„Lulu“ zieht in ihren Bann, egal welche Begriffe mit ihr assoziiert werden. Femme Fatal, Lolita oder Vamp. Der österreichische Komponist Alban Berg (1885 – 1935) nutzte für seine Oper Lulu Frank Wedekinds gleichnamige Tragödie als Grundlage. Diese beruht auf dessen Stücken Erdgeist und Die Büchse der Pandora. Aufgrund Bergs frühem Tod sind von ihm nur die ersten beiden Akte orchestriert worden. Der finale dritte Akt wurde nach seinem Tod durch Friedrich Cerha (1926 – 2023) vollendet. Die Uraufführung der dreiaktigen Fassung fand 1979 unter Pierre Boulez an der Pariser Opéra Garnier statt.
Keine absolute Zwölftontechnik
Alban Berg war ein Schüler Arnold Schönbergs. So wundert es nicht, dass Lulu nach den Techniken der Zwölftonmusik entstand. Diese wendete er aber nicht gänzlich an. So finden sich in Lulu im kleinen Rahmen auch tonale Bezüge und Anklänge an den Jazz.
Unter der Leitung seines Generalmusikdirektors Thomas Guggeis fächert das hierbei nicht sehr umfangreich besetzte Frankfurter Opern- und Museumsorchester diese Klangwelten expressiv und virtuos auf. Es ist eine wahre Freude, diese wahrzunehmen. Sind sie auch nicht im klassischen Sinne durchgehend „wohlklingend“, bilden sie doch einen faszinierenden Kosmos ab. Zumal den Hauptfiguren Instrumentengruppen und Klänge zugewiesen sind. Wie beispielsweise magische Klangfarben für Lulu. Für den nicht bodenständigen Alwa spielen Streicher, Harfe und Klavier, für den dynamischen Athleten Blechbläser und für den genügsamen Schigolch Kontrafagotte, Bassklarinetten, Celli und Bässe. Über die dreieinhalbstündige Aufführung bleibt eine energiegeladene Atmosphäre stets spürbar. Für die Sänger:innen gibt es überraschenderweise auch gesprochene Worte und Sprechgesang.
Üblicherweise gibt es bei Lulu-Aufführungen zwei Pausen, je eine Pause nach Akt 1 und 2. Die Produktion der Oper Frankfurt hat nur eine, diese gibt es in der Mitte des 2. Akts (nach der Erschießung von Dr. Schön). Dadurch sind beide Teile mit jeweils 90 Minuten etwa gleichlang (dies kommt auch Bergs Symmetrievorliebe entgegen).
Feministischer Blick mit Seele
Die letzte Neuinszenierung an der Oper Frankfurt feierte 2003 Premiere (Musikalische Leitung: Paolo Carignani, Regie: Richard Jones). Bei der aktuellen Neuproduktion zeichnet ein Frauenteam verantwortlich (mit Jan Hartmann für das Licht).
Für die Regie konnte erneut Nadja Loschky gewonnen werden. Sie stellte sich in der vergangenen Saison mit einer fesselnden Umsetzung von Händels Giulio Cesare in Egitto in Frankfurt vor. Auch bei ihr ist Lulu eine starke Persönlichkeit, der es leicht fällt, Männer um den Finger zu wickeln. Gleichzeitig zeigt sie in ihrer Inszenierung aber, dass Lulu nicht nur eine Projektionsfläche der Männerfantasien und ein wildes Tier ist, sondern auch ein Opfer mit Seele.
Hierfür wurde eine zusätzliche stumme Figur eingebracht: Anima (= Die Seele; verkörpert von der Tänzerin Evie Poaros). Sie wird anfangs aus einem Erdloch herausgezogen (der „Erdgeist“ lässt grüßen). Den ihr anhaftenden Schmutz wird sie nie los werden, er begleitet sie bis zum bitteren Ende. Mit Anima entstehen überaus berührende, sinnliche Bilder. Sie drückt die Gefühlswelt von Lulu plastisch aus, klammert sich sprichwörtlich an Dr. Schön und leidet mit ihr. Das der Lulu zugefügte Leid wird nicht verharmlost, sondern im Gegenteil offen gezeigt. So ist die Inszenierung auch ein Mahnmal gegen Gewalt gegen Frauen, ein Thema, das leider auch heutzutage noch immer aktuell ist. Loschky setzt Karl Kraus´Aussage, dass Lulu zur Alleszerstörerin wird, weil sie von allen zerstört wird, ergreifend um.
Die Büchse der Pandora
Bühnenbilder sind per se ja immer spannend, bieten sie doch schon optisch eine Interpretationshilfe. Katharina Schlipf verbindet in ihrem Bühnenbild genial Abstraktes mit Konkretem. Dabei ist von den Handlungsorten, einer deutschen Großstadt, Paris und London, nichts zu sehen. Der Einheitsbühenraum gleicht einer überdimensionalen Büchse, hier durchaus als Büchse der Pandora zu verstehen. Dadurch wird nicht nicht nur ein Bezug zur Vorlage hergestellt. Die Büchse der Pandora aus der griechischen Mythologie steht für das Hervorbringen des Bösen. Zwar kann sie auch als harmloses Füllbehältnis gesehen werden, im Subtext aber auch als Bild für die Gebärmutter und für die Vagina (dem Zentrum sexueller Begierde und Lust).
Zwei unterschiedlich große gerundete Wände öffnen durch Einsatz einer Drehbühne den Blick ins Innere. Das Atelier und die Wohnung von Dr. Schön wird darin mit einer Handvoll Requisiten dargestellt. Ein Gewonnen/Verloren-Transparent steht für die Pariser Finanzgeschäfte. Ein riesiger Berg Sperrmüll ist im Schlussbild aufgetürmt. Ein treffendes Bild für den jahrelang angesammelten Dreck. Dieser zieht sich konsequent dezent durch die Inszenierung. Zunehmend Dreck an den Wänden und selbst das Blut von Dr. Schön ist nicht rot, sondern so dreckig, so wie die hier gezeichneten Männer es sind.
Sehr konkret zeitlich verortet sind die Kostüme von Irina Spreckelmeyer. Mit viel Liebe zum Detail wurde besonders bei der Paris-Szene Bezug zur Entstehungszeit (1930er Jahre) genommen.
Brenda Rae in der Titelrolle
Sie war von 2008 bis 2017 Ensemblemitglied der Oper Frankfurt und ist nachhaltig in Erinnerung geblieben: Brenda Rae. Die amerikanische Sopranistin verkörperte hier so unterschiedliche Figuren wie Elvira (I puritani), Gilda (Rigoletto) oder Amina (La Somnabula ). Die überaus anspruchsvolle und große Partie der Lulu gestaltet sie mit beeindruckender darstellerischer Präsenz und Ausdrucksvielfalt. Dabei balanciert sie geschickt zwischen attraktiver Verführerin und Verführte. Gleichzeitig besticht sie mit ihrer feinen Stimme.
Markant gestaltet Bariton Simon Neal Lulus Liebhaber und späterer Ehemann Nummer Drei, den Dr. Schön. Dessen erfolglos komponierenden Sohn Alwa verleiht Tenor AJ Glueckert Tragik und Tiefe. Theo Lebow gefällt als der Maler (und später als Freier). Mit viel Humor gibt Bassbariton Kihwan Sim den Tierbändiger und komödiantisch auffahrend den Athleten Rodrigo. Herausragend ist der Bass Alfred Reiter als schräger Gauner Schigolch (wenn mit Guildo-Horn-Frisur auch kaum zu erkennen). Claudia Mahnke ist eine zurückhaltende lesbische Gräfin Geschwitz, die am Ende aber dann doch noch vehement deklamieren kann.
Auch die Nebenrollen sind wiedereinmal stark besetzt. Allen voran mit Bianca Andrew (Garderobiere / Gymnasiast / Groom) und Michael Porter (Prinz / Kammerdiener / Der Marquis). Einen Chor gibt es in dieser Oper nicht.
Am Ende stirbt Lulu zwar. Hier aber selbstbestimmt. Sie stürzt sich in das Messer von Jack the Ripper (ebenfalls Simon Neal). Intensiver Beifall bei der besuchten zweiten Vorstellung.
Markus Gründig, November 24
Lulu
Oper in drei Akten
Von: Alban Berg (1885 – 1935)
Libretto: Alban Berg nach Frank Wedekind (nach Erdgeist und Die Büchse der Pandora von Frank Wedekind)
Uraufführung Fragment: 2. Juni 1937 (Zürich, Stadttheater)
Uraufführung Fassung des 3. Aktes von Friedrich Cerha: 24. Februar 1979 (Paris, Opéra Garnier)
Premiere: 3. November 24 (Opernhaus)
(Fassung von Friedrich Cerha)
Besuchte Vorstellung: 7. November 24
Musikalische Leitung: Thomas Guggeis
Inszenierung: Nadja Loschky
Bühnenbild: Katharina Schlipf
Kostüme: Irina Spreckelmeyer
Licht: Jan Hartmann
Konzeptionelle Mitarbeit: Yvonne Gebauer
Dramaturgie: Mareike Wink
Besetzung:
Lulu: Brenda Rae
Dr. Schön / Jack the Ripper: Simon Neal
Alwa: AJ Glueckert
Gräfin Geschwitz: Claudia Mahnke
Maler / Freier: Theo Lebow
Tierbändiger / Ein Athlet: Kihwan Sim
Schigolch: Alfred Reiter
Garderobiere / Gymnasiast / Groom: Bianca Andrew
Prinz / Kammerdiener / Der Marquis: Michael Porter
Theaterdirektor / Diener: Božidar Smiljanić
Bankier / Medizinalrat / Professor: Erik Van Heyningen
Eine Fünfzehnjährige: Anna Nekhames
Ihre Mutter: Katharina Magiera
Kunstgewerblerin: Cecelia Hall
Journalist: Leon Tchakachow
Tänzerin: Evie Poaros
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Statisterie der Oper Frankfurt
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