällt. Gespielt wird im frisch renovierten Laden von Momo. Ein hoher Bistrotisch, Regale, ein Sonnenschirm und eine kleine Theke. Mehr braucht es nicht (Ausstattung: Katja Quinkler). Und etwas Musik gibt es auch. Passend zu der Zeit, in der das Stück spielt, kommt sie aus einem kleinen Röhrenradio.
Unter der Regie von Ute Bansemir beginnt der Abend erst zurückhaltend, nimmt dann aber sehr schnell Tempo auf. Die vier Darsteller spielen dabei verschiedene Rollen.
Marcel Andrée gibt den Momo der Gegenwart, der inzwischen sein charmantes Lächeln professionalisiert hat und den erfahrenen Großmut von Herzen weitergibt (allerdings hinsichtlich seiner Geschäftstüchtigkeit noch Nachholbedarf zeigt). Als „Überraschungsgast“ und vermeintlicher Ladendieb tritt Ali Salman Ahmadi zunächst wortkarg, aber mit starker Präsenz, in Erscheinung, um dann später, inzwischen ist er Mitarbeiter im Laden geworden, die anderen mit seinen Fragen bloßzustellen. Hadi Khanjanpour gefällt als legerer wie spießiger und streitsüchtiger Kleinbürger, hinter dem sich auch Momos einsamer Vater verbirgt. Köstlich ist Christin Dietzel, als chaotische wie liebenswerte Frau und Mutter, die Kontakt zu ihrem früh abgegebenen Sohn sucht.
Nach pausenlosen 100 Minuten finden nicht nur zwei, die sich vorher übelst beschimpft haben, Respekt und Anerkennung füreinander, Ibrahim hat seinen Frieden gefunden und die „Blumen des Koran“ werden geteilt und weitergegeben. Ein herzlich ausgesprochenes „Guten Tag“ an die neue Kundschaft beschließt den Abend. Sehr viel Applaus für großes Theater im kleinen Rahmen.
Markus Gründig, September 16
Königin Lear
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 10. September 16 (Premiere)
Shakespeares Tragödie König Lear war zuletzt ab Dezember 2010 in der Inszenierung von Günter Krämer im Schauspiel Frankfurt zu sehen. Mit Tom Lanoyes Königin Lear zeigt das Haus nun einen gut gelungenen zeitgemäßen Blick auf diese Tragödie. Der niederländische Autor Lanoye hat die Geschichte nicht neu übersetzt, sondern neu für unsere Zeit geschrieben. Sein Stück wurde im März 2015 in Amsterdam uraufgeführt, am Schauspiel Frankfurt erlebte es jetzt seine deutschsprachige Erstaufführung (bei der der Autor auch anwesend war).
Im Zentrum steht, wie der Titel schon sagt, eine Frau. Die alternde, kranke aber auch überaus energische und von disziplinierter Strenge geprägte Elisabeth Lear führt das weltweit operierende Firmenimperium „Lear Incorporated“. Ihr Erbe soll auf die drei Söhne aufgeteilt werden. Und das endet in einer großen Katastrophe.
Die Handlung spielt auf mehreren Ebenen eines Hochhauses, wie es in Frankfurt sehr viele gibt (entsprechend zeigen Videoprojektionen noch vor Beginn unbekannte Ansichten Frankfurter Hochhäuser). Der abstrakte Bühnenraum von Daniel Roskamp ist eine sich verengende Tunnelröhre aus vielen quadratischen Platten. Dank LED- und Videotechnik entstehen daraus faszinierende Ansichten einer allumfassenden Matrix, ein Machtzentrum, wo alle Daten zusammenzufließen scheinen. Von Zwischenwänden abgesehen, gibt es keine weiteren Kulissen und auch kaum Requisiten.
Für die Inszenierung verantwortlich zeichnet Regisseur Kay Voges, dessen Inszenierung von Sarah Kanes 4.48 Psychose als Gastspiel des Schauspiel Dortmund hier im März 2016 zu sehen war und der sich im Dezember 2014 mit Tennessee Williams‘ Endstation Sehnsucht im Schauspielhaus mit viel riesigen Live-Videobildern erstmals vorgestellt hat.
Live-Videobilder gibt es auch bei Königin Lear, allerdings nicht mit einem Live-Kamerateam, sondern mit aufgestellten Kameras und zum Glück, längst nicht das ganze Stück über (Video: Robi Voigt). Die Musik beschränkt sich auf Soundgeräusche zwischen den Szenen (Musik: Paul Wallfisch). Der Wechsel zwischen den Szenen erfolgt mitunter recht hart.
In ihren schwarzen Anzügen, Sonnenbrillen und schwarzen Haaren, erinnern die Figuren zwangsläufig an die Matrix-Trilogie aus dem Kino (Kostüme: Mona Ulrich). So geheimnisvoll wie im Film geht es auf der Bühne aber nicht zu. Auf dieser wird ganz offensichtlich beleidigt, gelogen, geschleimt, gehasst und vernichtet.
Josefin Platt hat schon mit der Figur der Almut in Anita Augustins Der Zwerg reinigt den Kittel das Porträt einer alternden Frau gezeigt. Als Königin Lear legt sie nochmals einen drauf. Ihr ausgefeiltes Spiel zwischen Machtallüren und körperlichem und seelischem Verfall ist beeindruckend und tief berührend. Als treuester Freund des Hauses und dennoch verachteter Kent glänzt Peter Schröder vor allem mit seiner vorbildlichen Aussprache. Die drei erfolglosen Söhne, geben Viktor Tremmel (Lebemann Gregory), Lukas Rüppel (Nacheiferer Hendrik) und Carina Zichner (Verstoßener Cornald). Köstlich und mit bissigen Kommentaren bedacht, die Ehefrauen der beiden älteren Söhne. Franziska Junge als gebärfreudige Connie und Verena Bukal als kinderlose Alma. Owen Peter Read (SCHAUSPIELstudio) gibt den in allen Lagen anpassungsfähigen Pfleger Oleg.
Am Ende gab es für die bissige und mit grotesken Zügen umgesetzte gelungene Neugestaltung von Lear stürmischen Applaus, allen voran für die fantastische Josefin Platt in der großen Titelrolle.
Markus Gründig, September 16
Iphigenie
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 9. September 16 (Premiere)
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte
Auch die letzte Spielzeit unter der Intendanz von Oliver Reese verspricht wieder ein abwechslungsreiches Programm, großartige Schauspielkunst und Inszenierungen, die in ästhetisch ansprechenden Rahmen ungewohnte Sichtweisen auf Klassiker und neue Stücke bieten.
Einen furiosen Auftakt machte der Regie-Shootingstar Ersan Mondtag. Dieses Jahr wurde er mit seiner Arbeit Tyrannis (Staatstheater Kassel) zum Berliner Theatertreffen eingeladen und von der Zeitschrift Theater Heute zum Nachwuchsregisseur des Jahres, Nachwuchsbühnenbildner des Jahres und Kostümbildner des Jahres ausgezeichnet. In der Spielzeit 2013/14 war er Mitglied im REGIEstudio des Schauspiel Frankfurt.
In den Kammerspielen präsentierte er jetzt seine streitbare Sicht auf den Iphigenie-Mythos. Dies nicht nur frei von Texten und dem Humanismusideal aus Goethes Drama (Iphigenie auf Tauris), sondern mehr oder weniger frei von jeglichen Texten. Es wird zwar schon etwas gesprochen, dies meist chorisch, doch überwiegend ist das 75-minütige Stück eine handwerklich großartig gemachte, musikalisch untermauerte, nonverbale Performance in einem beeindruckenden Bühnenbild. Vielleicht wurde Mondtag ja von Dave St-Pierres Macbeth aus der Spielzeit 2014/15 inspiriert, der ja auch sehr wortarm performen ließ. Die Inszenierung ist eingebunden in die 6. Frankfurter Goethe Festwoche.
Mondtags Iphigenie beginnt mit einem Blick auf den Vorhang, auf dem in großen Lettern „ALLICANSEE“ steht, dass sich als „all i can see“ besser lesen lässt und die programmatische Sichtweise vorgibt. Die Darsteller sind zunächst teilweise hinter dem dünnen Vorhang zu sehen, eine tritt schließlich vor. Sie trägt, wie alle, zunächst einen Umhang, der an ein antikes Kleid anspielt (Kostüme: Raphaela Rose). In kaum verständlicher Sprache (altgriechisch) berichtet sie von Kassandras Prophezeiung. Dann spuckt der Boden eine, nur mit einem roten Badehöschen bekleidete, junge Frau aus, die sich mit qualvollen Schreien lange Minuten auf dem Boden wälzt und eine Art Todeskampf vollführt. Dies leitet dann zum imposantesten Bild des Abends über. Der Opferungsszene im taurischen Tempel der Artemis, wo Iphigenie ihrer Pflicht, alle Fremden auf ihren Tod vorzubereiten, nachkommt. Die Bühne von Stefan Britze besteht größtenteils aus einem mit Wasser gefüllten Becken. Die Wände erinnern an eine Tempelanlage. Mystisches rot herrscht vor und die Musik transferiert den Zuschauer direkt in diesen barbarischen Brauch im schönen Tempel der Artemis. Die Todgeweihten knien bereits und empfangen eine Salbung aus einem Krug. Diese Szene zaubert ganz großes Theater auf die kleine Kammerspielbühne. Doch sind nicht alle wie Schlachtlämmer, eine will sich nicht ihrem Schicksal fügen und kämpft bis zuletzt.
Es wird keine Geschichte erzählt, sondern Bilder des Mythos visualisiert, überwiegend die der brutalen Vernichtung und der Angst vor dem Fremden. Dabei entstehen immer wieder beeindruckende Szenen, die durch relativ kurze Textpassagen unterbrochen werden. Irritierend wirkende Texte des französischen Schriftstellers Gustave Flaubert, des lettischen Theaterallrounder Alvis Hermanis (der für Schlagzeilen sorgte, weil ihm die Refugee-Welcome Politik des Thalia TheatersHamburg mißfiel), des Philosophen Peter Sloterdijk, des rechtspopulistischen Publizisten Akif Pirinçci und von Marc Jongen (Philosophiedozent und stellvertretender Landesvorsitzender der AfD in Baden-Württemberg), u.a.: „Der Preis den wir zahlen um die Verbindung von Immigrationspolitik und Terrorismus endlich zuzugeben, ist der Tod von unschuldigen Menschen… ebenso wenig wie die Deutschen imstande sind ihre Frauen auf den Straßen zu beschützen, sind sie imstande ihr kulturelles Erbe zu bewahren..“.
Der Abend ist eine harte Nummer, für die Darsteller (Jan Breustedt, Sina Martens [Mitglied im SCHAUSPIELstudio], Björn Meyer, Sylvana Seddig, Kathrin Wehlisch) und für das Publikum gleichermaßen, denn tief sitzende Ängste brechen hier hervor, klagen an und suchen sich ein Ventil. Größten Anteil daran hat vor allem Sylvana Seddig, die einerseits ganz herzlieb gucken kann, andererseits aber mit großem körperlichen Einsatz die heftigsten Schmerzen aus ihrem zarten Körper herausholt, sei es anfangs vor der Opferung oder später an der Brust der Mutter.
Dies alles ist ausschließlich akustisch, musikalisch und visuell, aber ohne Text, zu erfahren, blutrünstig und brutal, wie es die Familiengeschichte Iphigenies nun einmal erzählt. Neben Clubsounds und zarten Streichermelodien (Musik: Max Andrzejewski), sorgt Yodit Riemersma als Sängerin (in Form der über alles wachenden Artemis) für emotionale Wärme, die szenisch nicht so sehr im Vordergrund steht. Im Quell des Lebens, des Wassers, wird hinterlistig und offensiv gekämpft, dass es nur so spritzt, doch auch geliebt, also zumindest so etwas wie gekuschelt.
Die sittliche Überlegenheit, für die Iphigenie steht, existiert in Mondtags Interpretation nicht. Sie endet heftig, wie es die Schlagzeilen täglich verkünden. Mit mantramäßigen Wiederholungen als Klagen an die Herrin der Gemeinschaft: „befreie uns von unserer Angst und unserem Schmerz, folge unserem Protest und Willen und führe uns in die Vernichtung oder wir vernichten dich.“
Zunächst zögerlicher, dann länger anhaltender freundlicher Applaus. Einen anderen Blick auf Iphigenie zeigt derzeit das Theater Willy Praml in der Naxos-Halle.
Markus Gründig, September 16
Imitation of Life
Proton Theater Budapest zu Gast bei der Biennale Wiesbaden
Besuchte Vorstellung: 3. September 16
Vom Recht auf Glück
Am Ende der Wiesbaden Biennale 2016 gab es im großen Haus an zwei Abenden ein außergewöhnliches Gastspiel zu sehen: Imitation of Life von Kornél Mundruczó und dem Proton Theater (Budapest). Ausgangspukt ist die wahre Geschichte eines in Budapest lebenden jungen Mannes, der, aus Identitätsproblemen aufgrund seiner Romazugehörigkeit, einen anderen Roma mit einem Schwert lebensgefährlich verletzt hatte.
Die Produktion des Budapester Proton Theater entstand in Kooperation mit zahlreichen renommierten Häusern. Neben der Wiesbaden Biennale sind dies u. a. die Wiener Festwochen, das Theater Oberhausen, das HAU Hebbel am Ufer (Berlin) und das Hellerau – European Center for the Arts (Dresden).
Das Stück zeigt anhand der Probleme einer Romafamilie, das soziale Auseinanderbrechen Europas. Wo Roddy Doyles “Die Frau, die gegen Türen rannte“ noch eine einfache Frau aus der einfachen sozialen Verhältnissen porträtiert, zeigt Mundruczó Menschen, die ganz tief unten angekommen sind. Menschen, die der Staat aufgegeben hat, denen selbst medizinische Hilfe, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt eingeräumt wird und die nur mit eisernem Willen und ausgefallenen Ideen ihre staatsbürgerlichen Grundrechte durchsetzen können.
Die Vorstellung beginnt zunächst unspektakulär (das ändert sich später gewaltig). Auf einer Leinwand wird das Verhör der älteren Lörinc Ruszó gezeigt. Sie soll zunächst ihre Identität bestätigen. Was sie aber gar nicht einsieht. Sie versteht das ganze Vorgehen nicht. Sie kennt nicht die Firma, in deren Auftrag Mihály Sudàr sie verhört, noch versteht sie, was er von ihr wirklich will. Aber dumm ist sie nicht, sie riecht, dass hier ein Aussiedlungsprogramm auf höchster staatlicher Ebene abläuft, weil die Fläche des Wohngebäudes für die anstehenden Olympischen Spiele benötigt wird. Doch sie kämpft für ihr Recht auf Glück und sei es auch hier, in dieser heruntergekommenen Behausung.
Eine knappe halbe Stunde dauert dieses Ermittlungsverhör, bei dem ausschließlich ihr Porträt gezeigt wird und wo sie überwiegend erzählt und dabei von der Beklagten zur Anklagenden wechselt. Wo dieses Verhör stattfindet, ist zunächst nicht wirklich zu erkennen, im Hintergrund sind nur ein Bügeleisen und Wäschekörbe zu erkennen. Das ändert sich, wenn dann die Leinwand hochgezogen wird und der Blick auf das heruntergekommene Zuhause der Lörinc Ruszó zeigt, wo die beiden die ganze Zeit bereits gesessen haben. Eine angebliche 2-Zimmerwohnung, die allerdings nur noch ein Zimmer aufweist. Und das ist so mitsamt seinen einfachen Holzfensterrahmen und trotz schönem Erker derart heruntergekommen, dass es eigentlich abbruchreif ist. Hier wird nicht gelebt, sondern gehaust.
Die Geschichte nimmt ihren Lauf und der Zuschauer wird immer mehr in den Bann dieser traurigen Familiengeschichte gezogen. Höhepunkt ist die spektakuläre und bedrückende Verwandlung der Behausung zu einer Trümmerbude (arme Bühnenbildassistenten und Bühnenbildpraktikanten, die dieses Chaos aufräumen dürfen), die die bevorstehende Zwangsräumung optisch schon andeutet (Bühne: Márton Ágh). Filmeinblendungen und Musik (wie Möwes “Birds Flying High”) vermitteln zusätzlich.
Im Zentrum steht die Figur der Lörinc Ruszó (deren Mann einen Tag zuvor verünglückt ist, als er für sie eine Ente fangen wollte). Lili Monori verleiht dieser Figur authentische, tragische Tiefe. Sei es aufbrausend während des Verhörs oder später, wenn ihr die Galle überläuft.
Als rauer Inkassoermittler Mihály Sudàr, der dennoch Anstand und Herz zeigt, überzeugt Roland Rába (auch skrupelloser Wohnungsvermittler).
Als Alleinerziehende und neue Mieterin Veronika Fenyvesi, die sich tapfer behaupten will aber dennoch zu ihrem sie schlagenden Freund zurückkehrt, gefällt Annamária Lang. Ihren Sohn Jónás Harcos gab bei der besuchten Vorstellung Dariusz Kozma.
Ruszó Junior ist zunächst per Videoaufzeichnung zu sehen, dann auch auf der Bühne. Er färbt sich nicht nur seit zehn Jahren die Haare blond, um ja nicht als Roma erkannt und damit verachtet zu werden, sondern hat sich auch einen anderen Namen (Szilveszter Mészáros) zugelegt. Die Mutter wird verleugnet und als neue Putzfrau deklariert. Zsombor Jéger gibt ihn sehr ausdrucksstark.
Regisseur Kornél Mundruczó hat das Stück überaus packend inszeniert. Und mit den jüngsten Anschlägen in Anspach, München und Würzburg, zeigt es, wie aktuell es ist.
Lang anhaltender Applaus.
Markus Gründig, September 16
The Picture of Dorian Gray
English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 2. September 16 (Premiere)
Der Dandy und Exzentriker Oscar Wilde bereicherte im 19. Jahrhundert die feine britische Gesellschaft mit seinem exaltierten Luxuslebensstil: „Ich habe einen ganz einfachen Geschmack, ich bin immer mit dem Besten zufrieden!“. So führte er u.a. seinen Lobster an einer Leine durch die Stadt aus. Dabei war er auch als Autor und vor allem als Dramatiker („Ein idealer Gatte“, „Bunbury“) tätig. Sein Ruhm endete jäh, als er 1895 wegen homosexueller Neigung angeklagt und zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Er starb im Jahr 1900 46-jährig in Paris.
Sein einziger Roman „The Picture of Dorian Gray“ provozierte als eine Hymne auf den Schönheitskult des Ästhetizismus und war sein erster literarischer Erfolg (erschienen 1890). Für die Bühne wurde der Roman jetzt von Merlin Holland und John O’Connor neu adaptiert. Diese Fassung ist im English Theatre Frankfurt nun erstmals in Deutschland zu sehen. Bei der Premiere waren die beiden Autoren anwesend. Merlin Holland ist der einzige Enkel Oscar Wildes.
Wenn man bei manch zeitgemäßen Romanadaptierungen mitunter feststellt, dass diese nur noch lose Bezüge zum Original haben, muss man sich diesbezüglich hier nicht sorgen. Die zwanzig Kapitel des Buches werden unter der Regie von Tom Litter ziemlich nah am Original gespielt, in einer faszinierenden und gut gelungenen Mixtur zwischen modernen Bezügen und Anspielungen auf das viktorianische Zeitalter (in der Kleidung und den wenigen Möbeln). Die Geschichte ist in eine Art modernes Digitorial eingebettet. Dorian Grays Porträt wird vom Maler Basil nicht auf eine Leinwand gezeichnet, sondern digital, mit Foto- und Filmkamera festgehalten. Die Aufnahmen landen dann auf einem Laptop.
Bestechend ist die Bühnenoptik, gerade durch ihre Reduktion. Über weite Teile wird der Bühnenraum nur in seiner vollen Breite, nicht aber in voller Höhe ausgenutzt. Sämtliche Räume, wie das ganz in Weiß gehaltene Foto- und Filmstudio des Künstlers Basil, die Wohnungen von Dorian Gray und die der Familie Vane oder die Bibliothek von Lord Henry, zeigen die obere Bühnenhälfte leer und schwarz. Eine geschwungene Treppenanlage führt in dieses Nichts, das später zum Dachboden im Hause Grays wird (wo Dorian Gray sein Bild versteckte). Glaswände dienen dezent als Hintergrundprojektionsfläche, wodurch weitere Orte angedeutet werden (wie mit roten Chinalampen die Opiumbar am Hafen oder mit etwas Grün ein Wald für die Jagdszene; Ausstattung: Simon Kenny; Lichtdesign: Ben Cracknell).
Ein Trumpf sind die vier Darsteller, die sämtliche Rollen spielen. Bis auf Michael Lanni als Dorian Gray, spielen sie verschiedene Rollen und dies ganz offensichtlich. Eine kleiner Hut reicht für Timothy Allsop aus, um aus Basil eine Lady zu machen, ein Morgenmantel für Richard Lynson, um ihn von Lord Henry zur Schauspielerin und Mutter Vane zu verwandeln. Praktischerweise liegen sämtlich benötigte Requisiten bereits offen in den aufgestellten Regalen bereit.
Michael Lanni als Dorian Gray verkörpert den jungen, attraktiven Märchenprinz Dorian Gray exzellent, mit einem verführerischen Lächeln und jugendlicher Unschuld. Im Adamskostüm (!) posend, zeigt er auch seinen trainierten Körper. Entscheidender ist allerdings der gut bewältigte Wandel vom unbeirrten jungen, zum mehr und mehr verzweifelten und in Panik geratenden Mann und seinen unaufhaltsamen Untergang.
Timothy Allsop glänzt als Darsteller, der perfekt in die unterschiedlichsten Rollen schlüpfen kann, sei es der Künstler Basil, als der Theaterdirektor Mr. Isaaks oder als eine feine Lady.
Richard Lynson gibt einen treffsicheren geistreichen und teuflischen Lord Henry, wie auch mit osteuropäischem Akzent sprechend, den „Freund“ und Leichenentsorger Alan.
Sehr wandelbar zeigt sich die einzige Dame, Natasha Rickman, sei es als Mitarbeiterin Basils, als Sibyl Vane oder Lady Monmouth.
Viel Applaus für diese erfrischende Umsetzung.
Markus Gründig, September 16
Russian Blues – Auf der Suche nach Pilzen
Dmitry Krymov Lab zu Gast bei der Wiesbaden Biennale
Besuchte Vorstellung: 27. August 16
Von Bonn führten Manfred Beilharz, Tankred Dorst und Ursula Ehler die „Bonner Biennale“ unter dem Titel „Neue Stücke aus Europa“ (ein internationales Theaterfestival für Gegenwartsdramatik) 2004 nach Wiesbaden. Unter der Intendanz des Beilharz Nachfolgers Uwe Eric Laufenberg erhielt die Reihe nun nicht nur eine Neukonzeption, sondern auch einen neuen Namen. Die „Wiesbaden Biennale“ präsentiert sich jetzt als ein Festival für die europäische Theater- und Performance Avantgarde. Dank großzügiger Förderung durch die Stadt Wiesbaden, das Land Hessen, der Kulturstiftung des Bundes, der Sponsoren Nassauische Sparkasse und Fraport, sowie zahlreicher Unterstützer und Projektpartner, konnte in einer zweijährigen Vorplanungsphase ein anspruchsvolles und vielseitiges Programm erstellt werden. Das nicht nur im und vor dem Staatstheater Wiesbaden gezeigt wird, sondern auch Orte der Stadt mit einbezieht, Kunstaktionen, Partys und sogar Übernachtungsmöglichkeiten (im Staatstheater!) bietet. Die „Frischzellenkur für müde Europäer“ steht unter dem Titel „This is not Europe“. Kuratiert wird die Wiesbaden Biennale von Maria Magdalena Ludewig und Martin Hammer.
Die im vergangenen Jahr entstandene Produktion „Russian Blues – Auf der Suche nach Pilzen“ des Dmitry Krymov Lab (School of Dramatic Art) aus Moskau wurde an zwei Abenden in russischer Sprache im Großen Haus des Staatstheater Wiesbaden gezeigt (erstmals außerhalb Russlands), unter Anwesenheit des Regisseurs Dmitry Krymov. Das Publikum erhielt Kopfhörer für die Stimme des Erzählers und Kommentators, zusätzlich gab es deutsche Übertitel.
Mit geplanter akademischer Verspätung ging es bei der besuchten Vorstellung dann los. Der Erzähler (Arkadiy Kirichenko) lief mit Taschenlampe durch den 3. Rang und suchte keine Pilze, sondern das Publikum. Das er dann glücklich auf der Bühne fand. Keiner hatte ihn informiert, worüber er lange lamentierte. Sodann nahm er auf einem neben der Bühne platzierten Gerüst Platz, wo bereits ein weiterer Schauspieler saß (der im kasachischen Karaganda geborene Alexej Lochmann, der in der vergangenen Saison Mitglied im Schauspielstudio des Schauspiel Frankfurt war und ab dieser Saison am Düsseldorfer Schauspielhaus engagiert ist).
Ähnlich wie bei Bernd Alois Zimmermanns Die Soldaten bei den vergangenen Internationalen Maifestspielen, hatte das Publikum seinen Platz auf einer Tribüne, die auf der Bühne stand. Diese befand sich allerdings noch etwas weiter im hinteren Bereich. Denn im Unterschied zu Die Soldaten wurde auch überwiegend auf der Bühne gespielt. Diese bestand aus einem großen Podest mit offenen Seiten. Einfache Behausungen wurden mittels Pappkartons schnell auf- und abgebaut. Rauchschwaden, Seifenblasen und eine ausgefeilte Beleuchtung (Licht: Ivan Vinogradov) sorgten trotz aller szenischen Einfachheit für große Optiken. So entstand ein Wald mit dicken Baumstämmen, tauchte plötzlich ein U-Boot auf und am Ende versank alles in einem Flammeninferno (während am Trapez ein Olympiaturner aus Pappe stoisch weiter seine Runden drehte – getreu dem Motto „mag die Welt um uns herum auch unter gehen, wir machen weiter wie bisher“). Von einem an der linken Seite aufgestellten Gerüst kommentierten Kirichenko und Lochmann das Geschehen (Bühne: Maria Tregubova).
Das Stück zeigt in zehn kleinen Episoden russische Alltagsszenen vom Suchen nach Glück. In Befindlichkeiten, die universell, aber auch eben typisch russisch sind. Verbunden sind die Szenen mit dem Thema Pilze suchen, das nicht nur eine typisch russische Beschäftigung ist, sondern ein Lebensgefühl, Gemeinschaft und Zusammenhalt ausdrückt. Unterschiedliche Musikeinspielungen, von tiefer Emotionalität geprägte klassische Musik und artifizielle Klänge, ertönen (Komposition: Kuzma Bodrov). Dazu werden Versatzstücke aus Arien gesungen (Sopran: Anna Sinyakina und Olga Ermakova). Die zehn Darsteller (Natalya Gorchakova, Vadim Dubrovin, Arkadiy Kirichenko, Maksim Maminov, Sergey Melkonyan, Oksana Mysina, Kristina Pivneva, Maria Smolnikova, Evgeny Startsev, Mikhail Umanets) spielen dabei mehrere Figuren und es gibt auch tänzerische Einlagen (Choreografie: Anatoly Voynov).
Zunächst sitzen alle gemütlich zusammen (mitsamt dem Hund Renata) und es wird überprüft, ob Messer, Tüten und passende Schuhe, vorhanden sind. Und nicht zu vergessen Stullen, mit Wurst, Käse oder Gurken. Wo man sich später trifft, wenn man sich verloren haben sollte? Einfach am großen Ameisenberg (im Wald ja kein Problem). Und immer schön auf der linken Seite der Gleise entlang laufen (denn nur an diesen wächst Moos und sind deshalb auch immer zu erkennen). Das Leben muss nicht kompliziert sein. Ist es aber doch, wie eine Routenbeschreibung vom Moskauer Autobahnring zum Treffpunkt deutlich macht. Oder ein verstopftes WC, aus dem der Kot nur so überläuft, und es für die Bewohnerin schwierig ist, die zuständige Wohnungsstelle zu erreichen. Die dann herbeieilenden Installateure legen dann, unterlegt mit Beethovens Mondscheinsonate, eine artistisch angehauchte Tanzperformance ab, um das „WC-Monster“ zu bekämpfen.
Auch das äußere Erscheinungsbild ist wichtig, bunte Schuhe sind angesagt, möglichst solche aus Padua. Und ein atemberaubendes Hochzeitkleid, koste es was es wolle und sei es auch nur ein Fake. Korruption ist ein hässliches Wort, wenn auch allgegenwärtig. Ein Glas eingelegter Pilze hingegen kann niemand verwehren.
Mitgefühl ist relativ, so werden eigene Leute gerettet, nicht dazugehörende aber nicht.
Und wer gleicht schließlich dem Vogel Strauß, der noch nicht einmal seiner Gattung nach fliegen kann und ein winziges Hirn hat, aber dafür riesige Schritte zurücklegt?
Es gibt zahlreiche Anspielungen auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Russland, verpackt in kunterbunte heitere Szenen. Viel Applaus.
Markus Gründig, August 16
Genesis. Altes Testament
Theater Willy Praml, Frankfurt/M
Besuchte Vorstellung: 19. August 16 (Premiere)
Mit den unterschiedlichsten Inszenierungen an wechselnden und vor allem an ungewöhnlichen Aufführungsorten hat sich das Theater Willy Praml schon vor vielen Jahren einen Namen gemacht. Seit 2000 ist es in der ehemaligen Naxoshalle, einer denkmalgeschützten ehemaligen Industriehalle im Frankfurter Nordend beheimatet. Dieses Jahr feiert das Theater sein 25-jähriges Bestehen. Das Jubiläumsprogramm steht unter dem Titel „Die Erde ist meine Heimat ~ Die Erde ist eine Heimat ~ Die Erde ist keine Heimat“. Nachdem bereits im Frühjahr Goethes Iphigenie und Kleists Das Erdbeben in Chili gezeigt wurden, folgte jetzt als großes Ensemblestück Genesis. Altes Testament.
Die Beschäftigung mit biblischen Stoffen und religiösen Themen ist für dieses Theater nicht neu. Schon zu einer Tradition geworden ist die Auseinandersetzung mit Jesu Geburt und Leben. Das Stück JESUS D´AMOUR GEB.0 – Die Weihnachtsgeschichte wird dieses Jahr zum 11. Mal gespielt. Das Theater Willy Praml sieht die biblischen Geschichten als einen immanenten Teil der Kultur an. Sie dienen dem Theater für eine intensive Auseinandersetzung und Reflexion über unseren heutigen Denk- und Verhaltensmustern.
Das Alte Testament ist das Hauptbuch der jüdischen Religion. Die ersten fünf Bücher, die „Bücher des Gesetzes“, sind heute gemeinhin als die fünf Bücher Mose bekannt. Sie wurden aus verschiedenen Hauptquellen zusammengesetzt. Benannt wurden sie nach den Anfangsworten ihrer Texte. Für das erste Buch daher der hebräische Name „Bereschit“ (Am Anfang) gewählt. Im Lateinischen dann „Genesis“ (Entstehung). Sie handeln von Berichten, Geschlechtsregister, Gesetzen und Reden. Es geht um den Weg des Menschen und die Lebensordnung unter der Gottesherrschaft. Zentrale Figuren sind der Stammvater Abraham, sein Sohn Isaak (der geopfert werden sollte, später Rebekka heiratet), seine Enkel Ismael und Esau (Tausch des Erstgeburtsrecht), sein Neffe Lot und nicht zuletzt der Urenkel Joseph, dessen Geschichte von Andrew Lloyd Webber mit einem eigenem Musical populär gemacht wurde (Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat).
Regisseur Willy Praml hat gemeinsam mit Michael Weber aus der umfangreichen Sammlung (50 Kapitel) einen kompakten Theaterabend gestaltet (13 Szenen). Mit knapp vier Stunden, inklusive einer Pause, doch sind dies überaus kurzweilige Stunden! Die ernüchternd zeigen, dass es auch zur „guten alten Zeit“ sehr menschlich zuging, also nicht nur ehrenhafte Gedanken Triebfeder waren, sondern auch Machtstreben, Neid und Missgunst prägend waren (und es Vielfrauenehen gab und auch die Schwängerung von Mägden kein Problem darstellte, wenn es darum ging, Nachkommen zu zeugen). Gleichzeitig werden die Facetten der Menschheitsgeschichte herrlich unterhaltsam ausgeleuchtet. Ein toller Abend, vor allem auch dank einer famosen Leistung des zwölfköpfigen Ensembles. Die Einbindung zweier Musiker (Sepp’l Niemeyer und Jakob Rullhusen, letzterer auch als Sänger beteiligt) ist ein elementarer Bestandteil der Inszenierung. Sie führen den Zuschauer auf klanglicher Ebene in das Gelobte Land. Dezent werden auch moderne Videoprojektionen eingesetzt, wie bei Josephs Traumerzählungen. Ein besonderer Clou ist die Einbindung des Bewegungskünstlers und Tänzers Andreas Bach, der hier vor allem als Repräsentant der Tierwelt in Erscheinung tritt und mit wenigen Gesten Esel, Kamele und Ziegen imitiert und damit das szenische Geschehen erfrischend auflockert. Zwei Cherubinen (Ahmed Alsoweyhah, Ibrahim Mahmoud, alternierend: Esay Tokou) fungieren als weitere Erzähler.
Zu Beginn steht natürlich die Schöpfungsgeschichte. Ein schwarzer Vorhang verhindert die Sicht des Publikums in die Weiten der Industriehalle. Mit jedem Tag, der vergeht, öffnet er sich ein Stück mehr. Der Inszenierung reichen kleine Dinge, um Großes zu zeigen. Wie umgestoßene Wasserflaschen für die Schaffung der Meere und ein Hubsteiger für die Szene mit dem Turmbau zu Babel oder Rauchwolken für den Untergang von Sodom und Gomorra (Bühne/ Kostüme: Michael Weber, Bühnenbau: Guido Egert).
Das Tor zum Paradies spielt am imposanten ehemaligen Holzportal des alten Frankfurter Schauspielhauses, das bereits bei Iphigenie Verwendung fand. Während hier die frisch erschaffenen Menschen Adam (Jakob Gail; auch Abel, Jafet und Abrahams Großknecht) und Eva (Eva Kruijssen; auch Hams Frau und Rahel) unschuldig in schönster Eintracht von Gott dem Herrn erzählen, lugt mit funkelnden Augen die listige Schlange (Gabriele Graf; auch Noahs Frau, Hagar und Lea) hervor.
Ein Amüsement ist, dem Stammvater Abraham (Reinhold Behling; auch Laban und Ruben) und seiner Frau Sara (Birgit Heuser, auch Bilha) zuzuschauen, wie sie von ihrem Kindersegen in reifen Lebensjahren berichten. Die Geschichte vom für eine Suppe abgetrotzten Erstlingsrecht von Esau (Tim Stegemann; auch Kain, Ham, und Lot) durch Jakob (Michael Weber; auch Noah, Pharao und Sodomit) und die Täuschung des erblindeten Vaters Isaak (Sam Michelson; auch Set, Sem, Ismael und Joseph) wird in großem Format gespielt. Dabei spielt auch die hübsche Rebekka (Annemarie Falkenhain; auch ein Mädchen und Silpa) eine wichtige Rolle.
Die Größe der Naxoshalle wird für imposante Optiken genutzt, sei es mit einer durch sie fahrenden knallig roten Vespa oder mit einem Wohnmobil. Ein Höhepunkt mit heiterer Note ist die Darbietung der Zeugung von Esaus Nachkommen, wenn seine zwei Frauen und deren Mägde abwechselnd zu ihm in die Behausung steigen und nach erfolgreicher Tat ein Kinderstrampler nach dem anderen auf einer Leine aufreihen.
Am Ende langanhaltender Applaus und Standing Ovations für den gelungenen Parforceritt durch die frühe Menschheitsgeschichte nach der Thora/dem Alten Testament.
Markus Gründig, August 16