Für Diversität und politische Achtsamkeit: »Cabaret« am Staatstheater Wiesbaden begeistert

Cabaret ~ Staatstheater Wiesbaden ~ Sally Bowles (Elissa Huber) ~ Foto: Karl und Monika Forster

1966 wurde das Musical Cabaret am Broadway uraufgeführt und 1972 fulminant mit Liza Minelli verfilmt. Inzwischen hat es einen festen Platz im Repertoire der Theater eingenommen. Die Geschichte des US-Autors Clifford Bradshore, der sich in Berlin in die Nachtclubtänzerin Sally Bowles verliebt und ob der sich erstarkenden Macht der Nazis Berlin dann aber alleine verlässt, zieht immer wieder Publikum an.

Am Staatstheater Wiesbaden ist jetzt eine Neuinszenierung von Cabaret zu sehen. Sie setzt das Musical klassisch gehalten hoch spannend um und stellt die darin angelegten Themen gekonnt heraus. Dafür verantwortlich zeichnet die Musicalexpertin Iris Limbarth, die in Wiesbaden bereits etliche Stücke, vor allem mit dem Jungen Staatsmusical, erfolgreich auf die verschiedenen Bühnen gebracht hat. Wegen einer Erkrankung hat Tom Gerber die finale Regie der Cabaret-Neuinszenierung übernommen. Er hatte vor kurzem erst Schillers Wallenstein im Großen Haus inszeniert. In beiden Werken geht es um politische Machtverhältnisse. Von daher liegen Wallenstein und Cabaret gar nicht so weit auseinander, als man vielleicht zunächst denken mag.

Cabaret
Staatstheater Wiesbaden
Ernst Ludwig (Stefan Roschy), Clifford Bradshaw (Julian Culemann)
Foto: Karl und Monika Forster

Ladys, Gentlemen and everything between

Ein Ausrufezeichen wird gleich zu Beginn gesetzt. Damit sind nicht die Kit-Kat-Club-Tänzerinnen gemeint, die das Publikum bereits beim Betreten des Saales von den Proszeniumslogen aus begutachten. Vielmehr ist die Figur des Conférencier als Hosenrolle angelegt und Lina Habicht begrüßt das Publikum, und auch zwischendurch immer wieder, mit „Ladys, Gentlemen and everything between“. Politische Themen, das Stück spielt vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, werden bei dieser Inszenierung deutlich mehr betont, als üblich. So liest Clifford Bradshow in Hitlers „Mein Kampf“. Die Neujahrsfeier fällt hingegen eher zurückhaltend aus als andernorts. Bisexualität gibt es nicht nur in Bezug auf den Conférencier, sondern auch auf Cliff. Dieser wird demonstrativ von Bobby (vital: Timo Stacey) geküsst und auf ihre gemeinsame Zeit in London angesprochen. Derart plakative Momente stehen nicht im Mittelpunkt, untermauern aber den Grundgedanken der Inszenierung, die sich für Diversität und politische Achtsamkeit ausspricht.

Cabaret
Staatstheater Wiesbaden
Ensemble
Foto: Karl und Monika Forster

Eindringliche Bühnenoptik

Die Spielorte (Kit-Kat-Club, Zimmer von Clifford und Sally, Zimmer von Frl. Schneider und der Obstladen von Herrn Schultz) sind auf der Drehbühne räumlich durch perspektivisch verschobene, riesige Rahmen getrennt, in der Mitte befindet sich ein hohes Podest mit einem Flügel. Für die Zugszenen zu Beginn und Ende wird jeweils ein Zugsitz eingeschoben. Immer wieder werden auch die Proszeniumslogen einbezogen, was die ohnehin vorhandene Weite der offen gehaltenen Räume verstärkt (Bühne: Bettina Neuhaus).
Leicht bekleidete und sehr gut trainierte Cabaret Girls und Boys in Strapsen, knappen Höschen und Lederharnessen spiegeln die enthemmte Stimmung im Kit-Kat-Club mit viel Elan wider. Die großen Ensembleszenen wie „Don’t tell Mama“ oder „Mein Herr“ sorgen für großen Zwischenbeifall. Selbst in der Tanzchoreo ist schließlich die Einflussnahme der Nationalsozialisten auf alle Lebensbereiche erkennbar (Choreografie: Myriam Lifka). Uneinheitlich wird mit der Sprache umgegangen. Grundsätzlich wird in deutsch gesungen und gesprochen. Da wo es aber besser passt, in Englisch (wie bei „Cabaret“).

Cabaret
Staatstheater Wiesbaden
Herr Schultz (Gottfried Herbe), Fräulein Schneider (Evelyn M. Faber)
Foto: Karl und Monika Forster

Applaus für Nazis?

Zum Ende des ersten Teils setzt die Verlobungsfeier einen besonderen Höhepunkt. Zuvor gab Herr Schultz (besonnen: Gottfried Herbe) sein melancholisches „Miesnick“, begleitet vom Musiker Jens Hunstein auf der Bühne mit einer Klarinette. Statt eines jungen Nationalsozialisten wie meist üblich, ist es hier das Fräulein Kost (vaterländisch: Felicitas Geipel), die das zwischen Volkslied und Hymne schwankende „Der morgige Tag ist mein“ anstimmt. Wenn immer mehr sich anschließen und auf dem Podest eine große NS-Fahne weht, lässt es einen erschauern ob der Leichtigkeit, Massen zu beeinflussen. Und bange Fragen im Zuschauerraum, ob man bei so einer Szene anschließend überhaupt klatschen darf.

Elissa Huber als sich steigernde Sally Bowles

In der Hauptrolle der Sally Bowles steigert sich Elissa Huber von Szene zu Szene, von Song zu Song. Ist sie anfangs noch in einem Schulmädchenkostüm mit weißem TüTü-Rock, dann in einem grünen Hosenanzug (mit längs aufgeschnittenen Hosenbeinen; Kostüme: Heike Korn) zu sehen, erfüllt sie später im knappen, goldenen Kleid alle Erwartungen (die nicht zuletzt durch Liza Minelli in den Köpfen der Zuschauer festsitzen). Huber, die im Februar und März 2020 in der Titelpartie von Mark-Anthony Turnages Oper Anna Nicole am Staatstheater Wiesbaden zu erleben war, gibt eine ganz eigene, starke Sally Bowles. Charme versprüht der stets einen klaren Verstand behaltende Clifford Bradshaw des Julian Culemann. Evelyn M. Faber ist eine resolute Fräulein Schneider. Stefan Roschy wartet als resoluter Ernst Ludwig mit saarländischem Dialekt auf.
Die Kit-Kat-Band spielt aus dem erhöhten Orchestergraben unter dem Bandleader Levi Hammer glutvoll (die musikalischen Arrangements stammen von Michael Nündel).

Am Ende ist nicht nur der Laden von Herrn Schultz zerstört, sondern auch das Mobiliar in den anderen Räumen. Der Kit-Kat-Club ist Geschichte, die, die ihm Leben, Glanz und Entertainment gegeben haben, stehen in Mänteln in bräunlichen Farbtönen an den Seiten und werfen einen letzten Blick auf ihn.
Lang anhaltender, begeisterter Applaus und Standing Ovations für dieses unterhaltsam umgesetzte Plädoyer für Diversität und politische Achtsamkeit.

Markus Gründig, Oktober 21


Cabaret

Musical

Gesangstexte: Fred Ebb
Musik: John Kander
Buch: Joe Masteroff (nach dem Stück »Ich bin eine Kamera« von John van Druten und Erzählungen von Christopher Isherwood)

Uraufführung: 20. November 1966 (New York, Broadhurst Theatre)
Deutschsprachige Erstaufführung: 14. November 1970 (Wien, Theater an der Wien)

Premiere am Staatstheater Wiesbaden: 16. Oktober 21 (Großes Haus)

Nach einer Inszenierung von: Iris Limbarth
Musikalische Leitung: Levi Hammer
Regie: Tom Gerber
Choreografie: Myriam Lifka
Bühne: Bettina Neuhaus
Kostüme: Heike Korn
Bandleader: Frank Bangert
Licht: Oliver Porst
Video: Gérard Naziri

Besetzung:

Conférencier: Lina Habicht
Sally Bowles: Elissa Huber, Femke Soetenga
Clifford Bradshaw: Julian Culemann
Fräulein Schneider: Evelyn M. Faber
Herr Schultz: Gottfried Herbe
Ernst Ludwig: Stefan Roschy
Fräulein Kost: Felicitas Geipel
Lulu: Carla Peters
Helga: Denia Gilberg
Texas: Louisa Heiser
Fritzi: Annika Netthorn
Frenchie: Veronika Enders
Rosie: Anna Heldmaier
Telefon Girl / Chansonsängerin: Silvia Willecke
Bobby / Two Ladies: Timo Stacey
Victor / Two Ladies: Felipe Ramos
Herrmann / Zollbeamter: Jasper H. Hanebuth
Hans: Julian Bender
Otto: Thaddäus M. Jungmann
Rudi/Gorilla: Rouven Pabst
Max, Clubbesitzer: Thomas Braun
Taxifahrer: Dwayne G. Besier
Matrosen: Leonard Linzer, Rainer Maaß, Tim Speckhardt
Cabaret: Josefine Rau, Victoria Reese, Anna Okunowski, Dwayne G. Besier, Christian Sattler, Julian Groger

Kit Kat Band
Extrachor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Statisterie des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden

staatstheater-wiesbaden.de