Wie im Himmel
Burgfestspiele Bad Vilbel
Besuchte Vorstellung: 7. Juli 17
Es ist ein Abenteuer,
das eigene Paradies zu finden.
Sich selbst und die Menschen zu lieben ist nicht immer einfach, schon gar nicht für den weltweit gefeierten Stardirigenten und Frauenschwarm Daniel Daréus, der als Jugendlicher seine von ihm sehr geliebte Mutter bei einem Verkehrsunfall sterben sah. Doch sein Lebenstraum erfüllt sich, wenn auch über schmerzhafte Umwege. Das rührselige schwedisch-dänische Musikfilm-Drama Wie im Himmel aus dem Jahr 2004 von Regisseur Kay Pollak begeisterte über 1 Million Kinobesucher. 2005 erhielt es eine Nominierung als »Bester nicht-englischsprachiger Film« bei den Oscar®-Awards. Die Theateradaption als „Schauspiel mit Musik nach dem Film von Kay Pollak“ wurde 2007 am Theater Konstanz uraufgeführt (in der Regie von Bettina Bruinier).
Am 23. Juni 2017 feierte das Stück bei den Burgfestspielen Bad Vilbel seine Premiere. Vier Tage später verstarb der Schauspieler Michael Nyqvist im Alter von 56 Jahren. Er hatte im Film die Rolle des Daniel Daréus verkörpert und war vor allem durch die „Millennium“-Trilogie von Stieg Larsson international bekannt geworden. Sein früher Tod untermauert die Botschaft des Films und des Stücks, wie sie vor allem in Gabriellas Lied „Jetzt gehört mir mein Leben“ zum Ausdruck kommt: Das eigene Leben bewusst zu leben und das eigene Paradies zu finden.
Die Bühnenfassung (Übersetzung: Jana Hallberg) folgt Kay Pollaks Drehbuch ziemlich genau, wenn vieles natürlich auch komprimiert wurde. Die Handlung spielt in und um das kleine schwedische Dorf Ljusåker. Ausstatterin Pascale Arndtz verzichtet darauf, den jahreszeitlichen Verlauf, von schwedischer Winterlandschaft bis zum Sommer, darzustellen. Nordische Melancholie spiegelt sich dennoch auf der Bühne, die grau-bläuliche Lattenwände und drei große verstümmelte Baumstämme zeigt. Türen an den Seiten weisen auf die Pfarrwohnung und zur alten Dorfschule (dem Zuhause von Daniel) hin. Die Mitte stellt gewissermaßen den Gemeindesaal dar.
Regisseurin Milena Paulovics sorgt dafür, dass das Publikum von Anbeginn im Stück drin ist. Und es fiebert, leidet und liebt mit den Darstellern auf der Bühne mit, zumindest bei der besuchten Vorstellung. Wenn etwa die geschundene Gabriella (einfühlsam und klangschön: Jenny Klippel) es endlich geschafft hat, ihrem alkoholsüchtigen und brutalen Mann Conny (hitzig: Niklas Herzberg) zu entkommen oder wenn sich Inger (kämpferisch: Britta Hübel) ihren bigotten Mann Stig (diszipliniert: Julian Mehne) verlässt, gibt es spontanen Zwischenapplaus, wie auch immer wieder lautstark Zwischenbemerkungen kund getan werden.
Wie die Handlung dem Film folgt, so folgen auch die Darsteller ihren Filmfiguren. Tino Lindenberg gibt den sonderbaren und eigenwilligen Daniel Daréus mit vornehmer Zurückhaltung. Mirjam Sommer macht nicht nur im Bikini eine gute Figur, sie sprüht als Daniels spätere Geliebte Lena auch, trotz großer persönlicher Enttäuschung, vor Lebensfreude. Kaum zu bändigen ist der zielstrebige Sportladenbesitzer Arne des Andreas Krämer, der den gutmütigen Holmfrid (mit explosiven Potential: Volker Weidlich) aus der Reserve holt und alte Wunden aufreißt (ihre Versöhnung findet unter breitem Publikumszuspruch statt). Als enttäuschte Siv bringt sich Susanne Buchenberger eindringlich ein und Felix Lampert reichen wenige Worte, um als geistig behinderter Tore Eindruck zu machen. Dank Zuspruch der Chorgemeinschaft finden Florence (elegant: Regina Felber) und Erik (ausziehfreudig und elanvoll: Tobias Gondolf) zusammen.
Neben dem inzwischen populären „Gabriellas Song“ und Lenas kurz intonierten „Fly with me“, gibt es schöne Chornummern (die zumeist in schwedischer Sprache gesungen werden; Musikalische Leitung und Einstudierung: Jonathan Granzow; Arrangements und Komposition: Michael Rodach), bei denen sich der Chor Vil-belCanto unter die Darsteller mischt.
Haben sich auch an diesem Abend die einflussreichsten Politiker der Welt beim G20-Gipfel in Hamburg nur grob angenähert und Linksautonome für entfesselte Gewaltausbrüche gesorgt, bei den Burgfestspielen waren auf der Bühne und im Publikum zumindest die Herzen der Menschen durch Musik verbunden.
Langer, starker Applaus und Standing Ovations.
Markus Gründig, Juli 17
One Song for the Road
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 24. Juni 17
Lange stand der Termin fest, nun hat die Veranstaltung stattgefunden: Die letzte Vorstellung im Schauspiel Frankfurt unter der Intendanz von Oliver Reese. Unter dem Titel Time to say goodbye ~ One Song for the Road (Untertitel: Ein musikalischer Rückblick auf acht Jahre Intendanz Reese) war das gesamte Ensemble und manch Ehemalige, mit einem bunten Potpourri unterschiedlicher Beiträge beteiligt. Der Andrang nach Karten war so groß, dass auf der Bühne zusätzlich Sitz- und sogar Stehflächen ermöglicht wurden, die freilich aber auch nicht alle Interessierten berücksichtigen konnten. Für all diejenigen, die dabei sein konnten, war es ein emotionaler und wundervoller Abend, der revueartig mit musikalischen und mit schauspielerischen Beiträgen noch einmal das hohe Niveau des aktuellen Ensembles in seiner bunten Vielfalt zeigte.
Nachdem einen Abend zuvor die letzte Vorstellung von Ödipus vor der Stadt als Freilichtaufführung vor imposanter Kulisse an der Weseler Werft gegeben wurde, die einen Bogen zum Anfang der Intendanz Reese im Schauspielhaus (Ödipus/Antigone) gezogen hatte, stand als erster musikalischer Beitrag der Abschiedsvorstellung eine eigens für diesen Abend erstellte Fassung von „Willkommen“ aus dem Musical Cabaret an (energetisch vorgetragen von Christian Bo Salle; nach einer musikalischen Untermalung von Carina Zichner und der Liveband während des Einlasses und einem humorvollen Intro durch Sascha Nathan). Das Musical hatte im Oktober 2009 im Bockenheimer Depot Premiere und war 2010 auch im Schauspielhaus zu sehen.
In Anlehnung an den Publikumserfolg Terror begrüßte Martin Rentzsch das Publikum dann ganz offiziell mit den mahnenden Worten, alles bisher Vernommene zu vergessen und sich, losgelöst von der Meinung anderer, vor allem der der Presse, ein eigenes Urteil über das Ensemble zu bilden. Im steten Wechsel zwischen Gesungenem und Gesprochenem wechselten sich sodann während des über zweistündigen, ohne Pause dargebotenen Programms, die Beiträge ab. Humorvolle, wie ein kurzer Disput eines Paares (Claude de Demo und Marc Oliver Schulze), wer denn nun ins Theater geht und wer auf das Kind aufpasst, Szenen aus Der nackte Wahnsinn (belustigend dargeboten von Sandra Gerling und Christoph Pütthoff), Constanze Beckers „Brotaufzählung“ aus Safe Places, Heidi Ecks Bericht über überforderte Arbeiter (im amerikanischen Slang; mitsamt Übergabe eines Buchgeschenks an Oliver Reese), Michael Benthin über englische Touristen auf Lanzarote, Peter Schröder mit einem abenteuerlichen Bericht von der Radreise eines ungestürmen Kindes vom Dorf ins ferne Salzburg, Wolfgang Michael, Sascha Nathan und Martin Rentzsch mit einem Auszug aus Kunst oder Marc Oliver Schulze und Oliver Kraushaar (Frankfurter Lokalkolorit ausdrückend in einem Gref-Völsing T-Shirt) mit der Aufarbeitung des letzten Kapitels aus Wenedikt Jerofejews Reise nach Petuschki (dem kleinen „Skandal“ von 2010, bei dem zu viel Alkohol auf leeren Magen nicht ohne Folgen blieb). Dabei fehlten auch kleine Anspielungen auf Oliver Reese nicht, der ja nicht nur als Intendant, sondern hier auch als erfolgreicher Regisseur gewirkt hat (u.a. Phaedra, Der nackte Wahnsinn und Eine Familie).
Aber auch ernste, berührende Texte, wie Corinna Kirchhoffs trauriger Scheidungsantrag aus Die Wiedervereinigung der beiden Koreas, Stephanie Eidt und Christoph Pütthoff mit einem Auszug aus Phaedra, Isaak Dentler mit einem Auszug aus Werthers Leiden, Felix von Manteuffel als Prospero aus Der Sturm, Nico Holonics mit einem Ausschnitt aus Die Blechtrommel, Felix Rech als Prinz von Homburg, und besonders imposant Max Meyers langer Monolog aus Ich bin Nijinsky. Ich bin der Tod (mit dem, ebenfalls von Reese inszeniert, er sich 2013 im Mozartsaal der Alten Oper dem Frankfurter Publikum erstmals vorstellte).
Mathis Reinhardt erinnerte im grünen Glitzerkleid auf High-Heels an seine große Rolle der Lola Lola in Der blaue Engel (gemeinsam sang er mit Michael Goldberg eindringlich „I´m your man“ von Leonard Cohen). Sängerisch beteiligten sich u. a. auch Katharina Bach, Paula Hans und Nico Holonics (mit ihrem Duett „Deutschland braucht Grenzen“ aus Safe Places), Korinna Kirchhoff, Josefin Platt, Linda Pöppel, Owen Peter Reed, Yodit Riemersma, Till Weinheimer (begleitet von der Geigerin Gaby Pochert) und Carina Zichner. Rockig und tanzend brachte sich ein Quartett des SchauspielSTUDIOs (Alex Friedland, Alexandra Lukas, Sina Martens und Justus Pfankuch) mit Backstreet Boys´ „Everybody“ ein. Einen Höhepunkt bildete Franziska Junges Interpretation des Cabaret-Songs „Maybe This Time“.
Am Ende konnte Martin Rentzsch resümieren, dass in den vergangenen acht Spielzeiten über 1 Millionen Zuschauer zu Gast im Schauspiel Frankfurt waren. Der ehemalige Frankfurter Kulturdezernent Prof. Dr. Martin Semmelroth hielt eine lange, von tiefer Dankbarkeit und großem Respekt geprägte Rede auf Oliver Reese und sein Team, dem es gelungen sei, nicht nur zahlreiche Zuschauer für das Schauspiel zu gewinnen (und damit auch die finanzielle Seite zu stärken), sondern das Theater wieder zum Ereignis in Frankfurt gemacht zu haben. Die Erwartungen seien nicht nur erfüllt, sondern weit übertroffen worden. Dem stimmten durch starken Beifall auch die anwesende ehemalige Frankfurter Oberbürgermeisterin (1995 – 2012) und Frankfurter Ehrenbürgerin Dr. h.c. Petra Roth und die ehemalige Dezernentin für Bildung, Umwelt und Frauen und ehemalige Bürgermeisterin (2006-2012) Jutta Ebeling, zu.
Nach dem gemeinschaftlich vorgetragenen Schlusssong „Es ist vorbei, liebes Publikum“ ging es mit einer großen Abschiedsparty (DJ Efdemin und DJ Boris) und einem „Come Together“ auf der großen Bühne , im Foyer und in der Panorama Bar entspannt in die Nacht (Besucher der Vorstellung erhielten zudem ein Miniaturfläschen Apfellikör in einer Spezialabfüllung für das Schauspiel Frankfurt).
Markus Gründig, Juni 17
Meister und Margarita
Staatstheater Mainz
Besuchte Vorstellung: 19. Juni 17
Bei Bulgakows berühmten Roman Der Meister und Margarita handelt es sich um eine furiose Fantasygeschichte und um eine etwas ungewöhnliche Liebesgeschichte, die kunstvoll in einen philosophischen Disput über Gut und Böse eingebunden sind (mit parodistischen Bezügen zu Goethes Faust). Darin wird das Leben in der Metropole Moskau in den 1930er Jahren, wie auch die Situation von Künstlern, satirisch überzogen behandelt. Für das Schauspiel Frankfurt erstellten Markus Bothe und Nora Khuon 2012 eine kompakte Dramatisierung des 600-Seiten Romans. Die Inszenierung dauerte mit einer Pause rund zweieinhalb Stunden. Für das Staatstheater Mainz hat nun dessen Hausregisseur Jan-Christoph Gockel eine Fassung erstellt, unter Verwendung der neuen Übersetzung von Alexander Nitzberg. Die Welt des Fantastischen, Kuriosen und Absurden wird darin, ganz dem Roman entsprechend, in einer überbordenden Fülle gezeigt. An sich ist der Roman mit seinen unterschiedlichen Erzählebenen schon komplex genug. Denn mit der Erzählung des Meisters von Jesus (hier Jeschua Ha-Nozri) und Pontius Pilatus gibt es eine im Roman immer wiederkehrende religiöse Geschichte in der Geschichte. Jan-Christoph Gockel setzt dem noch mehrfach einen drauf. So bindet er u. a. autobiografische Bezüge zu Bulgakow ein. Diese stammen aus Briefen von ihm (wie Äußerungen zu den chaotischen Verhältnissen auf dem Moskauer Wohnungsmarkt oder seinen Antrag auf Ausreise aus Russland bzw. seine Bitte um eine Stelle im Theaterbetrieb), oder nehmen lustvoll ironisch Bezug zum Theaterbetrieb der Gegenwart („was ein stiller Zauber“, Wichtigkeit von Theatertreffen und guten Kritiken und ganz besonders die Rolle der Dramaturgen). Die Rollen des Kritikers und des Theaterintendanten wurde zu einer zusammengefügt und Jan-Christoph Gockel spielt sie, alternierend mit K.D. Schmidt, selbst. Und gibt dabei genauso viel, wie er von seinen Darstellern abverlangt, nämlich ganz schön viel. Und ihrer sind es auch viele: 18 Darsteller sind bei dieser Produktion beteiligt. Deshalb, und wegen dem komplexen Bühnenbild mit aufwendiger Installation der Elektrik (stimmungsvolles Licht: Frederik Wollek), wird das Stück ausnahmsweise en-suite gespielt (nur noch bis zum 2. Juli 17).
Die Bühne von Julia Kurzweg zeigt eine Ansicht auf den Querschnitt eines Moskauer Wohnhauses. Es sind viele detailliert ausstaffierte kleine Zimmer, in denen zu Beginn die Menschen ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgehen (vom Arbeiten an der Schreibmaschine, über sich Duschen oder ein Geschäft auf dem WC erledigen). Die Grundkonstruktion dieses Querschnitt hat damit ihre Wirtschaftlichkeit bewiesen, wurde sie doch bereits bei der Oper Der fliegende Holländer und bei der Fastnachtsposse Volle Kraft Helau oder Des gibt´s uff käm Schiff! verwendet. Im Laufe des Abends wandeln sich einzelne Räume zu den Handlungsorten des Romans, wie ein Krankenzimmer in der Nervenheilanstalt, die verhexte Wohnung Nr. 50 oder zum Büro des Theaterintendanten. An den Seiten befinden sich DJ Anton Berman (gibt auch den Todesengel Abadonna) und das Restaurant des Moskauer Literaturvereinigung (MASSOLIT). Ohrenbetäubende Heavy Metall Sounds werden Variationen aus Tschaikowskys Schwanensee gegenübergestellt. Und weil immer noch einer drauf gesetzt wird, gibt es sogar noch eine Straßenbahn, die Berlioz den Kopf abtrennt und einen echten Esel („Boromir“) für Pontius Pilatus. Zum furiosen Finale ist das Publikum eingeladen, sich zum Frühlingsball des Teufels in die 5. Dimension zu begeben. Auf der Hinterbühne finden unter Kronleuchtern und umsäumt von zahlreichen Spiegeln in den unterschiedlichsten Formaten, die finalen Szenen statt.
Die Kostüme von Sophie du Vinage sind stark auf die Charaktere zugeschnitten, sei es ein rosafarbener Pullover für den Dramaturgen und Varietéadministrator Warenucha (stilsicher: Rüdiger Hauffe) oder Gotic-Gewänder von Wolands Gefolge (wie für den GehilfenWolands Korowjew des Matthias Lamp (der zudem für Korowjew typisch karierte Hosen trägt; bemerkenswert, wie er nur mit seinen Augen ganze Geschichten erzählen kann). Im Katzenfell unterhalb der Gürtellinie gibt Lorenz Klee den fiesen Kater Behemoth, Lilith Häßle den aufgewühlten Dichter Besdomny, Clemens Dönicke Wolands Gehilfen und Sprachrohr Azazello und Klaus Köhler den Finanzdirektor des Varietétheaters Rimski (wobei viele mehrere Rollen spielen).
Und der Großmeister des Bösen lässt nichts aus, es allen zu zeigen. Martin Herrmann lässt den Teufel Woland abgründig und mit Glanz funkeln. Der „Meister“ selbst, wird in Personalunion mit seiner Figur des Jeschuha Ha-Nozri gar von drei Darstellern gegeben (Sebastian Brandes, Vincent Doddema und Nicolas Fethi Türksever).
Die Frauen sind vor allem auf äußere Attribute festgelegt (schwungvoll und vor Lebenslust sprühend: Kristina Gorjanowa und Ella Schwarzkopf als attraktive Service- und Pflegekräfte), was sie auch offen aussprechen und beklagen. Die fahrfreudige Vampirin Gella der Antonia Labs erfährt zum Ende eine besondere Genugtuung. Leoni Schulz gibt die auserwählte Margarita als starke Frau mit eleganter Note.
Letztlich kommen fast alle Figuren genauso schlecht weg, wie die gesamte Moskauer Bevölkerung, die Bulgakow als Ausgeburt des Geldsüchtigen, Korrupten und Verlogenen gezeichnet hat (und selbst Jeschuha Ha-Nozri wird nicht mehr als Held, sondern als Halunke tituliert).
Die bildgewaltige Inszenierung ist ein riesiger Spaß mit viel Hintergrund, bei dem sich das Theater auch selbst nicht immer so ernst nimmt. Langer und starker Applaus.
Markus Gründig, Juni 17
Der Diener zweier Herren
Burgfestspiele Bad Vilbel
Besuchte Vorstellung: 16. Juni 17
Das Abendprogramm der 31. Spielzeit der Burgfestspiele Bad Vilbel wurde am 6. Juni 2017 mit der Stegreifkomödie Der Diener zweier Herren von Carlo Goldoni (1707-1793) eröffnet. Entstanden aus dem Geist der Commedia dell´Arte, bietet es insbesondere für die Titelfigur eine Paraderolle für einen possenhaften und schlagfertigen Darsteller.
In der schwungvollen und rasanten Inszenierung von Adelheid Müther bei den Burgfestspielen Bad Vilbel gibt diesen einfältigen und gerissenen Diener zweier Herren mit vielseitiger Mimik und großem körperlichen Einsatz Steffen Weixler. Von Anfang bis zum Ende zieht er das Publikum in seinen Bann. Es leidet mit ihm wenn er sich mal wieder selbst in eine Zwickmühle gebracht hat (wenn er beispielsweise einen aufgerissenen Brief wieder verschließen will) und freut sich aber genauso mit ihm, wenn er beispielsweise endlich was zu essen bekommt (und den englischen Pudding überschwänglich goutiert). Und die übrigen aus dem Ensemble spielen ihm wunderbar zu:
Volker Weidlich als stets an das Geschäft denkender Kaufmann Pantalone, der sich wegen seines Ehrenwortes ebenfalls in einer Zwickmühle befindet, Johanna Dähler als dessen hippe Tochter Clarice und ganz besonders Mirjam Sommer als sich auch nach einer festen Liebe sehnenden Zofe Smeraldina. Oder Martin Müller als seröser Schwiegervater in spe (der Dottore) und dessen vor Eifersucht rasender Sohn Silvio des Michael Raphael Klein. Jenny Klippe gibt sich in der Hosenrolle der Beatrice/Frederico Rasponi sehr konzentriert. Da wirkt der erfahrene Koch Brighella des Peter Albers um einiges lockerer (köstlich die Szene, wenn er sich mit Truffaldino um das rechte „Arrangement“ der Essensanordnung bemüht). Sehr präsent ist auch Christoph Türkay als Truffaldinos sehr auf Äußerlichkeiten fixierter und deshalb gut gekleideter zweiter Herr (Florindo Aretusi; Kostümbild Marie-Therese Cramer). Nicht zu vergessen Tobias Gondolf als bemühter Kellner und geplagter Kofferträger.
Die Bühne von Lilot Hegi und Marie-Therese Cramer zeigt für eine venezianische Stimmung eine erhöhte Piazza mit weit auslaufenden Stegen vor einer Wirtshausfassade mit mehreren Türen. Verwendet wird eine moderne Übersetzung (der Theaterpraktiker Jürgen Flimm und Marina Wandruszka), die mit dezenten Aktualisierungen aufwartet.
Am Ende dieser mitreißenden und überaus humorvollen Aufführung finden sich nach reichlich Verwicklungen schließlich auch drei Paare glücklich zusammen. Sehr viel Applaus.
Markus Gründig, Juni 17
Evening at the Talk House
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 1. Juni 17
Die Welt ist in Gefahr, das ist nicht neu. Neben den Bedrohungen durch die radikalislamistische Terrormiliz Islamischer Staat, zeigte der Computervirus „WannaCry“ jüngst, dass Cyberkriminalität rasant zugenommen hat. Dabei geht es auch viel einfacher, wie Wallace Shawn in seinem Stück Evening at the Talk House (Der Abend im Talk House) zeigt. Als Koproduktion von Schauspiel Frankfurt, den Ruhrfestspielen Recklinghausen und dem Berliner Ensemble ist es jetzt erstmals in Deutschland zu sehen (Übersetzung: Ulrike Syha).
Shawn erzählt von einer Gruppe von Menschen, die vor zehn Jahren ein Theaterstück aufgeführt haben und sich nun alle wieder treffen. Ort des Zusammentreffens ist das Talk House, ein größerer Club mit mehreren Bereichen. Und während dort belanglos geplaudert und heftig gestritten wird, erfährt man fast schon beiläufig, dass in dieser Gesellschaft Bespitzelungen und Denunzierungen an der Tagesordnung sind. Wenn ein Verdächtiger alle Kriterien erfüllt, ist belegt, dass er der Gemeinschaft schadet und das bedeutet sein Ende: er wird ermordet. Wobei dabei absurd ist, dass Verdächtige schon anhand der Art von Gefühlen die sie zeigen, entdeckt werden (wie Annette erklärt). Das Programm wirkte sich aber gut aus, das Thema Angst vor einer Bedrohung wurde in den Hintergrund gedrängt. Zudem hat das “Targeting”-Programm sogar Einzug in den schulischen Lehrplan gefunden.
Es ist ein interessanter Ansatz für ein Theaterstück (bei dem das Theater selbst auch immer wieder thematisiert wird). Gleichwohl bleibt ein etwas unbestimmter Eindruck zurück, was aber zum Stück gehört, schließlich geht es zwar um eine heftige Geschichte, die aber absichtlich von einem Mantel des Alltäglichen umgeben ist.
Volker Hintermeier hat für den Talk House Club ein Bühnenbild geschaffen, das sowohl eine stimmungsvolle Baratmosphäre bietet, wie auch eine omnipräsente Gefahr von Außen widerspiegelt. Denn die Bar, die von fetten Ledersesseln umgeben ist, steht in einer Rotunde aus einem Stahlkorsett. Statt Fenster gibt es große schwenkbare und durchsichtige Elemente, die aus Stahlfedermatratzen gefertigt wurden und einen martialischen Eindruck vermitteln. Denn hinter diesen, im dunklen Hintergrund, lauert der Freund, der gleichzeitig auch der Feind sein kann.
Das Stück ist die letzte Neuinszenierung am Schauspiel Frankfurt unter der Intendanz von Oliver Reese und bietet noch einmal die Chance, viele der in den letzten Jahren lieb gewonnenen Darsteller in Frankfurt zu erleben. Die meisten Facetten zeigt dabei Martin Rentzsch als Schauspieler Dick, der als Warnung von seinen „Freunden“ brutal zusammengeschlagen wurde (was er im Nachhinein als richtig ansieht). Er bringt am stärksten zum Ausdruck, dass die Zeiten sich geändert haben, das nichts mehr so ist, wie es früher einst war. Schon vor zehn Jahren und auch heute, ist der Autor Robert (Tilo Nest) zwar freundlich zu ihm, aber unter dieser Oberfläche hasst er ihn abgrundtief. Er hat auch einen langen Prolog, bei dem er nonchalant direkt zum Publikum spricht. Wie Regisseurin Johanna Wehner, inzwischen Oberspielleiterin am Theater Konstanz, die Darsteller gerne an die Rampe treten läßt und so die vierte Wand durchbricht. Als skurrile Figur bewegt sich die Bargehilfin Jane der Sina Martens durch das Talk House, schleckt dabei die Wände ab und putzt sie und irritiert mit ungestümen Aktionen die Anderen. Constanze Becker, die Grande Dame der antiken Heroine, ist hier Annette, eine einfache Garderobiere. Schneidern für Privatkunden ist auch nicht mehr das, was es einmal war und so schämt sie sich nicht, wenn sie Andere denunziert und das dies schließlich Menschen das Leben kostet. Das “Targeting” ist für sie so selbstverständlich wie ein Gang aufs Klo und ganz offiziell ein willkommenes Zubrot (zumal sie sich nicht um eine prompte Bezahlung sorgen muss). Erst in enger Lederhose und weißer Bluse mit Rüschen und auf hohen Schuhen, später im sommerlich leichten roten Abendkleid (Kostüme: Ellen Hofmann), ist es ein großes Vergnügen sie mit ihrem trockenen Humor zu erleben. Den gut gelaunten Komponisten Ted gibt mit sprühender Energie Till Weinheimer. Als weiterer Gast dabei ist Frank Seppeler, der den ehemaligen Produzenten und jetzigen Talentscout Bill mit cooler Attitüde spielt. Den noch heute in einer Soap überaus erfolgreichen Schauspieler Tom verkörpert Wolfgang Michael mit vornehmer Zurückhaltung.
Die Ambivalenz zwischen gelöstem Chillen und tiefer Zwietracht durchzieht das sarkastische Stück bis zum Ende. Wenn dann am Ende die charmante Barwirtin Nelli (Josefin Platt) ein weiteres Opfer ist, dann ist das halt so, das Leben in dieser dystopischen Welt geht weiter.
Sehr viel Applaus.
Markus Gründig, Juni 17
The Hound of the Baskervilles
The English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 16. Mai 17
Ein kurzweiliger und höchst amüsanter Spaß!
Mit dem Oscar Wilde Klassiker The Picture of Dorian Gray begann die aktuelle Spielzeit am English Theatre („Motto: “Strictly British“) und mit Sir Arthur Conan Doyles Klassiker The Hound of the Baskervilles, einem Kriminalfall von Privatdetektiv Sherlock Holmes, endet sie. Die Figur des Sherlock Holmes verhalf Doyle zu einem Platz in der Weltliteratur und brachte ihm auch finanzielle Vorteile. Keine Person wurde so oft verfilmt, wie die Figur des Sherlock Holmes (Dracula als halb Mensch, halb Vampir hier ausgenommen, siehe auch Programmheft).
Beide Stücke stammen nahezu aus der gleichen Zeit (1890 und 1901). Wo die Inszenierung von Dorian Gray am English Theatre Frankfurt in die Moderne transformiert wurde, ist die von The Hound of the Baskervilles weitestgehend an die Entstehungszeit angelehnt. Und doch ganz anders als gedacht. Denn am English Theatre Frankfurt wird erstmals in Deutschland die Romandramatisierung von Steve Canny und John Nicholson gezeigt. Und diese erzählt nicht nur die Geschichte nach, sondern trumpft mit einem Feuerwerk an Slapstick auf (indirekt wird dabei auch der Humor von Monty Pythons Spamalot aufgegriffen, das hier im letzten Winter gezeigt wurde).
Besonderer Clou daran ist, dass die 18 Rollen von lediglich drei überaus spielfreudigen männlichen Darstellern gespielt werden. Und diese sind in ihrem enthusiastischen und mit starkem körperlichem Einsatz verbundenen Spiel unter der Regie der jungen britischen Regisseurin Lotte Wakeham kaum zu bremsen (zudem ist das Stück auch sprachlich leicht zugänglich).
Und sie kommen damit beim Publikum extrem gut. Zumal die vierte Wand oftmals durchbrochen, das Publikum also direkt angesprochen wird. Wie nach dem Angst einflößenden Beginn, wenn Vogelstimmen ertönen, die vom aggressiven Gebell einer aufgebrachten großen Hundebestie übertönt werden und Sir Charles Baskervilles um sein Leben rennt. Danach folgen Gesundheitshinweise und der Aufruf, gegebenenfalls das Theater zu verlassen (wobei dafür extra das Saallicht angeht). Nach der Pause sorgt ein Twitter-Tweed für eine direkte Ansprache, auch dieser Gag kommt beim Publikum sehr gut an. Und erst recht die Strafe, denn der 1. Akt wird deshalb im Schnelldurchlauf erneut gespielt.
Die Bühne von Ausstatter David Woodhead zeigt ein mächtiges Herrenhausfoyer, teils im dunklen Holz getafelt, teils mit Steinmauern versehen. Seitlich der großen Portaltür hängen ein Hirsch- und ein Wildsaukopf. Die Holzdecke ist aufwendig gestaltet, gotisch anmutende Rundbögen an den Seiten vermitteln einen fast schlossähnlichen Charakter. Es herrscht eine schaurige, düstere Atmosphäre, fast wie ein Filmset für einen Horrorfilm. Dieser Raum verwandelt sich mit eingeschobenen Requisiten und entsprechend angepasster Ausleuchtung zu Sherlock Holmes‘ Wohnung in der Londoner Baker Street, zu einem Dampfbad in London und zu einem fahrenden Zug, aber auch zum Moor von Dartmoor und dem herrschaftlichen Anwesen der Familie Baskerville (Baskerville Hall). Die Herren und Damen sind dabei konventionell und typgerecht gekleidet. Besondere atmosphärische Akzente setzt das Lichtdesign von Derek Anderson. Für Dramatik, nicht nur mit dem unter die Haut gehenden Hundegebell, sorgt das ausgeklügelte Sounddesign von Andy Graham.
Doch wenn am Ende, wie bei der besuchten Folgevorstellung, das Publikum tobt und Standing Ovations gibt, gilt dies in erster Linie den mit großer Hingabe aufspielenden drei Darstellern. Max Hutchinson gibt nicht nur den maßlos von sich überzeugten Sherlock Holmes, sondern u.a. auch eine bezaubernde Cecille Stapleton und eine verstörte Haushälterin Mrs. Barrymore. Simon Kane bringt sich vor allem als freundlicher Watson ein und zeigt dabei sein ausgesprochenes Talent für die vielseitigsten Grimassen. Eine gute Figur gibt auch Shaun Chambers ab, nicht nur als im Dampfbad mit nur einem Handtuch bekleideter Henry Baskerville, sondern auch als agiler Bauer.
Gelegenheit, dies talentierte Comedytrio zu sehen gibt es noch bis zum 30. Juni 17.
Markus Gründig, Mai 17
Nathan der Weise
Theater Willy Praml, Frankfurt/M
Besuchte Vorstellung: 28. April 17 (Premiere)
Als das Theater Willy Praml im August 2015 Anna Seghers Roman Transit in einer szenischen Fassung in der Frankfurter Naxos-Halle aufführte, zeigte sich das darin behandelte Flüchtlingsthema als unerwartet aktuell. Zwei Tage nach der Premiere erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass Deutschland seine Grenzen für die Millionen von Flüchtlingen aus Syrien und anderen Gebieten im Nahen Osten und Afrika öffnet. Für Willy Praml und seinem Team war es deshalb schnell klar, dass es bei Transit nicht bleiben kann. In 2016 folgte das multinationale Theaterprojekt Kleist. Das Erdbeben in Chili, bei dem dann auch Geflüchtete aus Syrien, dem Irak, dem Iran und aus Afghanistan mitwirkten. Als drittes Projekt des inzwischen gebildeten Themenschwerpunkts „Zu-Flucht. Theater zwischen den Welten. Mit Geflüchteten und Beheimateten“ folgte jetzt als ein famoses Großprojekt Lessings Menschheitsdrama Nathan der Weise.
Ist einem auch der Raum, die Naxos-Halle, vertraut, und die Darsteller bekannt, so erfindet sich das Theater Willy Praml doch immer wieder stets neu und überrascht bei Nathan der Weise mit neuen Ideen und tollen Optiken und regt zur Diskussion, wie zum Nachdenken, bestens an. Um den Abend nicht auf ein Castorf-Format zu bringen, wurde Lessings umfangreicher Text um die Hälfte gekürzt. Allerdings verbleiben dennoch knappe vier Stunden Spieldauer (inklusive einer 25-minütigen Pause). Aber es sind sehr kurzweilige Stunden, denn Regisseur Willy Praml sorgt für sehr viel Abwechslung, die auch örtliche Wechsel für das Publikum beinhalten, schließlich soll die einmalige Atmosphäre der ehemaligen Industriehalle ausgenutzt werden. Schon beim Eintreten in den Saal geht beim Anblick der „Bestuhlung“ ein erstes positives Staunen durch das Publikum, und noch während zum Beginn Jacob Gail eine Kurzfassung der Ringparabel vorträgt, entführt Praml das Publikum mit einem Clou in das Jerusalem des Jahres 1192 (mehr sei hier aber nicht verraten).
Neben einem arabischen Chor (Mohammad Fadi Alhamwi, Mustafa Baker, Ibrahim Mahmoud, Diab Omar, Baha Shaar, Shawkat Dabyan, Fadi Bardaqji) ist im Teil nach der Pause auch ein hebräisch singender Chor beteiligt (Chorleitung: Bettina Strübel). Wobei der arabische Chor eher szenisch als sängerisch eingebunden ist. Anfangs sind die in orangefarbenen Anzügen eines Abfallentsorgungsunternehmens gekleideten Männer eher Dekoration als Beteiligte. Zunächst sitzen sie im Raum und beobachten. Doch schon bald werden sie zu einem integralen Bestandteil des Ensembles, sprechen dabei auf Arabisch und auf Deutsch. Wie eine gewisse Mehrsprachlichkeit von Deutsch, Arabisch und Hebräisch integraler Ansatz der Inszenierung ist und die Parabel um die drei großen Weltreligionen klanglich untermauert.
Praml genügen wenige, aber große und vor allem praktische Sachen als Requisite. So werden aufeinandergestapelte Stühle zu einem fahrbaren Thron für Al-Hafi (Derwisch und Schatzmeister von Sultan Saladin; strahlend: Mohammad Ismail). Ein großes und bewegbares Kreuz sorgt ebenso wie drei in der Halle aufgehängte Säulen für nachhaltig in Erinnerung bleibende Bilder. Die lange Fensterfront wird zu einem Kreuzgang und das ungewöhnlichste Requisit ist ein Feuerwehrauto (es hat ja einen Brand im Hause Nathans gegeben). Für die Ausstattung, wie auch für die schlichten aber zutreffend gewählten Kostüme und die Textfassung, zeichnet Michael Weber verantwortlich. Dicke, weiße Umhänge für die Christen, schwarze für die Araber und Alltagskleidung nebst Tallits für den hebräischen Chor. Und es sind die Kleinigkeiten, die Akzente setzen. Wie die goldenen Sandaletten für Sultan Saladin (der für seine bevorstehenden Krieg dringend Geld benötigt; charmant, urig, aber auch aufbrausend: Muawia Harb) oder dessen Kettenkopftuch (das Stück spielt ja zwischen den 2. und 3. Kreuzzügen). Eine geschickte Ausleuchtung (Licht: Johannes Schmidt) sorgt für markante Akzentuierungen, insbesondere, wenn die Technik, nicht ganz ungewollt, so ihre Macken ausspielt. Die vielen kurzen Szenen werden von zahlreichen Zwischenmusiken, in verschiedenen Stilen, unterbrochen. Auch diese spiegeln die drei Religionen wieder (Musikalische Leitung: Jakob Rullhusen).
In der Titelrolle überzeugt Jakob Gail als weit gereister weiser Mann, der über seiner Kipa eine Fellmütze trägt, und dessen weisen Schlussfolgerungen auch dem Publikum in Erinnerung haften bleiben. Michael Weber glänzt als vehement auftretender Tempelherr. Birgit Heuser zeigt, dass die Menschen nicht immer das sind, was sie scheinen („und selten was Besseres“) und wandelt sich so von der christlichen Gesellschafterin Daja zu Sittah, Saladins Schwester. Nina Karimy vermittelt Nathans Ziehtochter Recha mit viel emotionaler Wärme. Reinhold Behling eifert als Klosterbruder auf Stelzen dem Tempelherr nach und zeichnet als unnachgiebiger Patriarch von Jerusalem, im eindrucksvollen alten Portal des Schauspiel Frankfurt, ein radikales Bild der Kirche.
Zum glücklichen Ende finden sich alle für andachtsvolle Umarmungen zusammen. Sehr viel und starker Applaus für diesen lebhaft gestalteten interreligiösen Diskurs.
Markus Gründig, April 17
Willkommen in Deutschland
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 2. April 17
Vom Titel darf man sich nicht irritieren lassen. Die aktuelle Flüchtlingskrise wird zwar kurz gestreift, spielt in Willkommen in Deutschland aber keine Rolle. Denn eigentlich handelt es sich ja um Tony Kushners Drama A Bright Room Called Day aus dem Jahr 1985. Der US-amerikanische Dramatiker Kushner ist vor allem bekannt als Autor von Angels in America (das auch von Peter Eötvös vertont wurde). Sein A Bright Room Called Day wurde nach Workshopaufführungen in New York dann 1987 offiziell in San Francisco uraufgeführt. Bislang war es im deutschsprachigen Raum noch nicht aufgeführt worden, obwohl die Handlung sogar in Deutschland spielt (in den Jahren 1932 und 1933).
Als vorletzte Premiere in den Kammerspielen des Schauspiel Frankfurt während der Intendanz von Oliver Reese, wurde es jetzt von Katrin Plötner erarbeitet. Sie ist Mitglied im RegieSTUDIO und zeigte 2016 in den Kammerspielen bereits Die europäische Wildnis, eine Odyssee (als Kooperation mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen).
Kushners Stück erzählt von einer Gruppe junger Kommunisten während der, detailreich eingebundenen, Machtergreifung Hitlers in den Jahren 1932 und 1933. Als Bezug zur Gegenwart fügte Kushner eine Erzählerin ein, die mit Texten auf die Gegenwart der 1980er Jahre verwies. Damals war Ronald Reagan Präsident der USA und nicht unumstritten. 2017 ist die Situation unter Trump noch zugespitzter. Für einen europäischen Gegenwartsbezug wurden die Texte der Erzählerin Zilla (vital und vielseitig: Carina Zichner; auch Die Alte und Der Teufel) von der österreichischen Autorin Marlene Streeruwitz neu geschrieben und für das deutsche Publikum angepasst. So werden die Toten im Mittelmeer kurz erwähnt, weshalb kein Fisch aus Sizilien mehr gegessen werden kann, wie auch der Druck der auf der jüngeren Generation lastet, sich um eine ausreichende Altersvorsorge zu kümmern.
Ist auch die Situation in Deutschland von 1932/1933 und von heute freilich eine ganz andere, das Stück ist ein Aufruf zu politischem Aktionismus (wofür die damalige Zeit als Folie dient). Dramaturgin Henrieke Beuthner zutreffend im Programmheft: „Tony Kushner schafft es, mit seinen Figuren ein Panorama von Absichten, Meinungen, Haltungen und Versuchen des Widerstandes zu schaffen, das zu keiner Zeit moralisch wird, zu keiner Zeit über seine Figuren wertet. Vielmehr zeichnet er Charaktere, die jeweils ihren eigenen Weg in den politisch aufwühlenden Zeiten finden. Sie sind ebenso stark, wie sie schwach sind. Sie straucheln, zögern, hoffen kämpfen.“
Die Handlung spielt in der kargen Wohnung der Schauspielerin Agnes Eggeling (feinfühlig, engagiert und in einem mondänen Kleid: Jeanne Devos), die viele Freunde in der linken Szene hat. Wie die der Psychoanalyse zugewandten, Tabletten nehmenden und sich wegen der politischen Veränderungen nach Russland zuwendenden jungen Kollegin Paulinka (chic und verführerisch: Paula Hans; Kostüme: Lili Wanner), die Malerin Anabella Gotchling (als starke Frau: Sina Martens), oder die stärker Position beziehenden Männer. Jeannes Freund Vealtninc (leidenschaftlich: Christoph Pütthoff) und der sich später auf der Flucht befindliche Emil (kämpferisch: Jan Breustedt), sowie der schwule Lebemann Gregor (von etwas Mascara abgesehen nur dezent tuckig, aber dennoch einnehmend: Lukas Rüppel).
Die Wohnung besteht aus wenigen Möbeln, was einen praktischen Nutzen hat. Nach circa der Hälfte der Spielzeit, also nach gut 45 Minuten, beginnt die Decke des Zimmers sich zu senken. Anfangs nur ein paar wenige Zentimeter, dann immer mehr. Am Ende droht sie die Gemeinschaft zu zerdrücken, nur die Erzählerin kann sich herausziehen (Bühne: Anneliese Neudecker). Martens lässt die Darsteller die Klaviatur der Gefühle auf und abspielen, mitunter geht es sehr turbulent zu. Eine gelungene Verpackung für ein wichtiges Thema, nicht nur im Wahljahr 2017 (zudem hervorragend gespielt).
Starker Applaus.
Markus Gründig, April 17
Diese Geschichte von Ihnen
Burgtheater Wien zu Gast im Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 31. März 17
Für den James-Bond-Film Feuerball (1965) schrieb der britische Dramatiker John Hopkins (1931-1998) zusammen mit Robert Maibaum das Drehbuch. Drei Jahre später erschien sein erstes Bühnenstück: Diese Geschichte von Ihnen (This Story of Yours). Es handelt von dem auf der Karriereleiter hängengebliebenen Polizeibeamten Johnson, der bei einem Verhör den mutmaßlichen Kinderschänder Baxter zu Tode prügelte. In drei Akten werden drei unterschiedliche Blicke auf den auch in einer Midlifecrisis steckenden Polizisten geworfen. Sie spielen im Haus von Johnson (unmittelbar nach dem Verhör) und auf dem Polizeirevier (mit einem informellen Verhör Johnsons durch einen Vorgesetzten und als Rückblende mit dem Verhör Baxter/Johnson). Dabei ist bis zum Schluss die Frage spannend, ob Baxter tatsächlich der Täter ist, für den er gehalten wird.
Für das Burgtheater Wien (Akademietheater) inszenierte im vergangenen Jahr die mehrfach ausgezeichnete Regisseurin Andrea Breth Diese Geschichte von Ihnen. Hierfür wurde sie in der Kategorie „Beste Regie“ beim wichtigsten österreichischen Theaterpreis, dem Nestroy, ausgezeichnet. Auch dem Frankfurter Publikum ist sie seit langem bekannt, nicht nur durch ihre John Gabriel Borkmann-Inszenierung (2013).
Einen ersten deutschen Polizeipsychologen gab es 1964, inzwischen haben sich bundesweit polizeipsychologische Dienste etabliert, denn die Arbeit von Polizeibeamten ist in den letzten 50 Jahren nicht einfacher geworden. Die tägliche Konfrontation mit Gewalt, Leid und Verbrechen will verarbeitet werden. Da mutet John Hopkins Stück zwar etwas plump an, aber nicht zuletzt wegen der vier großartigen Darsteller des Wiener Burgtheaters und der auf Hochspannung ausgerichteten Regie von Andrea Breth, wird das Stück zu einem herrlichen Theatererlebnis. Insbesondere Nicholas Ofczarek als einfacher Polizeibeamter Johnson ist herausragend. Sei es als trunkener Ekel gegenüber seiner Frau („Du bist hässlich“), der seinen Körper kaum noch unter Kontrolle hat, als in die Enge getriebener Täter gegenüber einem höheren Vorgesetzten oder als manisch besessener Ermittler, der mit seiner eigenen Geschichte konfrontiert wird. Er zeigt unendlich viele Facetten in Mimik und Gestik. Andrea Clausen gibt die liebe treu sorgende Ehefrau Maureen (mit Lockenwicklern und im blauen Morgenrock; Kostüme: Moidele Bickel), die ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellt und versucht, ihren Mann zum Reden zu bringen und dabei auch mit physischer Gewalt konfrontiert wird. Anfangs ganz souverän und jovial, später aber dann auch die Kontrolle über sich verlierend, der in Kojak-Manier Kaugummi kauende und stets rauchende Chief Inspector Cartwright des Roland Koch. Als stummer Beobachter und Kollege dabei: Benjamin Cabuk als Jessard. Und schließlich August Diehl als mutmaßlicher Kinderschänder Baxter. Sitzt er anfangs nur wie ein Haufen Elend am Tisch, spricht er später auf Augenhöhe mit Johnson, auch wenn ihn dieser, was physische Gewalt anbelangt, final besiegt.
Die Bühne von Martin Zehetgruber zeigt für den ersten Akt ein Wohnzimmer aus der Zeit der Uraufführung (mit von der Schwiegermutter geschenkten Porzellanfiguren), für die beiden weiteren Akte im Polizeirevier jeweils große Verhörzimmer in Baustellenatmosphäre (mit Ständerwänden und Rigipsplatten).
Am Ende großer Jubel im Schauspiel Frankfurt, mitsamt Standing Ovations.
Markus Gründig, April 17
Caligula
Schauspiel Frankfurt (Box)
Besuchte Vorstellung: 25. März 17 (Premiere)
Despoten sind derzeit angesagt. Nicht nur in der Weltpolitik, auch im Theater geben sie immer dankbare Rollen ab. Während derzeit an der Oper Frankfurt der alle Frauen verschlingende Wüstling Rigoletto sein Unwesen treibt, tut dies der römische Kaiser Caligula in der intimen Box des Schauspiel Frankfurt. Von Caligula handelt auch Detlef Glanerts gleichnamige Oper, die 2006 an der Oper Frankfurt uraufgeführt wurde. In beiden Caligula-Stücken geht es nicht um die historische Figur des wahnsinnigen Herrschers, sondern um das Drama von Albert Camus. „Die Tragödie der Erkenntnis“ (Camus), behandelt die philosophische Frage nach dem Sinn des Lebens.
Jungregisseur Dennis Krauß hat für die Box eine komprimierte Fassung (75-minütig) des vieraktigen Stückes geschmiedet. Er beschränkt sich auf die wichtigsten fünf Figuren und räumt dabei der Titelfigur den größten Raum, d.h. Textanteil, ein. So wird sehr viel gesprochen, aber so gut wie gar nicht gespielt (womit der Abend eine gewisse Umkehrung zu Ersan Mondtags Iphigenie ist). Caligulas despotische Entscheidungen, wie der Zwang, dass alle Wohlhabenden ihr Testament zugunsten des Staates ändern müssen, um sodann willkürlich umgebracht zu werden oder der Zwang, mehr die kaiserlichen Bordelle aufzusuchen (um die Staatseinnahmen zu fördern), werden zwar angesprochen, das maßlose Geschehen am kaiserlichen Palast kommt aber längst nicht so plastisch rüber, als würde man das Stück lesen oder gespielt sehen.
Die Darsteller stehen überwiegend barfüßig und in weißen Togagewändern, die mit blauen und roten Linien oder Gesichtszeichnungen verziert sind (Kostüme: Raphaela Rose), auf der vor Wellblechwänden umsäumten, aber ansonsten leeren Spielfläche nah an der Rückwand. Drei kleine Neonlichter hängen plakativ inmitten des Raums, sie bilden das Wort ROM. Die Buchstaben verlöschen mit der Zeit langsam nacheinander, bis es am Ende ganz dunkel wird und die Welt nach einem kurzen Blutrausch (rotes Licht) mit Caligulas Tod untergegangen ist (Bühne: Olga Gromova). Einzig Kaiser Gaius (Caligula) wechselt seinen Standort, die anderen bleiben stets an ihrem Ort. Oftmals wird chorisch gesprochen, beispielsweise wenn es um Caligulas Tanzperformance als Venus im Ballettröckchen geht. Ist auch der Abend überwiegend eine reine Textrezitation, machen dies die fünf Darsteller sehr gut. Und Ensemblemitglied Björn Meyer hat in der Titelrolle des intellektuellen und nihilistischen Verbrechers sehr viel Text, den er facettenreich, von leisem Flüstern bis zum wütenden Schreien vermittelt. Yodit Tarikwa (Caligulas Geliebte Caesonia), ebenfalls Mitglied des Ensembles, hat immer eine starke Präsenz, so auch hier. Ihre Blicke vermittelt selbst ohne viel Worte ganze Geschichten. Gereift wirkt auch Justus Pfankuch, der mit schroffen Anklagen den Patrizier Cherea gibt. Er ist Mitglied im SCHAUSPIELstudio, wie auch Alex Friedland (Dichter Scipico, dessen Vater von Caligula umgebracht wurde). Als Gast gibt David Hirst den freigelassenen Sklaven Helicon. Der aus Berlin kommende Hirst wirkt hier in erster Linie aber als Fingerstyler und Gitarrist, sein Spiel wird teils bruchstückhaft als Schleife ein- und von ihm überspielt. Es bildet trotz aller Schlichtheit einen abwechslungsreichen und faszinierenden Klanghintergrund.
Langer, intensiver Applaus für diesen kurzweiligen Erzählabend.
Markus Gründig, März 17
Handbagged
The English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 17. März 17 (Premiere)
Queen Mom lässt bitten. Zwar nicht in der Form, wie bei ihrem Besuch in Frankfurt am Main im Juni 2015, bei der Daniel Nicolai, Intendant des English Theatre Frankfurt die große Ehre zu fiel, beim Galaessen im Römer an der Seite von Bundespräsident Joachim Gauck am Tisch von Queen Elizabeth II. zu sitzen. In Moira Buffinis Handbagged haben dafür alle Zuschauer die Gelegenheit, die dienstälteste Monarchin in der britischen Geschichte, Queen Elizabeth II, ein Stück näher kennenzulernen. Und dies nicht nur in doppelter Form, als junge und als noch rüstige gereifte Repräsentantin des Britischen Empires, sondern auch im verbalen Schlagabtausch mit der politischen First Lady, der Premierministerin Margaret Thatcher. Das Stück wurde im Jahr 2013 im Tricycle Theatre in Kilburn uraufgeführt (basierend auf Buffinis gleichnamigen Einakter aus dem Jahr 2010, der für das Tricycle Theatre’s Women, Power and Politics Festival entstanden war) und schaffte es 2014 ins Londoner Westend (Vaudeville Theatre). Am English Theatre Frankfurt ist es jetzt erstmals in Deutschland zu sehen. Hier steht die aktuelle Spielzeit ja unter dem Motto „One Season to Rule Them All“
In sechzehn kleinen Episoden, die sich über die Jahre 1979 bis 1990 spannen, ist der Zuschauer Gast bei den wöchentlichen Gesprächen zwischen der Queen und der Premierministerin (die freilich fiktiv sind). Beide sind herausragende Frauengestalten (jedoch ohne feministische Ambitionen), jedoch könnten sie kaum unterschiedlicher sein. Queen Elisabeth II. ist die dienstälteste Monarchin in der britischen Geschichte, sie repräsentiert und ist bedacht, das Land zu einen und den Menschen ein Gefühl von Anteilnahme zu vermitteln (und sei es auch nur durch Handschütteln). Margaret Thatcher war eine das Land spaltende Kämpferin. Schon als Bildungsministerin sorgte sie u. a. durch die Abschaffung der kostenlosen Schulmilch für Aufruhr in Großbritannien. Als erste weibliche Premierministerin spaltete ihre rigorose Liberalismuspolitik das Land, denn die Folgen waren unübersehbar. Es gab schmerzhafte Reformen im ökonomischen und sozialen Bereich, Massenarbeitslosigkeit und eine starke Zunahme von sozialer Ungleichheit. Während die Realwirtschaft schrumpfte, konnte sich London als Finanzzentrum stark weiterentwickeln. Die 2013 nach schwerer Krankheit (mehrere Herzinfarkte und Demenz) gestorbene Thatcher glaubte fest an die Kraft des Einzelnen und misstraute deshalb umso mehr jedem Kollektivismus. Unpopuläre Entscheidungen zu treffen, fiel ihr nicht schwer. Der einst als Beleidigung ausgesprochene Titel „Eiserne Lady“ wurde zu ihrem Synonym. Der Ausdruck „Handbagging“ nimmt Bezug zu ihrem Politikstil, der im Oxford Dictionary als „einen anderen rücksichtslos behandeln“ definiert wird.
Die Bühne von Hannah Sibai zeigt ein elegant vertäfeltes Halboval mit samtrotem Teppich. Hier treffen die Damen zu Tee und Gin aufeinander und wahren natürlich, trotz aller Unterschiede, stets die Etikette. Esther McAuley (als jüngere) und Georgina Sutton (als ältere) geben Queen Elizabeth II. mit viel Güte und Freundlichkeit im Ausdruck. Prägnanter und bissiger können sich Genevieve Swallow (als jüngere) und Claire Vousden (als ältere) Premierministerin Margaret Thatcher zeigen. In unifarbenen Kleidern bzw. Kostümen und mit schlichten bequemen schwarzen Schuhen, tragen sie alle vier stets eine schwarze Handtasche, fast wie eine Verteidigungswaffe. Für Abwechslung, Aufruhr und auch köstlichen Spaß sorgen die jeweils mehrere Rollen, wie verschiedene Gewerkschafter, Unternehmer, Politiker und Staatsmänner bzw. deren Frauen spielenden, Phil Adèle und Mark Huckett.
Für den Zuschauer sind diese Begegnungen ein abwechslungsreicher und gut gemachter Parforceritt durch die britische Geschichte der 1980er Jahre (gestreift werden u. a. afrikanische Unabhängigkeitsbestrebungen, der IRA-Konflikt und der Falklandkrieg, wie auch die Beziehungen zu den USA). Zwischen den Szenen erklingen als schöne Reminiszenz kurz die Hits aus diesen Jahren. Regisseur Tom Wright ist die Umsetzung von Moira Buffinis Spagat zwischen Vermittlung von lehrreichen Fakten und unterhaltsamer Komödie gut geglückt. Viel Applaus für alle Beteiligte.
Markus Gründig, März 17
Blick von der Brücke
Theater Alte Brücke
Besuchte Vorstellung: 10. März 17 (Premiere)
Im April 2015 erfüllte sich ein Traum von Schauspieler und Regisseur Alexander J. Beck, er eröffnete sein eigenes Theater. Als Sachsenhäuser Bub musste dies natürlich seinen Sitz mitten in Hibbdebach, genau im hippen und pulsierenden Frankfurter Brückenviertel haben. Inmitten alt eingesessener Apfelweinwirtschaften, Cafés, Restaurants, Tätowierstudios und zahlreichen Läden, bietet das Theater Alte Brücke auf kleinem Raum 50 Publikumssitzplätze, dazu ist noch Platz für eine Bar, sodass sich in der schönen Atmosphäre des kleinen Saals (bei dem schon die Vielzahl der aufgehängten US-amerikanischen Playbill-Programmtitelblättern pure Theaterleidenschaft widerspiegeln) vor, während und auch nach der Vorstellung ein Drink genehmigt werden kann (zu moderaten Preisen). Es herrscht eine außergewöhnliche Atmosphäre im „kleinsten Off-Broadway-Theater der Welt“ (Eigenwerbung).
Mitten in der zweiten Spielzeit des Hauses feierte jetzt ein Dramenklassiker von Arthur Miller (Tod eines Handlungsreisenden, Hexenjagd) Premiere in der Kleinen Brückenstraße 5: Blick von der Brücke. Zuletzt war das 1955 uraufgeführte Stück 2011 in einer Inszenierung von Florian Fiedler in den Kammerspielen des Schauspiel Frankfurt zu sehen. Für die Inszenierung im Theater Alte Brücke ließen sich die Regisseure Alexander J. Beck und Sabrina Faber etwas Besonderes einfallen. Die Spielfläche wurde von der Bühne mitten in den Zuschauerraum verlagert. Das Publikum kann von zwei Seiten aus auf die Spielfläche schauen und kommt so dem Geschehen sehr nah. Viel Platz für große Requisiten bleibt da nicht, braucht es aber auch nicht. Zwei Bistrostühle, zwei Koffer und ein Plattenspieler (mit sentimentalen Songs von Dean Martin und The Mills Brothers) reichen, den Rest besorgen sechs Schauspieler, die sich mächtig ins Zeug legen, um die Aktualität der Geschichte des Hafenarbeiters Eddie, dessen trautes Zuhause durch zwei entfernte Familienmitglieder ohne Aufenthaltserlaubnis aus den Fugen gerät, zu belegen. Dabei ist die Musik mehr als bloße Untermalung. Der Song „Paper Doll“, den Rodolpho für Catherine singt, hat zentrale Bedeutung. Darin heißt es “I’m gonna buy a paper doll that I can call my own, a doll that other fellows cannot steal.” Nicht nur, dass Rodolpho. der schon mit seinen braunen Lackschuhen und seiner Liebe zu Langspielplatten auffällt, mit seiner hohen Tenorstimme auf der Arbeit den Spitznamen „Paper Doll“ bekommen hat, der Song spielt auch auf das Verhältnis zwischen Catherine und ihrem Onkel und Ziehvater Eddie an, für den sie weit mehr bedeutet, als er sich einzugestehen bereit ist. So konfrontiert Schwiegersohn in spe Rodolpho (gewitzt: Felix Bieske) den Eddie gewissermaßen mit seinen inzestuösen Gefühlen, das kann freilich nicht gut gehen.
Den für seine Frau und seine Nichte sorgenden Hafenarbeiter gibt der deutsch-französische Schauspieler Christoph Stein mit vielen Facetten, dabei mehr mit aristokratischer Anmut denn als in prekären Verhältnissen Lebender, wodurch die Figur mehr aus dem Hier und Heute zu entspringen scheint. Eine große Szene ist ein Blick zwischen Eddie und Catherine, wo sie sich tief in die Augen schauen und es keiner weiteren Worte bedarf, um ihr spannungsreiches Verhältnis zu zeigen. Maya Pinzolas bezaubert mit jugendlichem Elan als unerfahrene, gutgläubige und kokette Catherine in einem kurzen Kleidchen. Als energische, sich dann aber doch fügende Mama Beatrice (mit italienischen Wurzeln) zeigt Simone Wagner viel Herz. Jan Peter Nowak gibt den wortkargen, aufrichtigen und treuen, aber illegal für seine Familie arbeitenden Arbeiter Marco. Als erläuternder Erzähler fungiert Anwalt Alfieri (besonnen: Erik Barth; auch hart durchgreifender Beamter der Einwanderungsbehörde).
Nach gut 100 Minuten (mit einer Pause): Großer Applaus für eine Geschichte über unterdrückte Gefühle, die nicht an Aktualität eingebüßt hat.
Markus Gründig, März 17
Drei Tage auf dem Land
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 4. März 17 (Premiere)
Wehmut liegt über dem Abend. Was nicht nur mit dem Stück und den vielen unglücklichen Herzen darin zu tun hat. Drei Tage auf dem Land ist die letzte Neuinszenierung im Schauspielhaus während der Intendanz von Oliver Reese, der bekanntlich an das Berliner Ensemble wechselt. Mit Topinszenierungen wie Ödipus / Antigone, Dogville, Die Dämonen oder Medea, mit Publikumshits wie Der nackte Wahnsinn, Die Physiker oder Kunst, oder auch mit Stücken, deren Bühnenbild allein stark beeindruckte (wie Dantons Tod, Glaube Liebe Hoffnung oder Schuld und Sühne), waren im Schauspielhaus in den letzten acht Jahren viele außerordentliche Inszenierungen zu erleben. Zu diesen kann auch Drei Tage auf dem Land gezählt werden. Mit dem Portrait einer im Müßiggang lebenden russischen Landfamilie schließt es gewissermaßen einen Bogen zu Tschechows Drei Schwestern, das hier im Oktober 2009 Premiere feierte und bietet wie zuletzt auch Tracy Letts Eine Familie, großes Schauspielertheater.
Der britische Dramatiker Patrick Marber (Hautnah) hat für Drei Tage auf dem Land Iwan Turgenjews Ein Monat auf dem Lande von 1855 komprimiert und mit pointiert gesetzten Dialogen in eine zeitgemäße Form über Spielarten der Liebe gebracht. Von John Birke wurde das Stück ins Deutsche übersetzt und nun am Schauspiel Frankfurt erstaufgeführt.
Zieht es sich zum Ende hin auch etwas und sind aus den angekündigten drei Stunden dreieinhalb geworden (bei einer Pause), ist es dennoch eine sehr geglückte Inszenierung. Auch der anwesende Autor Patrick Marber zeigte sich beim Schlussapplaus sehr glücklich.
Drei Tage auf dem Land folgt den Stücken Der Diener zweier Herren, Stella, Die Möwe, Glaube Liebe Hoffnung und Der Sturm, die der Regisseur Andreas Kriegenburg bereits schon für das Schauspiel Frankfurt erarbeitet hat (am 16. Juni 17 wird zudem in der Oper Frankfurt seine Tosca-Inszenierung wiederaufgenommen). Auch aktuell zeichnet er für Regie und Bühne gleichermaßen verantwortlich. Letztere zeigt ein sommerliches Landidyll in warmer Optik. Vorne ein Garten mit Rasen (dem die Hitze teilweise schon zugesetzt hat), dann ein mit Stühlen vollgestopftes Durchgangsgebäude mit vielen Glasfenstern in der Art einer Orangerie, dass sich über die ganze Bühnenbreite erstreckt und dessen Lack schon abblättert. Dahinter ein Innenhof und auf einem Prospekt das Hauptgebäude. Nach der Pause ändert sich die Perspektive, dann ist die Anordnung genau andersrum, der Blick geht quasi vom Hauptgebäude in den Innenhof und dann auf das nun etwas nach hinten versetzte Durchgangsgebäude. Trotz sommerlicher Kleider (Kostüme: Irina Spreckelmeyer) wird ordentlich geschwitzt und Luft zwischen die Beine gefächert. Doch viel problematischer sind die Hitzeanwallungen aufgrund von Liebesgefühlen, die zwischen den unterschiedlichen Paarkonstellationen ständig für aufbauschende Gefühlsregungen sorgen (insbesondere im Teil nach der Pause).
Darstellerisch ist der Abend außerordentlich gelungen. Allen voran ist Franziska Junge als Gutsbesitzerin Natalya in Höchstform (auch körperlich, mit Radschlägen und Spagat). Sie muss sich gleich um vier Männer kümmern. Zum Glück wird Sohn Kolja (Quentin Ritts, alternierend mit Ben Schmitt) von Privatlehrer Shepherd (einfühlsam: Michael Benthin) betreut und ist der unglückliche Ehemann Arkadij (mit harter Schale über weichem Kern: Isaak Dentler) viel mit dem Bau seines Staudamms beschäftigt. So hat sie mit ihren Gefühlen zwischen Gelegenheitsfreund Rakitin (sich vor unerwiderter Liebe verzehrend und an einen sieben Jahre zurückliegenden Kuss erinnernd: Felix Rech) und dem neuen wesentlich jüngeren Hauslehrer Beljajew (das Leben genießend: Owen Peter Read, Mitglied des SCHAUSPIELstudio Frankfurt) zu kämpfen. In den hat sich auch Pflegetochter Vera (intensiv Unerfahrenheit spielend: Alexandra Lukas, Mitglied des SCHAUSPIELstudio Frankfurt) verliebt.
Und auch die weiteren Figuren kommen groß raus. Oliver Kraushaar gibt einen enthusiastischen Arzt und ehrenhaften Brautsucher Spigelskij, Peter Schröder einen reichen aber unbeholfenen und vereinsamten Nachbarn Bolschinzow. Köstlich amüsant ist auch wieder Verena Bukal, hier als Gesellschafterin Lizaveta, die auf ihrem Schnupftabak, ein Gläschen Wein und laute Musik besteht. Heidi Ecks´ Anna, die Mutter des Gutsbesitzers Arkadij, ist voller Esprit und kein altes Mütterchen. Mit den örtlichen Nebenräumen bestens vertraut ist das nicht lange herumfackelnde Dienstmädchen Katja (lebhaft: Elena Packhäuser), der der Bedienstete Matwej (sehnsuchtsvoll: Carlos Praetorius) erfolglos hinterherschmachtet.
Am Ende sehr viel Applaus für diese klassisch gehaltene Inszenierung, die auch mit reichlich Komik und Gesang aufwartet.
Markus Gründig, März 17
Birdland
Schauspiel Frankfurt und HfMDK Frankfurt (im Bockenheimer Depot)
Besuchte Vorstellung: 3. März 17 (Premiere)
Der neunminütige Song „Birdland“ der „Godmother of Punk“ Petti Smith ist tief melancholisch (aus ihrem Debütalbum Horses von 1975). Er handelt von einem Jungen, der seinem Vater nachtrauert. In Simon Stephens gleichnamigen Stück, das eine Hommage an diesen Song sein soll, gibt es auch einen Jungen, dessen Vater aber noch lebt, doch die Beziehung zwischen ihnen ist seit langem abgestorben. Der Junge ist ein Mega-Rockstar, der die größten Hallen dieser Welt füllt und die Erdung zum normalen Leben verloren hat. Der Rausch von zig tausend Gesichtern, die ihn bei seinen 200 Konzerten pro Jahr anstarren, hat ihn verändert. Soziale Spielregeln gelten für ihn nicht, im Gegenteil. Die Freundin seines besten Freundes zu ficken, ist ihm ein Triumph, wie er auch sonst gerne Menschen manipuliert. Das bleibt natürlich nicht ohne Folgen, weder für ihn, noch für seine Umwelt.
Das Stück des schreibaktiven britischen Dramatikers Simon Stephens wurde 2014 in London uraufgeführt, die deutschsprachige Erstaufführung fand im Oktober 2016 in Mannheim statt. In einer Kooperation von Schauspiel Frankfurt, der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt (HfMDK) und der Hessischen Theaterkademie ist es jetzt im Bockenheimer Depot zu sehen. Es spielen Studierende im 3. Ausbildungsjahr Schauspiel der HfMDK. In gleicher Kooperation war hier 2014 bereits Simon Stephens Punkrock zu erleben. Die aktuell Studierenden im 3. Ausbildungsjahr haben ab der Spielzeit 2017/18 zum Teil bereits erste Festengagements in der Tasche (wie Altine Emini am Schauspiel Frankfurt, Julian von Hansemann am Staatstheater Mainz oder Burak Hoffmann am Theater Oberhausen).
Die Regie führt Till Weinheimer, der vor allem als Schauspieler (u. a. in Eine Familie, Die Wiedervereinigung der beiden Koreas, Die Physiker und Phädra) bekannt ist. Sein Bruder Chris Weinheimer hatte bei den Jugendclubprojekten United in Peace and Freedom und Freiraum gemeinsam mit Martina Droste Regie geführt, hier ist er nun für die Musik zuständig. Im rechten Seitenschiff des Bockenheimer Depots wird im Hintergrund eine Musikbühne angedeutet, davor befindet sich der Backstagebereich, mit großen Boxen für die Technik und eine Garderobe an der linken Seite. Hotelsuiten, neben der Bühne das andere Zuhause des Rockstars, werden mittels Klubsessel angedeutet (Bühne, auch Kostüme: Sibylle Gädeke).
Zentrale Figur ist der Rockstar Paul. Es ist eine herausfordernde und sehr große Rolle, ist er doch die ganzen 90 Minuten über auf der Bühne präsent und muss viele Facetten zeigen. Julian von Hansemann gibt ihn großartig und souverän, mit großem körperlichen Einsatz als charmanten Verführer, Kumpel und Überflieger, bis hin zum großen Egoisten und Arschloch, um am Ende einsam und am Boden zerstört zu sein. Nicolai Gonther ist, authentisch wirkend, Pauls treuer Freund und Mitmusiker Johnny. Wenn die volle Wahrheit ausgesprochen ist, kommt es zwischen den beiden zu einer ordentlichen Rauferei (Kampftraining: Annette Bauer). Viel Esprit versprüht Léa Zehaf als Liebschaft Marnie, die mit ihrem Ehrentod auch Pauls Leben nachhaltig beeinflusst. Die selbstbewusste attraktive Annalisa, Gattin eines Architekten, verkörpert Altine Emini (auch Madeline) mit Glamourfaktor. Die Zahlen sind Jenny (mit Selbstbewusstsein reifend: Sophia Hahn) nicht in den Kopf gestiegen, auch wenn die ehemalige Mathematikerin zunächst im Hotelservice arbeitete und dann Pauls Lockrufen folgt. In ihren Doppelrollen überzeugen auch die restlichen drei Darsteller: Johanna Miller als agiles Tanzmädchen Lucy und rigorose Polizistin Evans, Hans-Christian Hegewald als einfältiger Fan David und gewiefter Dealer Louis, sowie Burak Hoffmann als gerissener Reporter Luc und hart durchgreifender Polizist Richer. Peter Schröder aus dem Ensemble des Schauspiel Frankfurt ist als Pauls Vater Alistair per Videoeinspielung zu sehen.
Sehr viel Applaus nach pausenlosen 90 Minuten.
Markus Gründig, März 17
Volle Kraft Helau oder Des gibt´s uff käm Schiff!
Mainzer Carneval Verein im Staatstheater Mainz
Besuchte Vorstellung: 21. Februar 17 (Premiere)
Am 21. Februar 17 kündigten die Papenburger Meyer Werft und Aida Cruises anlässlich des Stahlschnitts für einen neuen Megaliner eine neue Schiffsgeneration an. Die sogenannte Helios-Klasse wird mit über 2.500 Passagierkabinen nicht nur noch größer (und einer Plattenhaussiedlung immer ähnlicher) als alle bisherigen AIDA Schiffe, sondern weltweit die erste Generation an Kreuzfahrtschiffen sein, die auch komplett mit tief gekühltem, verflüssigtem Erdgas (LNG) fahren können. Kreuzfahrten sind im Boom, sei es mit kleinen oder großen Schiffen. In Mainz hatte am 21. Februar 2017 ein ganz anderes Schiff seinen Stapellauf: die „MS Määnzer Fassenacht“. Am Staatstheater Mainz ist es seit 1838 (!) eine wunderbare Tradition, dass zur Fastnacht die Narren ins Haus einziehen. Die Amateur-Schauspielgruppe des Mainzer Carneval Vereins 1838 e. V., auch „Die Scheierborzeler“ genannt, zeigt hier jedes Jahr ein spartenübergreifendes Stück. Dieses Jahr mit Christian Pfarrs Volle Kraft Helau oder Des gibt´s uff käm Schiff! gar eine Uraufführung, mit einem Kreuzfahrtschiff auf der Bühne. Die Geschichte ähnelt einer ZDF-Traumschifffolge, wie es auch zahlreiche Anspielungen auf Personen und Bräuche (wie die Galatorte mit Wunderkerzen) gibt. Im Stück begibt sich die „MS Määnzer Fassenacht“ vom Mainzer Rheinufer gen Rotterdam. Dort kommt sie aber nicht an, denn beim Passieren des Loreleyfelsens läuft sie durch Loreleys (Anne Sartoris) Eingreifen auf Grund und muss zur Kontrolle zurück nach Mainz. Den illustren Gästen an Bord macht das nichts aus. Trotz allerlei Wirrungen steht schließlich einer geplanten Hochzeit nun nichts mehr im Wege und auch zwei Liebespaare haben sich glücklich gefunden.
Pfarrs Stück ist mit viel Lokalkolorit versehen, die Texte sind sehr leicht verständlich, oftmals auch sehr vorhersehbar. Der guten Stimmung im vollen Haus tut dies aber keinen Abbruch. Im Gegenteil, es wird viel mit Bezug zu Mainz und zum Wein gesungen, von Wagners Holländer („Steuermann“) bis zur Waterloo-Melodie von Abba, geschunkelt und gelacht (wobei auch der Großteil der Zuschauer großartig kostümiert ist).
Heidi Pohl, hauptberuflich Souffleuse am Staatstheater Mainz, ist seit 18 Jahren als Regisseurin für die Fastnachtspossen verantwortlich. Ihr großer Erfahrungsreichtum kommt der Produktion sehr zugute. Neben den Hauptakteuren gibt es auch zahlreiche stumme Rollen, die die Szenerie bereichern. Dies sind teils Reisende, die sich an der Reling anlehnen und zum Beispiel ihrem Strickhobby nachgehen oder sich einfach im Salon auf eine Tasse Kaffee treffen. Eine besondere Bedeutung haben Fabelwesen wie ein Klabautermann (Nanni Kepplinger) oder Vater Rhein (Elmar Maus) höchstpersönlich. Und auch ein Jack Sparrow (Sabine Bonewitz als Johnny) treibt sein Unwesen an Bord (Kostüme: Elena Meier-Scourteli).
Größter Coup des Stücks ist die Bühne von Lisa Busse, die eine imposante Ansicht auf ein Kreuzfahrtschiff mit drei Ebenen zeigt. Detailverliebt zeigt sie Bereiche wie eine Brücke, Salon, Küche und Kabinen, bis hin zum Maschinenraum. Und das an den Wänden durch den Allwettereinsatz etwas der Lack ab ist, ist auch nur zu natürlich.
Die zahlreichen Määnzer Hits (Arrangements: Mike Millard) spielt das Philharmonische Salonsolisten unter der musikalischen Leitung von Erika le Roux mit viel Pathos. Mit viel Energie und Schwung bringt sich vor der Pause auch das MCV Ballett (Leitung Anne Beckhaus und Bianca Heinen) ein (ohne größere artistische Einlagen). Doch dass die Herzen der Zuschauer erreicht werden, dafür sorgen die erfahrenen Laiendarsteller. Allen voran Andreas Kerz als souverän aufspielender Chefsteward Sascha Schön, der das Herz der vielseitigen Azubine Helene (Tina Dockhorn) erobert. Patricia Schwab gibt die anspruchsvolle Passagierin Jeannette Schneegisch, Stefanie Lattreuter die trinkfreudige Weingutsbesitzerin Gertrud Gutedel aus Nackenheim. Als deren Vater entpuppt sich Kapitän Jochen Mast (Herbert Steinbauer). Die Showstars an Bord sind Marlene Biebrich (Sylvia Kipper) und der singende Seemann (Franz Pohl), die Drehbuchautorin Britta Sanella gibt Claudia Klöver. Sich den Erwartungen erfolgreich widersetzend überzeugt Tobias Ludwig als Passagier Leo, dessen Verlobte Kate (Stefanie Huff) nach Kernigerem strebt. Und auch die, die für eine Schifffahrt unverzichtbar sind Schiffskoch Kurti Koch (Jennifer Schorr) und Steuermanm Kai Dunst (Carsten Schimmel).
Einer der gelungensten Szenen ist zum Ende hin, das mit „My Heart Will Go On“ aus dem Kinofilm Titanic unterlegte Davongleiten der “MS Määnzer Fassenacht”, wenn Kate und Leo am Bug stehen und die restlichen Passagiere hinterherwinken. Ein Potpourri an Määnzer Hits reißt das Publikum aus den Stühlen. Sehr viel gute Laune, große Jubel- und Feierstimmung.
Markus Gründig, Februar 17
Orestes
Staatstheater Mainz
Besuchte Vorstellung: 19. Februar 17
Die Geschichte ist harter Tobak. Die Mutter und ihr Liebhaber töten den Vater, worauf der Sohn, auf Drängen seiner Schwester, Rache nimmt und die eigene Mutter tötet. Die Welt ist schlecht, nicht nur heute, auch schon vor über 2425 Jahren. Da schrieb, 408 v. Chr., Euripides sein Drama Orestes, das genau diese Geschichte erzählt (wie auch Aischylos diesen Mythos dramatisierte). Niklaus Helbling, Hausregisseur am Staatstheater Mainz, brachte Orestes nun auf die Bühne des Kleinen Hauses. Nach einem etwas zähen Anfang, mit viel Text und wenig Handlung, nimmt die Inszenierung dann doch noch ordentlich Schwung auf. Dabei steht zu Beginn eine durchaus prekäre Szene. Orestes duscht, nachdem er von seinem Krankenbett aufgestanden ist. Beim Anblick des nackten Mannes, der aber nur von hinten zu sehen ist, verlässt eine Zuschauerin bereits den Saal. Pech für sie, denn im Nachfolgenden wird zwar hart gerungen, gekämpft und versucht weiter zu töten, doch dies ist die einzige Szene von Orestes im Adamskostüm.
In knapp pausenlosen zwei Stunden zeigt Niklaus Helbling das Drama ohne Textaktualisierungen (in der Übersetzung von Peter Krumme). Gesprochen wird sehr schön deutlich, gleichwohl muss man sich an die oftmals lautstarken Ausbrüche, zur Untermauerung der inneren Not, der sich in Extremen befindlichen Protagonisten, erst einmal gewöhnen.
Gespielt wird im Innenhof von Agamemnons Haus. Dieser vermittelt im Bühnenbild von Jürgen Höth eine passende mediterrane Atmosphäre, mit griechisch anmutendem Bodenmuster, sandfarbenen Wänden und hölzernem Tor. Dazu gibt es einem Einblick in den mondän anmutenden Innenbereich. Zeitgemäß sind die Kostüme von Eugenia Leis, insbesondere bei den Schuluniformen des Chors und im mit LED-Leuchten ausstaffierten Anzug von Lichtgott Apollon (strahlend: Henner Momann).
Die Darsteller sind mit großem körperlichen Einsatz dabei. Insbesondere Nicolas Fethi Türksever, den es bei Orestes‘ Wahnsinnsanfällen ordentlich durchrüttelt. Bei aller inneren Stärke die er auch nach außen vermittelt, hat er aber auch besonnene Züge. Sehr einnehmend und kämpferisch ist Lilith Häßle als seine Schwester Elektra. Die beiden bilden ein starkes Paar. Voller Elan bringt sich Rüdiger Hauffe als Vetter und Freund Pylades ein. Wortgewandt ist vor allem der Menelaos (Bruder Agamemnons) des Murat Yeginer. Seine Frau Helena verkörpert glanzvoll Leoni Schulz. Besonnen ist Helenas Vater Tyndareos (Armin Dillenberger). Beachtenswert ob ihrer klaren Aussprache und Bühnenpräsenz ist nicht zuletzt die junge Irem Kurt als Hermione (wechselnd mit Lara Hessinger). Der Chor bringt sich unter der Chorführerin Antonia Labs mit zeitgemäßen Gesang (Musik: Dominik Fürstberger) und Wort ein.
Nach einem furios sich steigernden Finale und dem Abfackeln der Behausung (Video: Elke Auer / Philipp Haupt) wirkt der Freispruch Apollons zwar etwas unerwartet. Jubelnder Applaus.
Markus Gründig, Februar 17
Ich, ein Anfang
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 18. Februar 17
Vor kurzem sind die von der BHF-BANK-Stiftung initiierten FRANKFURTER POSITIONEN 2017 mit großem Erfolg zu Ende gegangen. Insgesamt neun Uraufführungen und neue Werke in den Sparten Theater, Performance, Musik, Tanz und Bildende Kunst, stießen bei Publikum und Kritikern auf großes Interesse. Sie boten viel Anlass, kontrovers zu diskutieren und auch verschiedenste Facetten des Festivalthemas ICH RELOADED – Das Subjekt im digitalen Netz zu entdecken. Ihr Ziel: „Den sich immer schneller vollziehenden gesellschaftlichen Wandel mit zeitgenössischen künstlerischen und wissenschaftlichen Positionen kritisch zu begleiten“.
Als Auftragswerk der FRANKFURTER POSITIONEN entstand auch Sasha Marianna Salzmanns Ich, ein Anfang. Salzmann, Hausautorin am Maxim Gorki Theater in Berlin, greift in ihrem Stück keine digitalen Themen auf. Schon gar keine virtuellen wie beispielsweise Jennifer Haley in Die Netzwelt. Ihr reicht eine Nacht voller zurückliegender Ereignisse, Fragen und Ungereimtheiten von vier jungen partyfreudigen und dennoch sehr unterschiedlichen WG-Bewohnern in Frankfurt, um das „Ich“ zu hinterfragen. Was macht es aus? Wie ist es geprägt, durch meine Sicht auf mich oder die Sicht der anderen auf mich? Aber was sehen die anderen von mir? Welche Bilder haben sie über mich in ihrem Kopf?
Für das Schauspiel Frankfurt hat Bernadette Sonnenbichler, Hausregisseurin am Düsseldorfer Schauspielhaus, Ich, ein Anfang in den Kammerspielen inszeniert. Die offene Bühne von Wolfgang Menardi (auch Kostüme) zeigt mittig einen karg ausgestatteten Raum der WG (mit Bett und einem alten Doppelspind), der überwiegend von Glasscheiben umsäumt ist (der Rest der Wohnung wird durch die schwarzen Mauern der Bühne angedeutet). Vier kleine und verstreut positionierte Monitore übertragen abstrakte Videobilder (die auch auf die Glaswände projiziert werden, dazu gibt es auch Livebilder von Re (geheimnisvoll: Sina Martens vom SCHAUSPIELstudio als kommentierendes Schattenwesen; Video: Oliver Rossol). Die mystische Atmosphäre wird durch die Soundcollagen von Jacob Suske treffend untermalt.
In der Mitte des Zimmers klafft ein Krater, als hätte dort eine Bombe eingeschlagen, der Boden ist übersät mit Asche. Der Krater weist auf den Selbstmordattentäter hin, der auf der Haupteinkaufsstraße vier Menschen mit in den Tod gerissen und zahlreiche verletzt hat. Sellal (sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden gebend: Miriam Joya Strübel) ist dem Unglück nur entkommen, weil sie einem Straßenmusiker beim Flötenspiel zugehört hatte. War das Zufall, Glück oder vielleicht doch nur ein Traum? So wie die anderen Erlebnisse, die zur Sprache kommen? Wie Nanas (einfühlsam, stark und doch verletzlich: Yodit Tarikwa) brutales Ausrasten bei einer potentiellen Liebhaberin, weil sie sich von ihr verarscht fühlte (und als Strafe nun am Tag nach dieser denkwürdigen Nacht ins Gefängnis muss, dort aber meint, sie selbst sein zu können). Oder Efraims (grandios unterhaltsam: Lukas Rüppel) Erklärung für seine zwanghafte Sehnsucht nach Berührung und menschlicher Nähe und Wärme. Eingebettet sind diese Erlebnisse in ein größeres Thema, in das mysteriöse Verschwinden der Mitbewohnerin Re, die zahlreiche Fotos von Personen, Freunden und Verwandten, in ihrem Zimmer an die Wände geklebt hat, die in Wirklichkeit aber Fremde sind, denn die Bilder hat sie auf Flohmärkten erworben. Aber macht das einen Unterschied? Drücken die Bilder nicht dennoch aus, was und wie sie sein und wahrgenommen werden wollte und damit, was sie ist?
Am Ende sind die WG-Bewohner Re nicht wirklich näher gekommen, wissen aber ein klein wenig mehr über sie, aber eigentlich nichts.
Sehr viel Applaus.
Markus Gründig, Februar 17
4.48 Psychose
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 17. Februar 17
Im Rahmen der Thementage „Digitale Welten“ war vor einem Jahr Kay Voges außergewöhnliche Inszenierung von Sarah Kanes 4.48 Psychose auf der Bühne des Schauspielhauses in Frankfurt zu erleben. Die Produktion des Schauspiel Dortmund, die in Kooperation mit dem Chaostreff Dortmund e.V. entstand, begeisterte mit ihrer bildgewaltigen medizinisch-technischen Umsetzung und mit drei überaus intensiv aufspielenden Darstellern. Kein leichtes Erbe. Denn nun hat das Schauspiel Frankfurt für die Spielstätte Box eine eigene Inszenierung auf die Beine gestellt. Für die Regie wurde Daniel Foerster verpflichtet. Er ist Mitglied im REGIEstudio und hat in der Box zuletzt mit Der goldene Fleiss und zuvor mit Fräulein Julie auf sich aufmerksam gemacht. Sein größter Erfolg ist jedoch Totentanz, das Stück wird ob der großen Nachfrage wegen inzwischen im Schauspielhaus (und nicht mehr in den Kammerspielen) gezeigt.
Auf den ersten Blick vermittelt seine Umsetzung von 4.48 Psychose eher gemütlich und humorvoll, denn technikaffin und beunruhigend wirkend à la Voges an. Die Spielstätte Box ist nun eine Art moderner Varietéraum. Wände und Boden sind mit einem Velours in kräftigem Rot belegt, die Stuhlreihen durch rückenlose Bänke ersetzt (auch mit rotem Velours überzogen). Es herrscht eine gemütlich anmutende Grundatmosphäre, die an eine Lounge erinnert. Gespielt wird auf fast leerer Bühne vor einem geschlossenen roten Vorhang (Bühne und auch Kostüme: Mariam Haas und Lydia Huller). Das Innere der an einer schweren Depression leidenden Sarah Kanes (die im Februar 1999 mit 28 Jahren Suizid verübte) bleibt gewissermaßen verborgen bzw. entfaltet sich mittendrin, im Leben.
Ihr Stück folgt keiner Dramaturgie, ist ein Fluss aus Gedanken und Zahlen, ohne Zuordnung zu bestimmten Personen. Wo Voges in seiner Inszenierung danach fragt was einen Menschen jenseits seines Datenmaterials ausmacht, begibt sich Foerster auf die Suche nach Identität in einer Gesellschaft, die aus vorgespielter Authentizität und inszenierter Originalität besteht. Für ihn führt vor allem die Angst nicht dazuzugehören, ausgegrenzt zu sein, zum pathologischen Zustand. Wobei er den medizinischen Anteil weitestgehend ausgrenzt. Die beobachtenden und Fragen stellenden Ärzte kommen zwar vor, nicht jedoch die diversen Antidepressiva wie Citalopram, Lofepramin und Sertralin (bei deren nachlassender Wirkung, um 04.48 Uhr, die Klarheit vorbeischaut). Dafür hat Foerster Fremdtexte integriert. Dargeboten wird das Ganze kurzweilig und kunstvoll zwischen Ernstem und Groteskem wechselnd. Es gibt auch viel Musik, auch wird gesungen (selbst zaghaft im Publikum: „Du schaffst das schon“), wie auch eine handvoll bunt dekorierter Donuts von den Darstellern wie Teilen des Publikums verzehrt werden.
Drei Darsteller übernehmen abwechselnd die Rolle der leidenden Person und die sie betreuende Umwelt (Ärzte und auch eine Show-Moderatorin). Dass die Welt eine Bühne ist, wird gleich zu Beginn an den Kostümen deutlich. Björn Meyer tritt verstört fragend in einem edlen Jogginganzug vor, Maike Jüttendonk trägt eine glitzernde Hose mit Weste und Viktor Tremmel ein Glitzerkleid, das stark an eine Kittelschürze erinnert (die er später ablegt und offen seinen Damenslip in kurzer Strumpfhose vorführt). Die drei spielen fantastisch und sehr körperbetont, allen voran Ensemblemitglied Viktor Tremmel. Kanes Gewaltfantasien zeigt er mit brillanten Grimassen und Körperaktionen bei seiner Performance als Möchtegern-Batman, während die anderen beiden ihm ihre Stimmen leihen. Viele Facetten zeigt auch Björn Meyer, nicht zuletzt als geschundene Figur, die nur um des bloßen Aufsehens willen sich die Pulsader aufschlitzt. Die Überraschung des Abends ist jedoch Maike Jüttendonk, die bei dieser Produktion erstmals am Schauspiel Frankfurt zu sehen ist. Anfangs vermittelt sie den Eindruck einer selbstbewussten, starken und verwöhnten Tochter aus gutem Hause, der man alles andere als eine schwere Psychose zutraut. Doch schon bald wird sie auf den Kopf gestellt und quer durch den Raum getragen. Sie wandelt sich überzeugend stark, bis hin zur großen Verzweiflung, alles stets mit großer Präsenz.
Am Ende folgt Daniel Foerster exakt der Vorlage und beschließt das Stück mit „bitte öffnet den Vorhang“, wobei dann der Vorhang aufgereiht wird und die Darsteller durch drei Türen ins Nichts verschwinden.
Freundlicher und langer Applaus.
Markus Gründig, Februar 17
Common Ground
Maxim Gorki Theater Berlin zu Gast im Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 11. Februar 17
Europa befindet sich inmitten einer Krise. Dies nicht erst seit der Diskussion über einen möglichen Austritt Griechenlands aus der Eurozone, dem möglichen Grexit. Die aktuellen Vorbereitungen vom Ausscheiden Großbritanniens (und Nordirlands) aus der Europäischen Union verdeutlichen, wie die Ankündigungen von Marine Le Pen, bei einem Wahlsieg auch Frankreich aus der EU zu führen, dass ein grundlegendes Umdenken erforderlich ist. Denn darüber hinaus gibt es in allen weiteren EU-Ländern Kritik und unterschiedliche Auffassungen, wie ein geeintes Europa auszusehen hat (bei insgesamt wenig konstruktiven Vorschlägen). Die von Anja Nioduschewski kuratierten Thementage „Erfindung Europa“ des Schauspiels Frankfurt versammelten vom 10. bis zum 12. Februar 2017 namhafte Denker, Politiker und Aktivisten wie u. a. Jakob Augstein, Daniel Cohn-Bendit, Michel Friedman und Navid Kermani, um in Vorträgen und Diskussionen Ideen und Forderungen für Europa zu formulieren und zur Diskussion zu stellen. Wie soll sie aussehen, die „Erfindung Europa“?
Losgelöst von tagespolitischen Themen, aber dennoch das Herz Europas treffend, wurde im Rahmen dieser Thementage die im März 2014 uraufgeführte Produktion Common Ground des Berliner Maxim Gorki Theaters ins Schauspielhaus eingeladen. Die Stückentwicklung der österreichisch-israelischen Theaterregisseurin und Autorin Yael Ronen greift ein Thema auf, das für die meisten in Deutschland als abgeschlossen gilt, in den Köpfen der Betroffenen aber noch sehr lange nachwirken wird: der Zerfall Jugoslawiens und die Kriege in Bosnien und im Kosovo. Vier Frauen und drei Männer, teils im ehemaligen Jugoslawien geboren und teils mit Eltern, die vor dem Krieg nach Deutschland geflohen sind, begeben sich auf eine gemeinsame Reise zurück in das Bosnien von heute. Die Reise soll nicht nur helfen, die eigene Identität zu finden, sondern auch das Gemeinsame, ihren „Common Ground“ zu entdecken.
In kurzweiligen 100 Minuten wird der Zuschauer gewissermaßen Teil dieser Reisegruppe und nimmt an deren Schicksal teil. Es ist ein Fest der Freude, aber auch ein Erschrecken und eine Konfrontation mit den oftmals verdrängten und unterdrückten Themen (wie die massenhaften Vergewaltigungen von Frauen und Männern, von elternlosen Kindern, von Konzentrationslagern inmitten Europas, wo zeitgleich andernorts das ganz normale Leben weitergeht). Der Abend beginnt mit einem Vortrag der allwissenden Israelin Orit, der schon bald Tim, als überaus korrekter und wissensdurstiger Deutscher in Badeschlappen, ins Wort fällt. Mit Musikeinspielungen (Musik: Nils Ostendorf) und Bildprojektionen (Video: Hanna Slak) wird zunächst die Zeit ab 1991 in Erinnerung gerufen. Der Bilder- und Tonflut werden Details aus den Kriegen gegenübergestellt. Danach wird es persönlicher. Die Protagonisten werden zu Figuren, deren Geschichte berührt. Wie die zwischen der Tochter eines im Straflager verstorbenen Gefangenen und der Tochter eines Aufsehers aus diesem Lager. Große Gefühle bis hin zu Tränen gibt es auch bei den Männern. Gespielt wird vor einer Leinwand und mit zahlreichen Holzkisten (Bühnenbild: Magda Willi), die mehrfach umfunktioniert werden (wie zu einer Bar, an der mit Wehmut an die üppigen Trinkgelder durch die Reporter während des Krieges gedacht wird, oder zu einer Sitzgelegenheit oder einem Unterschlupf). Letztes verbindendes Element ist der Gesang, weshalb ein gemeinsam gesungenes Lied den Abend beendet.
Am Ende dieser autobiografisch geprägten Reportage gab es im ausverkauften Schauspielhaus frenetischen Applaus und Standing Ovations für die mit großer Intensität agierenden Darsteller (Vernesa Berbo, Mateja Meded, Jasmina Musić, Orit Nahmias, Tim Borath, Dejan Bućin und Aleksandar Radenković).
Um die Zukunft Europas geht es auch in dem Schauspiel- und Theaterstück Safe Places von Falk Richter. Vom 26. bis 29. April 2017 wird es letztmalig gespielt (der Kartenvorverkauf läuft bereits).
Markus Gründig, Februar 17
Eine Familie
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 13. Januar 17 (Premiere)
Mit Ferdinand von Schirachs Terror war das Schauspiel Frankfurt am Puls der Zeit, fand hier doch parallel mit dem Deutschen Theater Berlin die Uraufführung statt. Doch es gibt auch angesagte Stücke, die in Frankfurt/M nicht gezeigt werden, oder in anderen Häusern (wie beispielsweise Yasmina Rezas Der Gott des Gemetzels, das 2008 im Fritz Remond Theater auf die Bühne kam). Auch Eine Familie des US-amerikanischen Schauspielers und Dramatikers Tracy Letts (Jahrgang 1965) ist ein Stück, bei dem man sich fragt, warum es noch bisher nicht in Frankfurt/M gespielt wurde (die deutschsprachige Erstaufführung fand bereits 2008 unter der Regie von Burkhard C. Kosminski am Nationaltheater Mannheim statt, in Wiesbadener Staatstheater war es ab Oktober 2015 zu sehen). Schließlich wurde Letts dafür nicht nur mit dem Pulitzer-Preis für Theater ausgezeichnet und das Stück gewann im Jahr 2008 fünf Tony Awards (u. a. als Best Play). Am bekanntesten dürfte es durch die Hollywood Verfilmung unter dem Titel „Im August in Osage County“ sein, die 2014 in die deutschen Kinos kam. Bei dieser spielten erstmals Meryl Streep und Julia Roberts gemeinsam vor der Kamera. Wahrscheinlich kommt, dachte sich Oliver Reese, Intendant des Schauspiel Frankfurt, das Beste zum Schluss. Denn zur nächsten Spielzeit wechselt er als Intendant an die legendäre Brechtbühne nach Berlin: zum Berliner Ensemble. Eine Familie ist seine letzte Inszenierung am Schauspiel Frankfurt und ein Stück für ein großes Ensemble. Und alle Beteiligten fahren mächtig auf, sodass diese Inszenierung sicher schnell zu einem Publikumshit avancieren wird (sämtliche derzeit verfügbaren Aufführungen im Januar und Februar sind bereits ausverkauft).
Eine Familie handelt vom Zusammentreffen einer Familie, nachdem sich der Vater das Leben genommen hat. Die drei erwachsenen Töchter kehren mitsamt Anhang ins elterliche Haus, in einer kleinen Ortschaft im Landstrich Osage County (US-Bundesstaat Oklahoma) zurück, wo die Mutter zwar krank, aber die unbestrittene und unerbittliche Herrscherin ist. In der heißen Atmosphäre dauert es nicht lang und die explosive Stimmung platzt. Die Dialoge sind voll von schwarzem Humor und bitterbösen Zuspitzungen und erinnern mitunter an die Schlacht zwischen Martha und George in Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?. Hier fliegen die Fetzen (aber Achtung in den ersten Reihen!).
Einen Clou bietet die Bühne von Hansjörg Hartung, denn sie befindet sich inmitten der Zuschauer. Hierfür wurde in den vorderen sieben Reihen des Saals die Sitze entfernt und eine Spielfläche errichtet. Auf der ursprünglichen Bühne befindet sich dann eine Zuschauertribüne mit elf etwas schmaleren Reihen. In der Summe sind dadurch weder Sitzplätze entfallen noch wurden mehr geschaffen, entscheidend ist, dass das Geschehen von zwei Seiten aus zu beobachten ist (ähnlich wie in Ayad Akhtars Geächtet am Staatstheater Wiesbaden 2016). Im Hintergrund der Zuschauer befindet sich jeweils eine Breitwandleinwand, auf die zwischen den Szenen stimmungsvolle Landschaftsbilder aus den USA projiziert werden (Video: Meika Dresenkamp). Zwischen den Szenen spielt auch seitlich eine Liveband (passend zum Stück tragen die Musiker alle Westernhemden; Kostüme: Elina Schnizler; Musik und Songs: Jörg Gollasch). Mitunter wird zusätzlich live gesungen, von Carina Zichner und im Stile eines Tom Waits auch von Wolfgang Michael.
Auf der Spielfläche, die passend mit einem Teppich in einen erdigen Farbton belegt ist, befinden sich nur wenige Requisiten. Tische, Stühle oder ein Bett werden bei Bedarf hereingetragen. Mehr bedarf es für Regisseur Oliver Reese nicht, trotz über drei Stunden Spielzeit (mit Pause dauert der Abend 3,5 Stunden). Denn der Abend ist in erster Linie ein Schauspielerfest, von Anfang an.
Wolfgang Michael eröffnet den Abend als Beverly Weston (der Familienvater, der dann abhaut und nach ein paar Tagen tot aufgefunden wird) mit einem Zitat aus T.S. Elliots Gedicht „The Hollow Men“: „Das Leben ist sehr lang“. Ein „zu lang“ schwingt bereits mit. Michael spricht sehr deutlich und vermittelt den sarkastischen, reifen Schriftsteller, der aus ärmsten Verhältnissen kommt, mit viel Charisma. Als seine Frau Violet Weston hat Corinna Kirchhoff die anspruchsvollste Rolle im Stück (im Film von Meryl Streep verkörpert). Sie zeigt sie mit immenser Präsenz: zerbrechlich, hilflos, strauchelnd, und als bösartige Furie der es Spaß macht, in den Wunden der anderen kräftig herumzustochern. Constanze Becker gibt die Tochter Barbara (im Film von Julia Roberts gespielt). Sie macht die größte Veränderung durch. Anfangs stark und selbstbewusst, wie man die Becker kennt, genial bei ihren zornigen Ausbrüchen. Mit dem unerwarteten und plötzlichen Zerfall ihrer langjährigen Ehe sackt sie förmlich zusammen und droht schließlich, hinsichtlich Medikamenten- und Alkoholabhängigkeit, ihren Eltern nacheifern zu wollen. Diesen Wandel zeigt Constanze Becker sehr eindringlich. Als ihr Mann Bill steht hier, nach Strindbergs Totentanz, erneut ihr richtiger Mann an der Seite: Oliver Kraushaar. Er überzeugt als um Anstand bemühter Ehemann und Vater, der aber nun einmal eine Schwäche für junge Studentinnen hat. Die pubertierende Tochter Jean gibt Carina Zichner mit passender Kaltschnäuzigkeit.
Als graue aber energische graue Maus Ivy, die in ihren Cousin Little Charles verliebt ist, trumpft Verena Bukal auf. Franziska Junge ist als die sich die Welt schön redende und verführerische Karen, ganz in ihrem Element. Als gut gelaunter Verlobter Steve, der sich an die minderjährige Jean ran macht, gefällt Till Weinheimer. Die Verwandtschaft der Aikens geben Josefin Platt (als die ihren Sohn verachtende Mattie Fae), Martin Rentzsch (als den sich stets für den Sohn einsetzenden Charlie) und Sascha Nathan (als den mit seinem Selbstbewusstsein ringenden Little Charles). Isaak Dentler ist ein kerniger Sheriff Gilbeau und Katrin Hauptmann die zuvorkommende und um ihren Job als Haushälterin kämpfende Cheyenne Johnna Monevata.
Großer Jubel beim Schlussapplaus, auch wenn es beim Verlassen des Saals inzwischen fast 23.30 Uhr geworden war.
Markus Gründig, Januar 17