Von Sprache und Identität: »Die Besetzung der Dunkelheit« am Staatstheater Wiesbaden uraufgeführt

Die Besetzung der Dunkelheit ~ Staatstheater Wiesbaden ~ Ali Ehsan Akansu (Philipp Steinhäuser), Tarik Akansu (Christian Klischat) ~ Foto: Karl und Monika Forster
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Gibt es ein Volk ohne Land? Eigentlich sind diese Begriffe doch untrennbar miteinander verbunden. Nicht so jedoch bei der Volksgruppe der Kurden. Seit jeher sind sie ohne eigenes Land, obwohl die Bevölkerung auf zwischen 25 und 50 Millionen geschätzt wird. Sie leben weit verstreut, vor allem in der Türkei, dem Iran, dem Irak und in Syrien. Und in der Diaspora. Allein in Deutschland sollen rund 1 Millionen Kurden leben. Vielerorts haben sie es, gelinde ausgedrückt, nicht einfach. Insbesondere in der Türkei ist die Situation besonders verfahren. Zeitweise sollten sie dort gleich ganz ausgemerzt bzw. zwangsnationalisiert werden.

Mit dem Thema der Assimilation setzt sich Bachtyar Ali in seinem jüngsten Roman Die Besetzung der Dunkelheit auseinander. Der inzwischen in Deutschland lebende Ali ist Autor von Romanen, Gedichten und Essays. Geboren wurde er in der Stadt Sulaimaniyya. Mit über 2 Millionen Einwohnern (2018) ist sie eine der größten Städte der autonomen Region Kurdistan im Irak. Sein neuster Roman liegt zwar noch nicht in deutscher Übersetzung vor, dafür aber schon in einer von Kaval Sidqi erstellten deutschen Bühnenfassung. Diese wurde jetzt im Kleinen Haus des Staatstheaters Wiesbaden unter Anwesenheit des Autors uraufgeführt.

Die Besetzung der Dunkelheit
Staatstheater Wiesbaden
Ismet Oktay (Ferhat Keskin), Ali Ehsan Akansu (Philipp Steinhäuser)
Foto: Karl und Monika Forster

Vom anerkannten ultranationalistischen Türken zum Geächteten

Ali verbindet in Besetzung der Dunkelheit zwei Themenstränge, die zeitlich rund eine Generation auseinanderliegen. Zum einen geht es um den Opernnarr und Linguistik Professor Tarik Akansu (resolut: Christian Klischat), der 1945 nach Südanatolien entsandt wird, um dort die kurdische Sprache auszulöschen. Orts- und Straßennamen erhalten türkische Namen, kurdisch zu sprechen wird verboten. Denn ohne Sprache, keine Identität (in der Türkei wurde das Sprachverbot unter Recep Tayyip Erdoğan aufgehoben, schließlich strebt er eine EU-Mitgliedschaft an).

Die Besetzung der Dunkelheit
Staatstheater Wiesbaden
Ali Ehsan Akansu (Philipp Steinhäuser), Dr. Sinan (Lukas Schrenk)
Foto: Karl und Monika Forster

Zum anderen erzählt Ali vom ultranationalistischen Türken Ismet Oktay (kämpferisch: Ferhat Keskin), der in den 1970ern eines Tages aufwacht und statt Türkisch nur noch das damals strikt verbotene Kurdisch sprechen kann. Im Laufe der knapp zweistündigen pausenlosen Aufführung werden beide Erzählstränge miteinander verbunden. Damit der „erkrankte“ Oktay gehört werden kann, bedarf es eines Dolmetschers, und das ist einer der beiden Söhne von Professor Akansu, Ali Ihsan Akansu (besonnen: Philipp Steinheuser). Ali zeigt hier sehr deutlich den Zusammenhang von Sprache und Identität auf. Der bisher hoch angesehene Ismet Oktay gilt durch die verbotene Sprache die er plötzlich spricht als Staatsfeind, selbst seine Familie wendet sich von ihm ab. Dazu werden weitere Themen gestreift. Wie das Thema Homosexualität, das auch im kurdischen Raum noch oft mit Tabus belegt ist. Allein es zu benennen ist schön und bemerkenswert.

Die Besetzung der Dunkelheit
Staatstheater Wiesbaden
Ensemble
Foto: Karl und Monika Forster

Eindringlicher Blick und Musik

Die Inszenierung von Ihsan Othmann wartet mit einem großen Schauspielensemble aus Deutschen und Kurden auf. Mit dem seitlich positionierten Musiker Joachim Kuipers am Klavier sind insgesamt vierzehn Personen auf der Bühne zu erleben. Der in Berlin lebende kurdische Regisseur inszenierte am Staatstheater Wiesbaden bereits Salman Rushdies Satanische Verse und sein eigenes Stück Wir werden unter Regen warten. In seiner Umsetzung von Die Besetzung der Dunkelheit changiert er zwischen sehr eindringlichen und heiteren, bis hin zu grotesk anmutenden Bildern. Gewalt spielt natürlich auch eine Rolle. Dazu gibt es zugespielte Musik von Verdi, Livemusik am Klavier und Gesungenes. Es ist eine sehr abwechslungsreiche Inszenierung, oftmals mit sehr eindringlichen Bildern. Dabei zeigt die Bühne von Olaf Grambow ein an nahöstliche Architektur anmutendes Halb eines runden Anwesens. Es dient für die unterschiedlichen Handlungsorte, wie beispielsweise für das Heim von Akansu oder die Irrenanstalt in Elazığ (Zeit- und Ortsangaben werden zusätzlich mittels Videoprojektionen verdeutlicht). Nach dem Tod von Tarik und Ali Ihsan Akansu beednet eine vom Ensemble auf kurdische gesungene Volksweise das Stück sehr besinnlich.

Auch im Hinblick auf die aktuelle Zwangsverrussung besetzter Gebiete der Ukraine durch Russland, bewegt diese tragikomische Reise durch die türkisch-kurdische Geschichte. Viel Applaus für alle Beteiligte.

Markus Gründig, Februar 23


Die Besetzung der Dunkelheit

Nach dem gleichnamigen Roman von: Bachtyar Ali
Fassung von: Kaval Sidqi (Mitarbeit: Irene Bry)

Premiere/Uraufführung am Hessischen Staatstheater Wiesbaden: 17. Februar 23 (Kleines Haus)

Inszenierung: Ihsan Othmann
Bühne: Olaf Grambow
Kostüme: Jessica Rockstroh
Licht: Oliver Porst
Musik: Joachim Kuipers
Video: Sebastian Lankes
Choreografische Beratung: Serhat Kural
Dramaturgie: Wolfgang Behrens

Besetzung:

Tarik Akansu, Gesundheitsminister, Uniprof: Christian Klischat
Ali Ihsan Akansu: Philipp Steinheuser
Ismet Oktay: Ferhat Keskin
Oyzar, Didem Sahin, Dichterin, Wahnsinniger 3: Kaval Sidqi
Oyzars Schwester, Zeynep, Tansu, Dr. Koibra, Schauspielerin, Ismets Tochter, Frau: Christina Tzatzaraki
Zaki Raza Baklan, Nacip Fatih Qalip, Saifeddin, Chefredakteur, Mann 5: Martin Plass
Dr. Sinan, Hakki Sunayi, Alter, Wahnsinniger 1, Mann 2: Lukas Schrenk
Chefarzt, Adnan Pascha, Innenminister, Hotelbesitzer, Mann 1: Michael Birnbaum
Musiker: Joachim Kuipers
Statisten: Lara Göhlert, Andreas Jolk, Anna-Lena Owen, Felix Scheuer, Sebastian Wieland

staatstheater-wiesbaden.de