Im März letzten Jahres konnte der Komponist, Musikwissenschaftler und Essayist Wolfgang Rihm seinen 70. Geburtstag feiern. Wie kaum ein anderer zeitgenössischer Komponist kann er schon jetzt mit über 400 Kompositionen auf ein außerordentlich umfangreiches Oeuvre zurückblicken. Dies in vielen verschiedenen Musikgattungen, seien es Bühnenwerke, Instrumentalmusik oder Lieder.
Vor gut 30 Jahren wurde an der Hamburgischen Staatsoper sein als Musiktheater bezeichnetes vieraktiges Werk Die Eroberung von Mexico uraufgeführt. Es zählt inzwischen zu den wichtigsten zeitgenössischen Werken und wird relativ häufig in die Spielpläne aufgenommen, keine Selbstverständlichkeit für zeitgenössische Oper.
Thematisch liegt die Eroberung der Metropole des Aztekenherrschers Montezuma durch den spanischen Konquistador Hernán Cortés im 16. Jahrhundert zugrunde. Allerdings darf man hier kein klassisches Drama, keine Literaturoper erwarten. Rihm ging es in erster Linie um die Darstellung der Konfrontation zweier Kulturen, um das Aufeinanderprallen von Ratio und Emotion, von Machtanspruch und Magie. Dafür griff er auf vier Textquellen zurück, auf Antonin Artauds „La Conquete de Mexique“ und einem Entwurf zum „Théâtre de Séraphin“, sowie auf das Gedicht vom „Urgrund des Menschen“ des Mexikaners Octavio Paz und indianische Lyrik.
Publikum sitzt um eingeschlagenen Meteorit
Rihms komplex gestaltete Musik ist groß angelegt. „Die Oper gleicht einem gewaltigen Prisma, das die zersplitterten Texte, Bilder und Klänge auf höherer Ton- und Gedanken-Ebene magisch zusammenkittet: expressive Gesangslinien, Sprech- und Flüsterchöre, rauschhafte Rhythmik, sich Bahn brechende Tonballungen.“ (Universaledition). Für die Orchesteraufstellung hat er konkrete Pläne vorgegeben.
Um einen außergewöhnlichen Höreindruck für das Publikum zu ermöglichen, wurde am Staatstheater Mainz die traditionelle Aufteilung Publikum im Saal und Orchester im Graben aufgehoben. Das Publikum sitzt bei der durchdachten Inszenierung von Elisabeth Stöppler auf der Bühne, unmittelbar um das Geschehen herum. Eine ganz besondere Gelegenheit, Sängerinnen und Sängern nah zu kommen, wie es sonst nicht möglich ist. Zudem spielt das Orchester auf gleicher Höhe auf dem hochgefahrenen Orchestergraben (mit Ausweitung in den Saal).
Im Zentrum der Bühne befindet sich ein Meteorit, der ein großes Einschlagsloch hinterlassen hat (Bild des gewaltsamen Eindringens der Spanier). Ein vom Schnürboden herabgelassener Zaun deutet eine Grenze an, die von Cortés und seinem Gefolge überschritten wird. Ein rosaroter Vorhang symbolisiert, ebenso wie die an Flugbeleiterinnen erinnernden rosaroten Kittel der beiden Sopran-unterstützer, eine heile Traumwelt (die es in der Realität nie gegeben hat).
Nach der Pause ist die Spielfläche ein Sammelsurium häuslicher Einrichtungen, wie Küche, Fernsehsessel, Bett, die Eindringlinge sind in das private Leben eingedrungen. Später liegen die Opfer des großen Massakers tot um dieses Areal herum (Ausstattung: Valentin Köhler).
neutral, männlich, weiblich
Die Parole „neutral, mänlich, weiblich“ ist ein wesentliches Element dieses Werkes (die Rihm von Artaud übernommen hat). Das „neutral“ steht hier nicht im Zusammenhang mit der aktuellen Genderdebatte. Neben dem Prinzip der Männlichkeit und dem Prinzip der Weiblichkeit gibt es noch etwas weiteres, als Balance zwischen den Polen.
Im Mittelpunkt stehen die Figuren Montezuma und Cortéz. Dies aber nicht als individuelle Persönlichkeiten, sondern eher als Metapher. Ihnen stehen jeweils zwei Stimmen zur Verstärkung zur Seite (hier szenisch eingebunden auf der Bühne). Das Besondere ist, dass Rihm in seiner Sicht die Welt der Ureinwohner als weiblich sieht, die der eindringenden Eroberer als männlich. Infolgedessen ist die Partie des Montezuma mit einer Sopranistin besetzt. Nadja Stefanoff verleiht der innerlich zerrissenen Figur eine aparte, einfühlsame und intensive Gestalt. Die Cortéz-Partie ist männlich besetzt, hier mit Bariton Peter Felix Bauer, passend kraftvoll und dominant wirkend. Ihr Zusammentreffen entfesselt Kräfte, die sich in heftigen Dialogen spiegeln. Dennoch gibt es unbewusst eine Art Vereinigung der Gegensätze.
Ihre jeweiligen stimmlichen Begleiter sind sehr unterschiedlich angelegt. Die weiblichen reflektieren Montezumas Äußerungen mit zum Teil grellen und sehr hohen Tönen (Sehr hoher Sopran: Maren Schwier; Alt: Karina Repova). Die männlichen sind ob ihrer hechelnden und röchelnden Laute zunächst als Figuren mit Hundsköpfen dargestellt (Sprecher 1: Bariton Falko Hönisch; Sprecher 2: Bariton Frederic Mörth). Ergänzend beteiligt ist der Bass Doğuş Güney als Der schreiende Mann.
Einen großartigen Beitrag zum Gelingen dieser Inszenierung trägt ein 18-köpfige Bewegungschor (Statisterie des Staatstheater Mainz) als Echo der Gesellschaft bei.
Die prismisch gebrochenen Klänge Wolfgang Rihms lässt das in verschiedene Gruppen aufgeteilte Philharmonische Staatsorchester Mainz unter seinem Generalmusikdirektor Hermann Bäumer beeindruckend und faszinierend erklingen.
Das Gesamtergebnis in musikalischer, sängerischer und szenischer Umsetzung ist herausragend. Es ist ein großer und komplexer Musiktheater-Abend, der zudem wegen des Krieges Russlands gegen die Ukraine eine bestürzende Aktualität aufzeigt.
Markus Gründig, Januar 23
Die Eroberung von Mexico
Musiktheater in vier Akten
Von: Wolfgang Rihm (* 1952)
Dichter der Textvorlage: Antonin Artaud (1896 – 1948), u. a.
Übersetzer: Brigitte Weidmann
Uraufführung: 9. Februar 1992 (Hamburg, Hamburgische Staatsoper)
Premiere am Staatstheater Mainz: 29. Januar 23 (Großes Haus)
Musikalische Leitung: Hermann Bäumer
Inszenierung: Elisabeth Stöppler
Ausstattung: Valentin Köhler
Licht: Ulrich Schneider
Dramaturgie: Christin Hagemann
Besetzung:
Montezuma: Nadja Stefanoff
Cortez: Peter Felix Bauer
Der schreiende Mann: Doğuş Güney
Sehr hoher Sopran: Maren Schwier / Julia Muzychenko
Alt: Karina Repova
Sprecher 1: Falko Hönisch
Sprecher 2: Frederic Mörth
Bewegungschor: Statisterie des Staatstheater Mainz
Philharmonisches Staatsorchester Mainz
staatstheater-mainz.com