Sie sind ein großes Theater, auch wenn der Name zunächst eher anderes vermuten lässt: Die Münchner Kammerspiele. Das Theater im denkmalgeschützten Jugendstilgebäude in der Münchner Maximiliansstraße bietet 690 Zuschauern Platz (zusätzlich gibt es weitere Spielstätten). In den vergangenen Jahren wurde es immer wieder als „Theater des Jahres“ ausgezeichnet.
Als ein Highlight der diesjährigen Internationalen Maifestspiele Wiesbaden waren die Münchner Kammerspiele jetzt mit Ihrer Effingers-Produktion zu Gast in Wiesbaden.
Effingers ist ein großer Roman der deutsch-britischen Schriftstellerin und Journalistin Gabriele Tergit (1894 – 1982). Auf 900 Seiten erzählt sie eine Familiengeschichte über drei Generationen, zum Teil mit autobiografischen Bezügen. Sie beginnt im ausgehenden 19. Jahrhundert und führt bis ins Jahr 1948. Detailverliebt flicht Tergit die technischen Entwicklungen von Dampfmaschinen, Elektrizität und gesellschaftlichen Veränderungen ein. Auch wenn die meisten der im Roman vorkommenden Menschen Juden sind, ist es kein jüdisches Buch. Der stets mal mehr mal weniger dezent vorhandene Antisemitismus klingt immer wieder durch. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Familienmitglieder ist auch die Bandbreite an Themen groß. Dazu gehören Diskurse zur Emanzipation, zum Kapitalismus und zur sozialen Verantwortung. Themen, die auch heute an Aktualität nichts verloren haben.
Die Bühnenfassung dieses umfassenden Romans erstellten die Dramaturgin Viola Hasselberg und der Regisseur Jan Bosse. Sie komprimierten ihn auf eine Spieldauer von dreieinhalb Stunden (inklusive einer Pause).
Eine Plexiglaswand als zentrales Bühnenelement
Bosse arbeitet viel mit dem französischen Bühnenbildner Stéphane Laimé zusammen. Dieser schafft meist eher karge Räume. So auch bei Effingers. Zentrales Bühnenelement ist eine Plexiglaswand. Sie wird für Projektionen von historischen Porträts, Landschaften und Livebildern (Video: Ruth Stufer) genutzt. Auch wird ein Stammbaum der Effingers darauf geschrieben, wie auch die jeweiligen Jahreszahl als Orientierungshilfe. Davor stehen ein Dutzend Stühle, im Hintergrund ein Klavier. Die Figuren positionieren sich für ein Familienfoto, gerne vor der Plexiglaswand. Oftmals wird auch direkt zum Publikum gesprochen, mitunter geht dafür sogar das Saallicht an. Im Mittelpunkt optischer Eindrücke stehen die Kostüme von Kathrin Plath, die mit ihrem historisierenden Charakter den Geist der „guten alte Zeit“ heraufbeschwören.
Ein großes Ensemblestück
Effingers ist ein großes Ensemblestück. Viele spielen mehrere Rollen oder eine Figur in verschiedenen Lebensabschnitten. Mit der Figur des Emanuel Oppner gibt es ein ehrwürdiges Familienoberhaupt im prosperierenden Berlin (mit wilhelminischer Würde: Edmund Telgenkämper; auch dem Nationalsozialismus aufgeschlossenen Martin Schröder). Viele Figuren sind mit ihren von Tergit beschriebenen Eigenschaften prägnant gezeichnet. Neben Emanuel Oppner vor allem seine sittsame Frau Selma (erhaben: Johanna Eiworth) und ihre drei Töchter Annette (elegant: Anna Gesa Raija Lappe), Klara (charmant und humorvoll: Julia Gräfner) und Sofie (treffend eigensinnig: Katharina Bach). Aber auch der zielstrebige, visionäre und stets bescheiden bleibende Paul Effinger (engagiert: Christian Löber) und sein den Luxus genießender Bruder Karl (lebhaft, inklusive tänzerischer Artistik an einem Stuhl zeigend: Bekim Latifi). Viele Facetten des aus der ihm zugewiesenen Rolle zunächst ausgefallenen Sohn Theodor zeigt André Benndorff. Die einen Rollstuhl benutzende Lucy Wilke gibt die vielen Männern den Kopf verdrehende Sängerin Susanna Widerklee mit schöner Stimme. Katharina Marie Schubert kann vor allem als weltgewandte Tante Eugenie für sich einnehmen. Den Wandel der Zeit zeigt am eindringlichsten Zenep Bozbay als emanzipierte Marianne, die als Regierungsrätin im Wohlfahrtsministerium arbeitet. Eine herausragende Position hat hier Onkel Waldemar Goldschmidt (besonnen: André Jung), er spricht die Schlussworte des sanft endenden Stücks. Ob der anbrechenden Zeitenwende und im Hinblick auf das gegenwärtige Weltgeschehen, wirken seine an die jungen Mitmenschen gerichteten Worte besonders intensiv: „Möget ihr künftig bessere Zeiten erleben! Auf das Leben und seine Schönheit“.
Am Ende intensiver Applaus für den lebhaft dargebotenen Streifzug durch Tergits epische Familiengeschichte Effingers.
Markus Gründig, Mai 22
Effingers
Familienroman von: Gabriele Tergit (1894 – 1982, erchien erstmals 1951, Neuauflage 20
Für die Bühne bearbeitet von: Viola Hasselberg und Jan Bosse
Premiere/Uraufführung an den Münchner Kammerspielen: 18. September 21 (Schauspielhaus)
Gastspiel der Münchner Kammerspielen bei den Internationalen Maifestspielen Wiesbaden: 25. Mai 22
Inszenierung: Jan Bosse
Bühne: Stéphane Laimé
Kostüme: Kathrin Plath
Musik: Arno Kraehahn
Licht: Stephan Mariani
Videodesign: Ruth Stofer
Dramaturgie: Viola Hasselberg
Mit: Katharina Bach, André Benndorff, Zeynep Bozbay, Johanna Eiworth, Julia Gräfner, André Jung, Anna Gesa-Raija Lappe, Bekim Latifi, Christian Löber, Katharina Marie Schubert, Edmund Telgenkämper, Lucy Wilke