Im Säkularjahr 2000 erschien Billy Elliot – I Will Dance, der Debütfilm des britischen Regisseurs Stephen Daldry nach einem Drehbuch von James Hall (mit Song von u. a. T. Rex, The Style Council und The Clash). Die rührende Story des in einfachen Arbeiterverhältnissen lebenden Jungen Billy, der sich seinem Vater zum Trotz gegen den Boxsport und für das Ballett entscheidet, bewegte auch Sir Elton John. Er schrieb kurzerhand 15 Songs für eine Musicalversion von Billy Elliot. Diese entstand in Zusammenarbeit mit Daldry und Hall.
Erste deutschsprachige Produktion
Billy Elliot – The Musical lief ab 2005 überaus erfolgreich für elf Jahre im Londoner Victoria Palace Theatre (1.557 Plätze) und auch drei Jahre und zwei Monate am hart umkämpften New Yorker Broadway (im 1.457 Plätze fassenden Imperial Theatre). Die Londoner Produktion wurde 2014 live weltweit in Kinos übertragen (Billy Elliot the Musical Live). Im Sommer 2017 war eine englischsprachige Tour-Produktion für einen Monat zu Gast im Hamburger Mehr! Theater am Großmarkt. Doch eine deutschsprachige Produktion dieses Musicals hat es bisher noch nicht gegeben. Scheinbar schien die Herausforderung hinsichtlich der hierfür benötigten jungen Darsteller als zu problematisch.
Doch das hat sich geändert. Nicht in Hamburg, Stuttgart oder Berlin, sondern im schweizerischen Zürich fand am 1. November 24 die deutschsprachige Erstaufführung von Billy Elliot – Das Musical statt (in der Maag Halle; 930 Sitzplätze). Sie ist Darko Soolfrank (Co-Gründer der MAAG Halle) und Mitch Sebastian (Regisseur) zu verdanken. Die Übersetzung besorgten Roman Riklin (Liedtexte) und Eric Hättenschwiler (Dialoge).
Individualität leben und sich gegenseitig unterstützen
Die Handlung spielt im Nordosten Englands während eines Bergarbeiterstreiks 1984/85. Damals schrieb Margarete Thatcher als erste weibliche Regierungschefin Europas Geschichte. Nicht nur eine rühmliche (weshalb sie auch „Die eiserne Lady“ genannt wurde). In diesem Punkt ist das Musical ein Produkt seiner Zeit. Vielen jungen Zuschauer:innen heute dürfte Margarete Thatcher kaum etwas sagen. Dennoch wirkt der Song „Frohe Weihnachten Margarete Thatcher“ als erkennbares Statement gegen eine Regierung. Die Hauptthemen des Musicals, sich trauen, Individualität zu leben und sich gegenseitig zu unterstützen, gelten unverändert.
In einem wichtigen Punkt unterscheidet sich die Musicalfassung vom Film. Endet der Film Jahre später mit Billys brillanter Darstellung der männlichen Hauptrolle des Prinzen Siegfried in einer Aufführung von Tschaikowskys Schwanensee (mit seinem Vater und seinem Freund Michael in den Zuschauerreihen), gibt es im Musical eine Art Schwanensee-Traumsequenz im zweiten Akt (hier zusammen mit Stephen Dole als älterer Billy).
Charme der Arbeiterklasse
Die Inszenierung in der Maag Halle Zürich folgt in vielen Teilen der Londoner Originalproduktion. Die Bühne von Francis O’Connor nimmt mit Metallkonstruktionen und einem großen Förderrad im Hintergrund den Charme der Bergarbeitersiedlung auf. Zur Darstellung eines Trainingssaals reichen ein Hintergrundvorhang und Türen, für die Wohnung der Familie Elliot werden Möbel nach Bedarf hereingeschoben. Grubenlampen nachempfundene Leuchten tauchen die Szenerie in eine stimmungsvolle Atmosphäre, sie reichen bis in den Zuschauerraum hinein.
Für viel Schmunzeln beim Publikum sorgen die mitunter derben Worte, egal ob sie von den Kindern oder den Erwachsenen kommen. Sie drücken das aus, was gedacht wird und schließlich ist man hier ja auch nicht bei den Royals. Viel Energie ist bei den Tanszenen zu spüren, vor allem bei Billys „Wut-Tanz“ zum Ende des ersten Akts (Choreografische Leitung: Sarah-Jane Brodbeck).
Mehrfach Besetzungen und starkes Ensemble
Eine Hürde dieser Produktion war die Besetzung der Titelrolle (ob der hohen Rollenanforderung). Neben klassischem Tanz mussten Anwärter auch Stepptanz, Schauspiel und Gesang beherrschen. Schließlich wurden drei Jungen gefunden: Moritz Fischli (12 J.), Leo Lemmerich (13 J.) und Nevio Reymond (12 J.). Sie spielen alternierend. Bei der besuchten Folgevorstellung zeigte Nevio Reymond sein Können und begeisterte das Publikum. Dies nicht nur mit dem Hauptsong „Elektrizität“, bei dem er vor dem Auswahlgremium der Londoner Royal Ballet School ausdrückt, was er beim Tanzen fühlt. Sondern beispielsweise auch im beherzten Umgang mit der dementen aber umso liebenswerten Großmutter (voller Energie, nicht nur bei „Großmutters Lied“: Sabine Martin).
Auch die Figur von Billys bestem Freund Michael, der unbesorgt auf Frauenkleider steht und auch keine Scheu davor hat, im Tutu durch den Ort zu laufen, ist dreifach besetzt: Justin Périer (13 J.), Charles Bänziger (13. J) und Oscar Riccardo Wittek (12 J.) alternieren. Mit seiner Unbekümmertheit nahm bei der besuchten Vorstellung Oscar Riccardo Wittek für sich ein und verlieh dem Song „Individualität“ („Was ist falsch, ganz du selbst zu sein?“) im Duett mit Billy großen Ausdruck.
Einen Wandel vom sturen Neinsager zum stolzen Unterstützer Billys vollzieht der Vater (eindringlich: Pasquale Aleardi). Die Billys Talent früh entdeckende gewissenhafte Tanzlehrerin Mrs Wilkinson gibt elanvoll Gabriely Ryffel (in Erstbesetzung Isabelle Flachsmann).
Was auch auf die weiteren Darsteller:innen zutrifft: Lucas Baier (Billys großer Bruder Tony), Chloé Michel (Mrs. Wilkinsons Tochter Debbie), Frank Logemann (Box Trainer George) und Siegmar Tonk (Pianist Mr. Braithwaite). Das Ensemble bringt sich als (demonstrierende) Bergarbeiter („Solidarität”), Polizisten und in glitzernden Jumpsuits tanzend, mit viel Leidenschaft stark ein. Mit viel Spaß zeigt sich das große Kinderensemble.
Das hohe Niveau der Produktion zeigt sich auch darin, dass es ein neunköpfiges Orchester gibt. Es ist auf der rechten Seitenbühne platziert und von manchen Plätzen aus teilweise zu sehen. Unter der Leitung von Sonja Füchslin (auch Keyboard 1) wird Elton Johns emotionale Musik schmissig umgesetzt.
Am Ende begeisterter Applaus und Standing Ovations.
Das Musical wird bis zum 23. März 25 gespielt.
Markus Gründig, November 25
Billy Elliot – Das Musical
Musical von: Elton John
Buch und Liedtexte: Lee Hall
Premiere im Londoner Westend: 11. Mai 2005 (Victoria Palace Theatre, Previews ab 31. März 2005)
Broadway-Premiere: 13. November 2008 (Imperial Theatre; Previews ab 1. Oktober 2008)
Premiere / Deutschsprachige Erstaufführung in der Maag Halle Zürich: 1. November 2024
Besuchte Vorstellung: 8. November 2024
Regie: Mitch Sebastian
Übersetzung Liedtexte: Roman Riklin
Übersetzung Dialoge: Eric Hättenschwiler
Bühnenbild und Kostüme: Francis O’Connor
Lichtdesign: Michael Grundner
Musikalische Leitung: Lukas Hobi
Choreografische Einstudierung: Sarah-Jane Brodbeck
Ausführende Produzenten/Production Management: Tino Andrea Honegger, Darko Soolfrank, Mitch Sebastian
Produzenten: Darko Soolfrank, Guido Schilling
Besetzung:
Billy Elliot: Moritz Fischli / Leo Lemmerich / Nevio Reymond
Michael (Billys bester Freund): Justin Périer / Charles Bänziger / Oscar Riccardo Wittek
Mrs. Wilkinson: Isabelle Flachsmann
Jack (Billys Vater): Pasquale Aleardi
Billys Großmutter: Sabine Martin
Tony: Lucas Baier
George / alternierend Vater: Frank Logemann
Ensemble / Mr Braithwaite: Siegmar Tonk
Ensemble / alternierende Mrs Wilkinson: Gabriela Ryffel
Ensemble / alternierend Grossmutter: Kaatje Dierks
Billys Mutter: Marijke Loopers
Debbie: Chloé Michel
Ensemble / älterer Billy: Stephen Dole
Ensemble / Zweitbesetzung Tony: Paul Gierlinger
Ensemble / Zweitbesetzung George: Benjamin Fröhlich
Ensemble / Zweitbesetzung Mr Braithwaite, Tony: Rico Salathe
Ensemble / Zweitbesetzung älterer Billy: Alexander Hallas
Ensemble / on-stage-Swing: Philip Ranson
Ensemble: Timo Balzli
Swing / Zweitbesetzung Vater, George, Mr Braithwaite: Rudi Reschke
Dance Captain / Swing: Joy Knecht
Dance Captain / Swing: Gianmarco Rostetter
Mädchenensemble, Posh Boys und Small Boys
Live-Orchester (Leitung: Sonja Füchslin)
Spieldauer: 01.11.24 – 23.03.25
Theater: MAAG Halle Zürich
Vorstellungen: Mittwoch–Samstag 19.30 Uhr, Samstag 14.30 Uhr, Sonntag 13.30 Uhr
Vorverkauf: billy-elliot.ch, See Tickets, Ticketcorner
Videos: billy-elliot.ch