In der jährlich vom Deutschen Bühnenverein herausgegebenen Werkstatistik nimmt Mozarts Zauberflöte seit Jahren einen der vorderen Plätze ein (abwechselnd mit Humperdincks Hänsel und Gretel und Bizets Carmen). Jetzt wurde sie am Staatstheater Darmstadt neu inszeniert, vom Intendanten Karsten Wiegand höchstpersönlich (gemeinsam mit Dirk Schmeding als Co-Regisseur). Ist die Zauberflöte auch ob ihrer populären Arien (wie „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“, „Der Vogelfänger bin ich ja“, „O Isis und Osiris“ und vor allem aber „Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“) selbst für Kinder leicht zugänglich, bietet sie doch auch immer noch viele Interpretationsmöglichkeiten.
Karsten Wiegands traditionell angelegte Inszenierung legt einen Schwerpunkt auf das Erwachsenwerden, die Initiation von Tamino und Pamina und wartet mit einem besonderen Regieeinfall auf, der sich wie ein roter Faden durch das gesamte Stück zieht. Die Rolle der drei Knaben sind nicht nur mit einem Kinderchor, dem Kinderchor des Staatstheater Darmstadt, besetzt (was den Gesangspartien der drei Knaben einen erweiterten, volleren Klang verleiht; Einstudierung Elena Beer und Gabriela Fliegel), die Kinder (28 insgesamt, davon mehrheitlich Mädchen) sind über weite Teile ständig auf oder vor der Bühne präsent. Sie erobern schon zu Beginn den Saal und bieten ein knapp zehn-minütiges Intro, bei dem sie zuerst eine abgespeckte Version der Ouvertüre leiten und dann, wie in einer TV-Show, zum Publikum sprechen und es animieren. Erwartungshaltungen an eine opulente Bühnenoptik und Kostüme werden angesprochen, wie auch eine mögliche Enttäuschung über den Auftritt der Kids. Etwaige Befürchtungen, dass die Inszenierung zu einem reinen Kindertheater mutiert, verfliegen aber schnell. Die weiteren Auftritte des Kinderchores sind gewinnende Elemente für die Handlung und die Szenerie (wie die Darstellung des Bogen schießenden Tamino durch einen Knaben, der jungen Pamina durch ein Mädchen, das Mitgestalten des Bühnenbilds im ersten Teil mittels Videoprojektionen, das poetisch anmutende Fliegenlassen von Vögeln oder die Darstellung wilder Tiere mit Masken…).
Daneben gibt es weitere Besonderheiten. Tamino und Sarasto sprechen ihre Texte auf Koreanisch (die Muttersprache der Sänger), singen aber auf Deutsch. Da die gesprochenen Texte, im Gegensatz zu den Liedtexten, nicht in den Obertitel angezeigt/übersetzt werden, bleiben sie nahezu allen Zuschauern unverständlich und untermauern so die Diskrepanz zwischen der Welt der Jungen und der Erwachsenen. Eine besondere Publikumsnähe wird durch zahlreiche Auf- und Abtritte über den Zuschauerraum erzielt, wie auch die Orchestergrabenbrüstung mehrfach als Spielfläche genutzt wird. Obwohl es letztlich wenig Bühnenelemente gibt, wirkt die Inszenierung dennoch sehr bildreich (Bühne: Bärbl Hohmann). Bestimmt im ersten Teil ein einfaches rechteckiges Holzplateau die Bühne, ist es im zweiten ein etwas kleineres, das an Zügen hängt und Papageno und Tamino gewissermaßen den Boden unter den Füßen wegzieht (wenn es heraufgezogen wird).
Die Inszenierung bietet viele Ansätze zur Reflexion und zur Unterhaltung. So erscheinen die drei Damen (1. Dame: Katharina Persicke, 2. Dame: KS Katrin Gerstenberger, 3. Dame: Anja Bildstein) zunächst als Strauße (deren Augen bekanntlich größer sind als ihr Gehirn, wie auch die Vogel-Strauß-Politik dafür steht, unangenehme Fakten nicht wahrhaben zu wollen). Wenn Sarasto später lange an großer Tafel auf Koreanisch spricht, wird dies vom Sprecher (Georg Festl) äußerst knapp und trocken übersetzt.
Die Kostüme von Andrea Fisser sind teilweise opulent, wie das prächtige Reifkleid für die alte Papagena (amüsierend: Elisabeth Hornung), in weiten Teilen klassisch, also viel schwarze und goldene Gewänder für den Kreis der Eingeweihten.
Das Orchester spielt im erhöhten Graben. Für Papagenos „Ein Mädchen oder Weibchen wünscht Papageno sich!“ fährt der Graben fast ganz hoch. Das Staatsorchester Darmstadt spielt teilweise auf historischen Instrumenten, wie es auch ein historisches Glockenspiel zu erleben gibt. Der gebürtig argentinische Dirigent Rubén Dubrovsky sorgt für einen anpackenden Ton, der von Johannes Köhler einstudierte Chor bewegt sich recht statisch, überzeugt aber mit kräftigem und schönen Wohlklang.
David Lee gefällt mit seiner kraftvollen und stets gut dosiert eingesetzten Tenorstimme als Tamino. Ganz besonders klangschön ist die Pamina der Jana Baumeister, deren Porträt mitunter auch groß live projiziert wird. Ob ihrer schön gesungenen Koloraturen begeistert Rebekka Maeder als Königin der Nacht das Publikum. Eine hervorragende Bühnenpräsenz bietet Bariton Julian Orlishausen als unbekümmerter, vorsichtiger und genussfreudiger Vogelmensch Papageno (auf dessen Federkostüm geschissen wurde: Er trägt lediglich wie von Vogelkot verschmierte Alltagsklamotten). Aki Hashimoto nutzt ihren kurzen Auftritt als bezaubernde Papagena, um auf sich aufmerksam zu machen. Bass Johannes Seokhoon Moon verkörpert mit stimmlicher und physischer Autorität den Sarastro, Michael Pegher gibt einen energiegeladenen Monostatos.
Am Ende großer Jubel und langer Applaus für diese familiengerechte und farbenfrohe Initiationsinterpretation.
Markus Gründig, Oktober 18
Die Zauberflöte am Staatstheater Darmstadt:
Premiere und besprochene Vorstellung: 26. Oktober 18
Musikalische Leitung: Michael Nündel / Rubén Dubrovsky
Regie: Karsten Wiegand
Co-Regie: Dirk Schmeding
Bühne: Bärbl Hohmann
Kostüme: Andrea Fisser
Choreinstudierung: Johannes Köhler
Einstudierung des Kinderchores: Elena Beer / Gabriela Fliegel
Besetzung:
Sarastro: Marko Špehar / Johannes Seokhoon Moon
Tamino: João Terleira / David Lee
Königin der Nacht: Rebekka Maeder
Pamina: Cathrin Lange / Jana Baumeister / Katharina Ruckgaber
Sprecher und 2. Geharnischter: Georg Festl / Julian Orlishausen / Marko Špehar
Priester und 1. Geharnischter: Michael McCown / Mark Adler
1. Dame: Cathrin Lange / Katharina Persicke
2. Dame: Xiaoyi Xu / KS Katrin Gerstenberger
3. Dame: Anja Bildstein-Gondolf
Drei Knaben: Mitglieder des Kinderchores des Staatstheaters Darmstadt
Papageno: Georg Festl / Julian Orlishausen / David Pichlmaier
Papagena: Aki Hashimoto / Olivia Yang
Alte Papagena: Elisabeth Hornung
Monostatos: Michael Pegher
Staatsorchester Darmstadt
Opernchor des Staatstheater Darmstadt