Trost gegen die Leiden der Liebe: Frank Martins weltliches Oratorium »Le vin herbé« an der Oper Frankfurt

Le vin herbé ~ Oper Frankfurt ~ vorne Iseut, die Blonde (Juanita Lascarro) und Tristan (Rodrigo Porras Garulo) sowie im Hintergrund Ensemble und Chor der Oper Frankfurt ~ © Barbara Aumüller ~ szenenfoto.de

Ein magischer Liebestrank, der zwei Menschen in Liebe verbindet, ist seit dem Mittelalter ein bekannter Stoff. Er ist zentraler Inhalt des Tristan-Mythos. Dieser wurde nicht zuletzt durch die Vertonung von Richard Wagner (die Oper Tristan und Isolde) berühmt. Wagner griff für sein Libretto auf den Versroman Tristan von Gottfried von Straßburg aus dem 13. Jahrhundert zurück. Doch daneben gibt es zahlreiche weitere Adaptionen.

Der als zehntes und jüngstes Kind eines calvinistischen Pfarrers in Genf geborene Frank Martin komponierte über dieses Thema sein weltliches Oratorium Le vin herbé (keines seiner Bühnenwerke hat er Oper genannt). Es entstand aus einer Auftragskomposition für den Züricher Madrigalchor im Jahr 1936. Martin verwendete einzelne Kapitel von Joseph Bédiers Roman „Le Roman de Tristan et Iseut“ von 1900 (der wiederum auf den um 1170 entstandene Versepos Tristrant und Isolde des Eilhart von Oberg fußt). Anders als bei Wagner, wird bei Martin die Liebesvereinigung nicht mystisch verklärt. Genretypische Theatralik und Leitmotive sucht man bei Frank Martin vergeblich. Er erzählt die Geschichte im Wechsel von Solisten und Chor mit rezitativartigem Gesangsduktus. Seine Klangsprache bezeichnete Martin als „style chromatique“. Sie ist tonal grundiert und auf drei Zwölftonreihen aufgebaut. Ihr Klang ist fein, sanft und friedlich, erinnert mitunter an Claude Debussys Pelléas et Mélisande.

Le vin herbé
Oper Frankfurt
Iseut, die Blonde (Juanita Lascarro) und im Hintergrund Chor der Oper Frankfurt
© Barbara Aumüller ~ szenenfoto.de

An der Oper Frankfurt sollte Frank Martins Le vin herbé eigentlich schon am 6. Dezember 2020 Premiere haben, als Ersatz für die ursprünglich geplante Oper Traumgörge von Alexander Zemlinsky (neuer Premierentermin: 25. Februar 24). Durch den kammermusikalischen Charakter durch ein zwölfstimmiges Vokalensemble und einer Instrumentierung mit lediglich sieben Streichern und einem Klavier, bot es sich in der damaligen Corona-Pandemie geradezu an. Kurz vor der Generalprobe kam dann jedoch der zweite Lockdown… Nun ist es, neu einstudiert, erstmals szenisch in Frankfurt/M zu erleben.

Die von einem Prolog und einem Epilog eingebundenen drei Teile werden Ort und Zeit ungebunden aus einem überdimensionalen Setzkasten gespielt und gesungen. So wirkt zumindest auf den ersten Blick, das mehrstöckige, leicht angewinkelte, große und in 32 Fächer unterteilte Bühnenkonstrukt. Es kann aber auch als eine moderne Hausfassade mit 32 Zimmern gesehen werden. Darin finden die acht Solisten:innen und 24 Chorsänger:innen Platz (die von Martin angegebene Sänger:innenzahl wurde hier also fast verdreifacht; Bühnenbild: Karoly Risz). Wobei sie, und das ist von Regisseur Tilmann Köhler ganz toll durchdacht, ständig wechselnde Positionen einnehmen (urplötzlich dastehen und durch Vorhänge abtreten). Einzig Iseut (Isolde), Tristan und König Marke verlassen den Rahmen ihrer Erzählperspektive und treten vor (Szene im Wald von Morois). Wobei es in dieser Version zwei Iseut-Figuren gibt: Iseut die Blonde und Iseut die Weißhändige. Letztere heiratete Tristan (ohne dass es zum Ehevollzug kam), weil er annahm, von Iseut der Blonden verlassen worden zu sein.

Le vin herbé
Oper Frankfurt
vorne Iseut, die Blonde (Juanita Lascarro) und Tristan (Rodrigo Porras Garulo) sowie im Hintergrund in der untersten Reihe v.l.n.r. Kaherdin (Theo Lebow), Die Mutter von Iseut der Blonden (Cláudia Ribas), König Marc (Kihwan Sim), Branghien (Clara Kim), Herzog Hoël (Jarrett Porter) und Iseut, die Weisshändige (Cecelia Hall) sowie darüber Chor der Oper Frankfurt
© Barbara Aumüller ~ szenenfoto.de

Das ohne Pause in 110 Minuten gegebene Oratorium bietet in Tilmann Köhlers profunder Inszenierung genügend Raum, sich auf Frank Martins ganz nach innen gerichteter Musik einzulassen. Dazu gibt es zahlreiche grandios anmutende Stimmungsbilder. Dazu reichen kleine Stilmittel, wie Sand für den ausgießenden Trank und Briefe, die pathetisch gehalten und zerrissen werden.

Der von Tilman Michael einstudierte Chor der Oper Frankfurt präsentiert sich zunächst mit weiten blauen Umhängen, die ein wenig an Harry Potters Hogwards erinnern. Später tragen sie eine Art asynchrone grüne Stolas und schließlich nur noch klassisch Schwarz. Strahlend weiß ist das Hochzeitskleid von Iseut die Blonde (mit Blumenborte). Die anderen Damen tragen elegant wirkende Kleider, Tristan ein weißes Hemd (auf schwarzer Hose), die anderen Herren schwarze Anzüge (Kostüme: Susanne Uhl).

Dirigent und Studienleiter Takeshi Moriuchi dirigiert Frank Martins Stimmungsgemälde mit ausladenden Bewegungen und viel Leidenschaft. Die sieben Mitglieder des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters (und Mari Miura als Gast am Klavier), spielen Martins kunstvolle Symbiose aus Zwölftontechnik und tonalen Gestaltungsmitteln wunderbar subtil.

Als Gast ist bei dieser Partie der Tenor Rodrigo Porras Garulo beteiligt. Während alle anderen hier ein Rollendebüt haben, ist er mit seiner Rolle (Tristan) aus einer Produktion der Staatsoper Hannover vertraut. Hingebungsvoll spannt er weite Bögen und vermittelt einen sehr empathischen Tristan. Sopranistin Juanita Lascarro strahlt als Iseut die Blonde und zeigt wie ausdrucksstark und vielseitig sie ist. Die Unheil stiftende Iseut die Weisshändige gibt die Mezzosopranistin Cecelia Hall mit schöner Klangfülle. Bass Kihwan Sim als König Marc, der dem Liebespaar gewissermaßen seinen Segen gibt, dosiert seine kraftvolle Stimme erhaben und kunstvoll.
Den Erzählcharakter des Werks unterstreichen harmonisch eingebunden zudem Clara Kim (Branghien), Theo Lebow (Kaherdin), Cláudia Ribas (Die Mutter von Iseut der Blonden) und Jarrett Porter (Herzog Hoël).

Le vin herbé von Frank Martin ist ein nahegehender, eindringlicher Blick auf den Tristan-Mythos und auch für Anhänger von Richard Wagner lohnend. Von Tilmann Köhlers feingeschliffener Inszenierung und die großartige homogene Gesamtleistung gibt nur noch drei weitere Vorstellungen (10., 14. und 16. Juli 23), man sollte diese Gelegenheit auf jeden Fall nutzen!

Markus Gründig, Juli 23


Le vin herbé

(Der Zaubertrank)

Weltliches Oratorium
Von: Frank Martin
Text von: Joseph Bédier
Konzertante Uraufführung: 26. März 1942 (Zürich, Tonhalle Zürich)
Szenische Uraufführung: 15. August 1948 (Salzburg, Salzburger Landestheater)

Neueinstudierung nach coronabedingter Premierenabsage 2020/21 / Frankfurter szenische Erstaufführung an der Oper Frankfurt: 7. Juli 23 (Opernhaus)

Musikalische Leitung: Takeshi Moriuchi
Inszenierung: Tilmann Köhler
Bühnenbild: Karoly Risz
Kostüme: Susanne Uhl
Licht: Jan Hartmann
Chor: Tilman Michael
Dramaturgie: Zsolt Horpácsy

Besetzung:

Iseut, die Blonde: Juanita Lascarro
Iseut, die Weisshändige: Cecelia Hall
Tristan: Rodrigo Porras Garulo
Branghien: Clara Kim°
König Marc: Kihwan Sim
Kaherdin: Theo Lebow
Die Mutter von Iseut der Blonden: Cláudia Ribas°
Herzog Hoël: Jarrett Porter°

Chor der Oper Frankfurt
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

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