
Die Zeit ist aus den Fugen
Am 16. Mai 2025 stellten Schauspielintendant Burkhard C. Kosminski und die Chefdramaturgin und stellvertretende Intendantin in künstlerischen Belangen Gwendolyne Melchinger in der John Cranko Schule das Programm für die Spielzeit 2025/26 vor.
Auf dem Spielplan stehen diesmal 17 Neuproduktionen, vier davon Uraufführungen. Die beiden bewährten Kooperationsprojekte mit den Hochschulen in Stuttgart und Ludwigsburg werden fortgesetzt. Harald Schmidt wird in seiner Spielplananalyse auch die nächste Spielzeit kommentierend begleiten.
Eröffnet wird die Saison 2025/26 am 20. September im Kammertheater mit der Uraufführung von Tomer Gardis Eine runde Sache in der Regie von Noam Brusilovsky. Eine Woche später, am 27. September, zeigt das Schauspiel Stuttgart mit Die Welt im Rücken von Thomas Melle die erste Schauspielhaus-Premiere der neuen Saison, Regie führt Lucia Bihler.
Damit sind schon zwei der Regisseur*innen genannt, die in der kommenden Spielzeit zum ersten Mal am Schauspiel Stuttgart inszenieren werden. Neben Lucia Bihler und Noam Brusilovsky arbeiten auch Nora Bussenius, Alexander Eisenach, Mateja Meded, Johanna Rödder-Mikow, Marco Štorman und Wilke Weermann erstmals am Schauspiel Stuttgart. Tina Lanik, Martin Kušej, Sapir Heller, Daniela Löffner, Stefan Pucher und Magdalena Schönfeld zeigen neue Arbeiten.
Die zeitgenössische Dramatik spielt weiterhin eine wichtige Rolle. Neue Texte haben Roland Schimmelpfennig, Thomas Köck und Wilke Weermann für das Schauspiel Stuttgart geschrieben, auch Tomer Gardis 2022 auf der Leipziger Buchmesse ausgezeichneter Roman kommt hier zur Uraufführung. Weitere zeitgenössische Texte stammen von Wolfram Lotz, Thomas Melle, Fabienne Dür und von Miroslava Svolikova. Daneben kommen aber auch Stücke von Edward Albee, William Shakespeare, Thomas Bernhard, Oscar Wilde, Bertolt Brecht und Friedrich Schiller auf die Bühne.
„Die Zeit ist aus den Fugen“, klagt Hamlet – und so lautet auch das Motto dieser Spielzeit. Mag die Diagnose des dänischen Prinzen aus Shakespeares Drama auch über 400 Jahre alt sein, so ist sie doch erschreckend aktuell. Wohin dreht sich die Welt? Die Nachkriegsordnung ist dabei auseinanderzubrechen.
Begriffe wie Freiheit oder Demokratie werden bis zur Unkenntlichkeit zurechtgebogen, der Rechtsstaat ist bedroht. Der Zerstörungswille autokratischer Politiker ist immens. Der Klimawandel schreitet ungebremst voran. Partner-schaften zwischen Ländern sind unzuverlässig geworden, die Verhältnisse instabil. Kurz: Die Unsicherheit ist allenthalben groß.
Auch auf die Sprache scheint kein Verlass mehr zu sein. Sie wird gesteuert, fremdbestimmt. Was kann Kunst, was kann das Theater in diesen Zeiten sein? Und was für eine Bühne soll es bespielen? Welche Räume kann es öffnen für Utopien, Träume und Wünsche? Welche Fragen stellen, welche Gespräche führen?
Die Spielzeit 2025/26 richtet den Fokus auf den Menschen und seinen Umgang mit anderen Menschen. In einer Zeit, die aus den Fugen geraten ist, scheint der Blick darauf zwingender denn je.
Was passiert zum Beispiel, wenn ein Mensch sich selbst verliert und damit aus der ihm von der Gesellschaft zugedachten Rolle fällt? Wer ist dieser Mensch dann noch und wie reagieren andere auf ihn?
In Thomas Melles Roman Die Welt im Rücken – der Chronik seiner bipolaren Erkrankung – ist nicht nur die Zeit aus den Fugen, sondern die ganze Welt.
In Shakespeares Hamlet bekriegen sich die Dänen gegenseitig, Norwegen nimmt am Ende das Land ein. Kaum war die Beerdigung, schon ist die Hochzeit – eine Umkehrung der Begriffe, bevor dies en vogue wurde. Hamlet, der den Mord an seinem Vater rächen will, wird das Theater als politische Bühne benutzen. Die korrupte Politik wird von ihm mit den Mitteln des Theaters entlarvt. Aber vergebens, wie es Heiner Müller so treffend formuliert: „Da geht ein Riss zwischen zwei Epochen. Und in diesem Riss geht Hamlet unter.“ In einer Zeit, die aus den Fugen ist, bekommen wir es mit vielen Geistern der Vergangenheit zu tun. Zu welchen Geistern sie in der Zukunft werden, haben wir in der Hand.
Dass die Sprache und ihre Wirkung nicht verloren sind, zeigt Peter Weiss in seinem dokumentarischen Theaterstück Die Ermittlung über den ersten Frankfurter Auschwitz- Prozess. In den Zeug*innenberichten werden die Gräueltaten, die Menschen anderen Menschen angetan haben, ebenso dokumentiert wie vergegenwärtigt; gegen das Schweigen, Leugnen und Verdrängen erheben sie, erhebt das Stück die Stimme. Die Premiere findet im Landtag statt, anschließend wird die Inszenierung im Landgericht Stuttgart und an weiteren historischen Erinnerungsorten im Stuttgarter Stadtraum und darüber hinaus gezeigt. Institutionen, die interessiert sind und ihre Räume für geeignet halten, dürfen sich gerne wegen eines möglichen Gastspiels beim Schauspiel Stuttgart melden.
In Tomer Gardis Roman Eine runde Sache, einer aberwitzigen Odyssee durch die deutsche Kultur hingegen, wird die Sprache selbst zur Protagonistin.
Wie es mit unserer Selbstbestimmung steht, wie stark die Macht von Technologie und KI über den Menschen ist und welchen Einfluss Überwachungskapitalismus und Datenmissbrauch haben, das erforscht Thomas Köck in seinem neuen Theaterstück KI essen seele auf. Anhand von einzelnen dystopischen Szenarien zeigt der polyphone, aus der Perspektive einer Maschine geschriebe-ne Text die Abhängigkeit der Menschen von der Technologie.
In Bertolt Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe beweist eine Einzelne Mut, begehrt gegen soziale Ungleichheit und Unterdrückung auf – auch wenn die Zeit so schlecht ist wie nie.
Um Abhängigkeiten anderer Art geht es in Roland Schimmelpfennigs neuem Theatertext Sommersonnenwende. Das Familienerbe und seine Verteilung bieten großes Konflikt-potential zwischen zwei Geschwistern. Auf einem Familienfest beginnt der Kampf um das Elternhaus, vom Gartenhaus ganz zu schweigen.
Was wird aus der jungen Generation? Wie richtet sie sich in der Welt ein? Wofür kämpft sie? In den Räubern von Friedrich Schiller wird aus dem inneren Familien- und Bruderkonflikt ein Gesellschaftsdrama und ein Kampf für die Freiheit mit fragwürdigem Ausgang.
In einer von Umbrüchen und Kriegen geschüttelten Welt fällt der Politik und ihren Vertreter*innen eine besonders große Aufgabe und Verantwortung zu. Aber das Vertrauen zu jenen, die in den Machtzentralen sitzen, scheint kaum mehr vorhanden. Wer sind sie denn eigentlich, diese Politiker*innen, und was können und sollen sie? Das fragt sich nicht nur Wolfram Lotz in seinem Theatertext Die Politiker …
Wer wollen wir sein? Wilke Weermann beschäftigt sich in Pretty Privilege mit dem Thema Schönheit im Zeitalter manipulierter Bilder in einer von Social Media, Selbstoptimierung und Körperkult geprägten Welt. In Oscar Wildes Konzept eines sich verändernden Porträts einen sieht er einen Vorgriff auf moderne Science-Fiction, Horrormotive und dystopische Werke über Technologie, Identität und Manipulation.
Außerdem zeigt das Schauspiel Stuttgart Oscar Wildes Der ideale Mann in der deutschen Fassung von Elfriede Jelinek, Thomas Bernhards Vor dem Ruhestand, Wer hat Angst vor Virginia Woolf von Edward Albee sowie Gelbes Gold von Fabienne Dür und RAND von Miroslava Svolikova, als Familienstück wird Michael Endes Unendliche Geschichte gezeigt.
Im Kammertheater als „Experimentierfeld“ liegt der Schwerpunkt wie bisher auf neuer Dramatik und jungen Talenten. Die etablierten Reihen Kammer of Love und Krawall & Katharsis werden fortgesetzt, die neue Gesprächsreihe Nah dran – Theater im Gespräch wird im Dialog mit wechselnden Expert*innen und dem Publikum zentrale Themen des Spielplans intensiver beleuchten. Im Rahmen des Stuttgarter Schultheaterfestivals 2026 zum Abschluss der Spielzeit und zugleich des Schuljahres bekommen wieder etwa zwölf ausgewählte Theatergruppen von Grund- und weiterführenden Schulen die Gelegenheit, unter professionellen Bedingungen auf der Bühne des Kammertheaters ihre Inszenierungen zu zeigen. Auch die Schauspielclubs finden hier ihre Bühne, es wird auch in dieser Spielzeit wieder generationsübergreifende und inklusive Projekte geben.
Weiterhin strebt das Schauspiel Stuttgart eine zunehmende Öffnung hin zu mehr kultureller Teilhabe, Inklusion und partizipativen Angeboten an, das Angebot an Vorstellungen mit Audiodeskription, Hörbeschreibung und Bühnentastführung soll sukzessive weiter ausge-baut werden. Die erfolgreichen Vermittlungsformate Theaterlabyrinth und Treff.Punkt werden fortgesetzt, neu hinzu kommt ein kostenloses Offenes Schauspieltraining, dass alle zwei Wochen an wechselnden Orten angeboten wird.
Das Interesse am Partnerschulprogramm des Schauspiels Stuttgart ist riesig: Inzwischen nehmen über hundert Schulen daran teil und nutzen rege die vielfältigen Angebote wie Workshops, Fortbildungen für Pädagog*innen, Theaterführungen, Probenbesuche u.v.m. Das Programm wird weiter ausgebaut und bietet Schulen verlässlich Tickets und kostenfreie Begleitangebote für Klassen und Kurse sowie Beratung bei der Auswahl passender Inszenierungen.
Neu ins Ensemble kommt in der Spielzeit 2025/26 Pauline Großmann, die in der laufenden Spielzeit schon in der Uraufführung Willkommen am Ende der Welt von Maryna Smilianets in mehreren Rollen ihre Vielseitigkeit zeigen konnte.
Die ukrainischen Autor*innen Maryna Smilianets und Luda Tymoshenko bleiben auch in der Spielzeit 2025/26 als Artists in Residence am Schauspiel Stuttgart, um hier und andernorts weitere Projekte zu verwirklichen.
Detaillierte Informationen zu den Produktionen der Spielzeit 2025/26 sind ab sofort auf der Homepage zu finden: schauspiel-stuttgart.de.
Die Spielpläne für September und Oktober werden demnächst online gestellt, diese Vorstellungen gehen am 14. Juli in den Verkauf. Ebenfalls buchbar sind ab dem 14. Juli alle bereits im Vorfeld veröffentlichten Termine wie Harald Schmidts Spielplananalyse* und die Premieren. Ansonsten beginnt der Kartenverkauf für Schauspiel-Veranstaltungen wie gewohnt jeweils datumsgenau zwei Monate vor dem entsprechenden Vorstellungstermin.
Abonnements für die neue Spielzeit 2025/26 können ab dem 2. Juni gezeichnet werden.