Hessisches Staatsballett punktet mit »Broken Bob«

BROKEN BOB: I am Bob ~ Hessisches Staatsballett ~ © Andreas Etter

Bereits im Oktober hatte der Doppelabend Broken Bob des Hessischen Staatsballetts seine Uraufführung am Staatstheater Darmstadt. Nun fand die Wiesbadener Premiere statt.

Der Titel „Broken Bob“ entspringt den Einzeltiteln dieses Programms (I am Bob und Broken Sense of Beauty). Für das arbeitet das Hessische Staatsballett mit den Gastchoreograf*innen Imre & Marne van Opstal und Xie Xin zusammen.

Die niederländische Choreograf*innen und darstellende Künstler*innen Imre & Marne van Opstal wurden vor zwei Wochen für ihre Inszenierung Voodoo Waltz (Schauspielhaus Bochum) mit dem Theaterpreis „Der Faust“ ausgezeichnet. Das Stück war als Gastspiel im Januar dieses Jahres in Wiesbaden zu sehen.

Uniformierter Gleichschritt bei I am Bob

I am Bob lautet der Titel ihrer Neukreation und diese ist nicht nur physisch eine große Herausforderung für die sechzehn Tänzer*innen (Namen siehe unten unter „Originalbesetzung“). Denn der titelgebende Bob ist jeder von Ihnen, jeder im Publikum. Bob steht für den Durchschnittsmenschen im Getriebe des Alltags. Hin- und hergerissen zwischen Pflichterfüllung und individuellem Streben.
Individuen gibt es keine. Alle tragen die gleichen schwarzen Arbeiteranzüge, die zahlreiche weiße Schmutzflecken aufweisen (und entfernt nach Camouflagemuster aussehen, was sie aber nicht sind). Zudem tragen sie eng anliegende Mützen, sodass nur die Gesichter zu sehen sind. Ob Frau oder Mann spielt bei diesen androgynen Wesen grundsätzlich keine Rolle.
Mit ihren synchronen und roboterhaften Bewegungen vermitteln sie überwältigende Optiken. Sie haben dabei nicht nur auf gleichmäßigen Abstand und ständig wechselnde Richtungen zu achten, sondern auch auf einheitliche Körperhaltungen und -ausrichtungen. Imre & Marne van Opstal nutzen dabei unterschiedliche Prinzipien wie Akkumulieren, Loopen, Kopieren, Repetition und Überlagern.

Broken Bob: I am Bob
Hessisches Staatsballett

© Andreas Etter

Sie drücken nicht nur Uniformität, sondern auch Gleichklang und geregelte Abläufe aus. So wie es jeder/jede tagtäglich praktiziert. Und doch geht es auch darum, auszubrechen, neue Wege zu gehen. Und auch die Absurditäten des Lebens mit Humor zu nehmen. Mitunter kann man sich lose an die Arbeitermassen in Filmen wie Metropolis (Fritz Lange) oder Modern Times (Charlie Chaplin) erinnert fühlen.

Dazu passt auch die Musik/der Sound von Amos Ben-Tal. Zunächst ist es ein Klickern und leises Hämmern, das auch aus einer Fabrik stammen könnte. Später kommen zu elektronischen Sounds noch englischsprachige Textüberlagerungen seiner Stimme dazu.

Bühnenbeherrschend ist eine große Treppenanlage in V-Form, die Idee der systematischen Wiederholung widerspiegelnd. Es sind zwar nur fünf Stufen, diese haben aber mehr als eine doppelte Höhe wie üblich. Hier laufen die Tänzer*innen auf und ab, vorwärts, rückwärts und nehmen exaltierte Posen ein. Dies stets perfekt aufeinander abgestimmt. Die Stufen können auch als Bild des Lebens gesehen werden, indem der Wechsel zwischen Auf- und Abstieg, zwischen Erfolg und Misserfolg immanent ist.

Einen großen Einfluss hat die Ausleuchtung. Dreizehn rechteckige LED-Lampen hängen an einzelnen Schnüren herab, leuchten nur Teilbereiche aus und wechseln zwischen warm/kalten Weißlicht und Farben (rot/blau). Stellenweise werden sie bis auf den Boden herabgelassen. Oftmals hängen sie aber auch einfach versetzt wie ein riesiges Mobile (Bühne und Licht: Tom Visser).

Am Ende des knapp 45-minütigen Stücks formieren sich die Tänzer*innen wunderschön zu einem großen Schriftzug „Bob“ als Schlusspointe. Tosender Applaus.

Poetisches bei Broken Sense of Beauty

Wie das Geschwisterpaar Imre & Marne van Opstal arbeitete auch die chinesische Choreografin Xie Xin bereits mit dem Hessischen Staatsballett. Vor einigen Monaten fiel ihr Tanzstudio in Shanghai einem Feuer zu Opfer. Alles verbrannte, einschließlich aller ihrer Kostüme und Archive. Dieses Erlebnis verarbeitete sie in Broken Sense of Beauty („Gebrochener Sinn für Schönheit“). Es bildet einen starken Kontrast zu I am Bob.
Was tun, wenn die Existenz und alles Bisherige zerstört sind? Wie lassen sich unter schweren Umständen neue Perspektiven finden?

Broken Bob: Broken Sense of Beauty
Hessisches Staatsballett
Foto: Andreas Etter

Das Stück beginnt mit einer Umklammerungspose von sechs Tänzer*innen (an diesem Abend: Enzo Boffa, Daniela Castro Hechavarria, Meilyn Kennedy, Marie Ramet, Taulant Shehu und Luke Watson). Not schweißt zusammen, die Gruppe gibt Geborgenheit und Halt. Doch das Leben geht ungefragt weiter. Davon erzählt sie in rund 35-Minuten. Und braucht dafür kaum Ausstattung. Drei kunstvoll gestaltete Vorhänge reichen als stimmungsvoller Hintergrund. Alle zeigen in unterschiedlichem Ausmaß Spuren von Brand und Zerstörung (Bühne: Hu Yanjun). Nur der erste Vorhang wird angehoben, der dritte scheint vage hinter dem zweiten hervor. Später fällt Asche herab und bedeckt den Boden und die Tänzer*innen.

Von Asche und Erde zeugen ebenfalls die Kostüme von Li Kun (anfangs lose hängende Teile, später auf Unterwäsche reduziert).

Xie Xin lässt die Tänzer*innen poetisch anmutende Bilder vermitteln und zeigt, wie aus Niederlage und Zerfall zunächst Reflexion und schließlich Stärke erwächst (Phönix aus der Asche gleich). Es gibt ausdrucksstarke Posen, die die Gefühlsklaviatur des Lebens vermitteln und von Nähe und Distanz zeugen.
Sylvian Wangs Musik ist klassischer gehalten und unterstreicht das sanfte, poetische Programm gefühlvoll.

Auch hier am Ende intensiver Beifall.

Markus Gründig, November 24


Broken Bob

I am Bob – Choreografie von Imre & Marne van Opstal

Choreografie, Bühne und Kostüme: Imre & Marne van Opstal
Musik: Amos Ben-Tal
Bühne und Licht: Tom Visser
Probenleitung: Jaione Zabala Martin
Dramaturgie: Lucas Herrmann

Originalbesetzung:
Peng Chen, Alessio Damiani, Greta Dato, Margaret Howard, Sayaka Kado, Masayoshi Katori, Jorge Moro Argote, Milica Mučibabić, Yamil Ortiz, Aurélie Patriarca, Alessio Pirrone, Anthony Michael Pucci, Vanessa Shield, Tatsuki Takada, Benjamin Wilson, Rita Winder

Broken Sense of Beauty – Choreografie von Xie Xin

Choreografie: Xie Xin
Musik: Sylvian Wang
Bühne: Hu Yanjun
Kostüme: Li Kun
Licht: Gao Jie
Probenleitung: Allison Brown
Dramaturgie: Lucas Herrmann

Originalbesetzung:
Gorka Duran Villar, Ramon John, Kenedy Kallas, Bridget Lee, Mei-Yun Lu, Marcos Novais

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