Ihr Schicksal fasziniert und ist von Mythen umrankt: Anastasia (1901 – 1918). Sie war die vierte und letzte Tochter des russischen Zarenpaares Nikolaus II. und Alexandra Fjodorowna. Der Mythos, sie habe vor den Bolschewiki nach Paris zu ihrer Großmutter fliehen können, lebte lange Zeit weiter (und wurde mehrfach verfilmt). Seit 2007 gilt die Ermordung der damals 17-Jährigen durch die Bolschewiki in Jekaterinburg (Uralgebirge) als gesichert.
Im Jahr 1997 erschien ein Zeichentrickfilm der 20th Century Fox über die vermeintliche Flucht Anastasias nach Paris. Die herausragende Filmmusik von David Newman und die eingehenden Songs von Stephen Flaherty (Ragtime) sorgten dafür, dass 2017 Anastasia groß am Broadway herauskam. Bereits ein Jahr später war es in deutscher Fassung als große Produktion im Stage Palladium Theater in Stuttgart zu sehen.
„Totalitäre Regime haben keinen Platz mehr in unserer Welt“
Der Mainzer Hochschulgruppe Musical Inc. ist es nun gelungen, Anastasia als erste Amateurgruppe in Deutschland aufführen zu dürfen.
Dabei ist es natürlich verwunderlich, dass trotz des anhaltenden Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine und Putins Großmachtfantasien ein Stück über die russische Geschichte gespielt wird. Die Musical Inc. legt im ausführlichen Programmheft und auf ihrer Webseite (musicalinc.de) ausführlich die Gründe dar, die für und gegen das Musical sprechen und warum es ausgewählt wurde und stellt den Kontext heraus. Eine Kurzfassung davon wird unmittelbar vor jeder Aufführung vom Regieteam (Jonas „Jack“ Daniels und Vidhya Pfeifer) an das Publikum gerichtet.
Und auch im Musical wird deutlich gemacht, dass das Volk sowohl unter dem Zaren, wie auch unter den Bolschewiki, unter Hunger gelitten hatte und unterdrückt wurde. Und wie quasi als Fazit ausgeführt wird „Totalitäre Regime haben keinen Platz mehr in unserer Welt“. Dazu unterstützt die Musical Inc. mit einer Sammlung den Verein „Partnerschaft für die Zukunft e. V., der sich für vom Ukraine-Krieg betroffene Menschen engagiert (insbesondere für die Kinder in der Stadt Kamjanez-Podilsky; pazu.de).
Von Abenteuern, Familie und der Liebe
Das stets hohe Niveau der Musical Inc. Produktionen spiegelt sich bereits bei den Vorverkaufszahlen. Alle 16 Vorstellungen waren bereits vor der Premiere ausverkauft. Und das rundherum ehrenamtlich betriebene Großprojekt Musical Inc. verzaubert dieses Jahr ganz besonders. Denn Anastasia ist explizit kein politisches Stück. Es handelt von Abenteuern, Familie und der Liebe. Die unter einer Amnesie leidende Zarentochter Anastasia begibt sich im Jahr 1917 als Anya unter Begleitung der beiden Lebenskünstler Dimitri und Wlad von der ehemaligen Hauptstadt des russischen Kaiserreichs St. Petersburg (dem damaligen Leningrad) nach Paris, wo sie hofft ihre Nana (Großmutter) zu treffen. Dabei entwickelt sich zwischen Anya/Anastasia und Dimitri sanft eine rührende Liebesgeschichte.
Hinreißende Musik und Umsetzung
Mit spürbarer Leidenschaft für die Sache sind rund 90 Beteiligte (!) im Ensemble, Orchester, Team, Stage-Crew und Barteam ehrenamtlich dabei. Traditionell wird in zwei alternierenden Besetzungen („Perlenglanz“ und „Schwanenweiß“) gespielt. Stets ist an einem Abend der gesamte Cast auf der Bühne, Hauptrollen und Ensemblerollen wechseln sich jeweils ab.
Dem politischen Umfeld um die Oktoberrevolution und ihrer Nachwehen, steht eine fiktive Geschichte, hinreißende Musik und viele unterschiedliche Charaktere gegenüber. Dabei ist es spielerisch, musikalisch, choreografisch und inszenatorisch keine leichte Aufgabe, das Musical auf der kleinen Bühne des Theaters P1 der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zu bringen. Zumal die hintere Hälfte der Bühnenfläche vom 15-köpfigen Orchester eingenommen wird.
Mit wenigen Requisiten werden die Zuschauer nach St. Petersburg/Leningrad und Paris versetzt. Dazu reichen zwei Kronleuchter, Straßenlaternen, eine mobile Treppenanlage und Sitzgelegenheiten vor aufwendig gefertigten Hintergrundprospekten (Bühne: Elian Terelle). Eine Augenfreude sind die opulenten Kleider für die Angehörigen der Kaiserfamilie und der Balletttänzerinnen (Kostüme: Alba d’Alesio und Emily Rohrbach). Auch in die weiteren Kostüme für Bauern, Bolschewiki, Militär und Pariser Bevölkerung wurde viel Arbeit investiert.
Unter der Choreografie von Clara Eckert gibt es auf die jeweilige Zeit abgestimmte und bezaubernde Tanznummern und sogar eine Balletteinlage. Zudem ragt sie als ausbrechende verführerische Hofdame Lily heraus. Großartig ist die Nummer “Die Gräfin und der Bürgersmann”, ein Duett mit dem sympathischen Kleingauner par excellence Wlad (schnittig: Johannes Knieps) . Lebhaft und das Publikum zum Mitklatschen animierend eine Polka von Anya und Dimitri.
Die langjährige Erfahrung der Musical Inc. spiegelt sich auch in der temporeichen Umsetzung durch das Regieduo Jonas “Jack” Daniels und Vidhya Pfeifer wider. Der Wechsel zwischen großen Ensemblenummern (mit rund 36 Darsteller:innen auf der Bühne) und intimen Szenen gelingt stets flott und nahtlos.
Bei der besuchten Folgevorstellung spielte die „Perlenglanz“-Besetzung. Unumstrittener Star ist dabei Lorena Seegler in der Titelrolle. Mit einer starken Präsenz, Anmut, Liebreiz, Spielfreude und einer exzellenten Stimme nimmt sie sehr für sich ein. Auch Julius Himmel als Dimitri glänzt vom ersten Ton an. Wenn sich Anastasia und Dimitri dann schließlich den ersten Kuss geben, ist auch das Publikum mit großer Anteilnahme dabei. Die Nana/Zarenmutter Maria der Leonie Creuzberger gibt sich mit aristokratischer Attitüde und dunklem Stimmtimbre passend wehmütig und resigniert. In der Zwickmühle zwischen der Härte seines Vaters nacheifernden und seinen eigenen Gefühlen schwankenden Offiziers Gleb vermittelt Luis Halter weitere starke emotionale Momente.
Trumpf ist letztlich das gesamte Team der Musical Inc., das erneut eine famose Produktion auf die Beine gestellt hat. Dazu trägt natürlich auch das unter der Leitung von Laurin Hess mit Vehemenz spielende Orchester mit bei.
Am Ende, keine Frage, stehende Ovationen und euphorischer Beifall.
Markus Gründig, Juni 24
Anastasia
Musik: Stephen Flaherty
Buch: Terrence McNally
Liedtexte: Lynn Ahrens
Deutsche Dialoge: Ruth Deny
Deutsche Liedtexte: Wolfgang Adenberg
Uraufführung: Hartford Stage in Connecticut (2016)
Braodway-Premiere: 23. März 2017 (New York, Broadhurst Theatre)
Deutschsprachige Erstaufführung: 15. November 2018 (Stuttgart, Stage Palladium Theater)
Premiere bei der Musical Inc. Mainz: 7. Juni 24 (Theater im P1, Uni-Mainz)
Besuchte Vorstellung: 19. Juni 24
Regie: Jonas “Jack” Daniels & Vidhya Pfeifer
Regieassistenz: Anna-Maria Bess
Musikalische Leitung: Laurin Hess
Musikalische Assistenz: Lisa Thomas
Choreographie: Clara Eckert
Choreographische Assistenz: Johann Kabelac
Bühnenbild: Elian Terelle
Bühnenbildassistenz: Christian Huber
Requisite: Kira Hirch
Kostüm: Alba d’Alesio & Emily Rohrbach
Technik: Moritz Mahringer
Technische Assistenz: Christian Huber & Elian Terelle
Lichtdesign: Christian Huber
Stage Crew Leitung: Patricia Müller
Produktionsleitung: Katharina Cronenberg, Jan Dahms, Jonas Düwel, Maximilian Teschner & Palina Tkachonak
Vorstand: Moritz Mahringer, Clara Eckert & Jan Dahms
Besetzung:
(links: Besetzung „Perlenglanz“/rechts: Besetzung „Schwanenweiß“)
Anya / Anastasia: Lorena Seegler / Sascha Hartmann
Dimitri Sudayev: Julius Himmel / Erik Aepfelbach
Dunja: Lisa Thomas
Gleb Waganow: Luis Halter / Sebastian Killinger
Gorlinsky: Marian Amiragov / Felipe Salazar
Graf Grigori: Lukas Müller / Felix Cambeis
Graf Ipolitow: Benjamin Fluck / Jan Dahms
Graf Leopold: Paul Darmstadt / Maximilian Teschner
Gräfin Grigori: Michelle Hannappel / Svenja Drewitz
Lily Malevsky-Malewitch: Clara Eckert / Anna-Maria Bess
Marfa: Tabea Eberle / Laura Saxler
Maria Romanowa: Katharina Schilling / Alba D’Alesio
Olga Romanowa: Fabiana Renker / Linda Malm
Paulina: Christina Grdinic / Jane Reimers
Sergej: Jonas Düwel / Duc Tran
Tatjana Romanowa: Noemi Brumbach / Vivien Peterhänsel
Wiktor: Johann Kabelac / Holger Reuter
Wlad Popow: Johannes Knieps / Finn O’Donnell-Hönow
Zar Nikolaj: Christian Kapper
Zarenmutter Maria: Leonie Creuzberger / Helen Graffert
Zarin Alexandra: Emily Rohrbach / Janina Schumacher
Orchester:
Flöte / Piccolo: Yaiza Fenollar Baenas / Anna Blume
Flöte: Sara Gemmerich / Lisa Beikirch
Klarinette / Alt-Saxophon: Patricia Schwarz / Lea Krajewski
Klarinette / Tenor-Saxophon: Dana Zender / Moritz Schmitt
Trompete 1: Natalie Didinger / Dionys Tschopp
Posaune: Florian Römer / Konrad Maucher
Flügelhorn: Tobias Fix / Vitus Jung
Keyboard 1: Katharina Wende / Jan Brell / Julian Rausch
Keyboard 2: Damian Bach / Marvin Rodriguez
Violine 1: Hannah Bornheim/ Felix Kuhl
Violine 2 / Viola: Luca Mücke / Miriam Binder
Cello: Antonio Kapper / David Kalhofer
Kontrabass: Kaspar Käding
Percussion: Hartmut Opfermann / Paul van den Berg
Technik:
Moritz Mahringer (Leitung), David Auer, Jan Dahms, Jonas “Jack” Daniels, Paul Darmstadt, Marc Diehl, Ben Haas, Christian Huber, Oliver Morgenstern, Alina Ohlemacher, Elian Terelle, Sebastian Worschech, Franziska Zmatlik
Stage Crew:
Patricia Müller (Leitung), Lena Aulenbacher, Laura Harff, Lisa Hawelka, Kira Hirch, Palina Tkachonak