Zu sich stehen: Musical »Victor/Victoria« am Staatstheater Mainz

Victor/Victoria ~ Victoria (Zodwa Selele), Musicalensemble ~ © Andreas Etter

In den 1990er-Jahren erblickten zahlreiche Musicals das Licht der Welt, darunter Hits wie Disneys Die Schöne und das Biest, Disneys Der König der Löwen, Miss Saigon, RENT oder THE WHO’S TOMMY. Gegenüber diesen wirkt das ab 1995 am Broadway aufgeführte Musical Victor/Victoria wie ein Exkurs zurück in die goldene Ära des Musicals. Es basiert auf dem UFA-Tonfilm Viktor und Viktoria aus dem Jahr 1933. Dieser wurde mehrfach neu verfilmt. So auch 1982 von Blake Edwards mit Julie Andrews und James Garner in den Hauptrollen. Diesem folgte 1995 eine Musicalversion, bei der die Titelfigur auch von Julie Andrews am Broadway verkörpert wurde. Darin geht es um eine Sängerin die vorgibt ein Mann zu sein der wiederum auf der Showbühne in Frauenrollen auftritt und damit zum Star wird.

Victor/Victoria
Staatstheater Mainz
Squash Bernstein (Stefan Reil), Norma (Beatrice Reece), King Marchan (Henner Momann), Toddy (Michael Dahmen)
© Andreas Etter

Dem Musical mag etwas Altbackenes anhaften (zumal es im Paris der frühen 1930er-Jahre spielt) inhaltlich ist Victor/Victoria mit seiner breit aufgefächerten Genderthematik jedoch am Puls der Zeit. Welche Eigenschaften machen einen Menschen aus, welche Werte zählen? Worauf kommt es an, wenn ein Mensch geliebt wird? Wo liegt das Problem bei einer gleichgeschlechtlichen Liebe? Im Kern geht es darum, zu sich selbst zu stehen und entsprechend zu leben (egal, was andere einem vorgeben).

Das Staatstheater Mainz zeigt die moderne Umsetzung und textlich angepasste Fassung des erfahrenen Musicalregisseurs Erik Petersen. Solistische und Ensemble-Nummern setzt er plakativ und gekonnt in Szene.

Gespielt wird in einem nach allen Seiten offenen Raum, in den einzelne Elemente hineingeschoben, gefahren oder aus dem Schnürboden herabgelassen werden (wie Bartheken, Schlaf- und Wohnzimmer). Die bunten, glitzernden Kostüme nehmen lose Bezug zu den frühen 1930ern (Ausstattung: Kristopher Kempf). Die Tanzszenen des Musicalensembles bieten glanzvolle Showmomente mit artistischen Einlagen (Choreografie: Sabine Arthold).

Victor/Victoria
Staatstheater Mainz
Musicalensemble
© Andreas Etter

In der (Doppel-) Titelrolle ist ein Musicalstar zu erleben: Zodwa Selele. Sie verkörperte nicht nur die Titelrolle in Elton Johns Musical Aida und Hauptrollen in weiteren Musicals, bekannt ist sie vor allem für ihre Rolle als Schwester Deloris van Cartier im Musical Sister Act, die sie fünf Jahre in Folge als Erstbesetzung in Hamburg, Stuttgart und Oberhausen verkörperte. Seit dieser Spielzeit zählt sie zum Ensemble des Staatstheaters Mainz. Sie begeistert mit ihrer warmherzigen, fröhlichen Ausstrahlung, stimmlich warm empfundener Empathie und dramatischer Stimmkraft. Zu großer Form läuft Michael Dahmen als selbstsicherer und ganz zu sich stehender schwuler Künstler Toddy auf. Eine Granate ob ihrer positiven Energie ist Beatrice Reece als Norma (auch Jazzsängerin). Schauspieler Henner Momann gibt den harten Geschäftsmann King Marchan mit viel Charme (der die größte Entwicklung hinsichtlich seiner eigenen sexuellen Identität durchmacht). Armin Dillenberger ist ein vorzüglicher Grandseigneur André Cassell. Erst spät groß ins Spiel kommt der sich als schwul outende Squash Bernstein mit bayrischen Wurzeln und vielerlei Fertigkeiten (inklusive veganen Kochkünsten) des Stefan Reil.
Das Philharmonische Staatsorchester Mainz spielt unter dem Gastdirigenten Tjaard Kirsch Henry Mancinis Big-Band-Sound passend zur rasanten Inszenierung sehr energetisch.

Erik Petersens aufwändige, romantische, überzeichnete, bunte und sehr warme Umsetzung am Staatstheater Mainz macht aus dieser Musicalrarität, die keinen ausgesprochenen Hit-Song aufweist und mitunter ihre Längen hat, einen großen Abend, der das Publikum begeistert und zu Standing Ovations veranlasst.

Markus Gründig, Oktober 21


Victor/Victoria

Musik: Henry Mancini
Buch: Blake Edwards
Gesangstexte: Leslie Bricusse
Zusätzliche Musik von: Frank Wildhorn
Deutsch von: Stefan Huber
Uraufführung: 25. Oktober 1995 (New York, Marquis Theatre)
Deutschsprachige Erstaufführung: 3. Juli 1998 (Dresden, Staatsoperette Dresden)

Premiere am Staatstheater Mainz: 9. Oktober 21 (Großes Haus)

Musikalische Leitung: Tjaard Kirsch
Inszenierung: Erik Petersen
Choreografie: Sabine Arthold
Ausstattung: Kristopher Kempf
Dramaturgie: Christin Hagemann

Besetzung:

Toddy: Michael Dahmen/ Peter Felix Bauer
Victor/Victoria Grant: Zodwa Selele
André Cassell: Armin Dillenberger
King Marchan: Henner Momann
Norma: Beatrice Reece
Squash Bernstein: Stefan Reil
Henri Labisse, Sal: Jan Altenbockum
Richard di Nardo, Juke, u. a. : Rico Salathe
Gregor, Clam: Johannes Pinkel
Jazzsingerin: Beatrice Reece
Mademoiselle Selmer: Ruth Fuchs
Musicalensemble: Ruth Fuchs, Grace Simmons, Sarah Steinemer, Sarah Zippusch; Jan Altenbockum, Stuart Gannon, Johannes Pinkel, Stefan Reil, Rico Salathe, Robert Schmelcher
Swings: Lara Schitto; László Nagy
Jazz-Pianist: Paul-Johannes Kirschner

Statisterie des Staatstheater Mainz
Philharmonisches Staatsorchester Mainz

staatstheater-mainz.de