Oper »Oryx and Crake« nach Margaret Atwood am Staatstheater Wiesbaden uraufgeführt

Oryx and Crake ~ Staatstheater Wiesbaden ~ Snowman (Benjamin Russell), Craker ~ Foto: Karl und Monika Forster

Vor zwanzig Jahren erschien der dystopische Roman Oryx and Crake der kanadischen Autorin Margaret Atwood (* 1939). Visionär handelt er bereits von den Auswirkungen des Klimawandels und von einer tödlichen Pandemie. Er bildet den ersten Teil ihrer Trilogie MaddAddam. Er spielt in einer fiktiven Zukunft, die aber ob ihrer Bezüge zur heutigen Zeit, erschreckend nah erscheint. Sie selbst spricht in diesem Zusammenhang nicht von Science Fiction, sondern von Speculative Fiction. Denn das was sie in ihren Romanen technisch beschreibt (wie Genmanipulation und Organtransplantation), gab es bereits damals schon (anders als beispielsweise das Beamen oder den Warp-Antrieb bei Star Trek). So stellen sich bei ihr vielmehr die Fragen „Was wäre wenn?“ und „Wohin führt unser heutiges Handeln?“.

Als Auftragswerk des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden komponierte der deutsch-dänische Komponist, Pianist und Dirigent Søren Nils Eichberg eine Oper über diesen Roman. Das englischsprachige Libretto verfasste die Dramaturgin, Dramatikerin und Schriftstellerin Hannah Dübgen.

Oryx and Crake
Staatstheater Wiesbaden
Craker
Foto: Karl und Monika Forster

Wohlwollender Onkel für transgene Menschen

Roman wie Oper beginnen in einer postapokalyptischen Zukunft. Nach dem Abschmelzen der Polkappen und anderer Katastrophen aufgrund des Klimawandels ist vom ehemaligen New York nicht mehr viel übrig, es wurde regelrecht überflutet. Am Rande dieser Region vegetiert ein junger, abgemagerter und sichtlich verfallener Mann. Er gab sich selbst den Namen Snowman, eigentlich heißt er Jimmy. Um ihn herum lebt eine Horde junger, nackter transgener Menschen, die sogenannten Craker. Für sie ist Snowman eine Art Erzieher, ein wohlwollender Onkel. Vom Rest der Menschheit ist nichts zu sehen. Denn es gab eine globale Seuche, die den Homo Sapiens vernichtet hat. Aus seinen Erinnerungen heraus berichtet Snowman wie es zu all dem gekommen ist. Dabei geht er bis in seine frühe Kindheit zurück, erzählt von Schule, Eltern, Freunden, Studium und Affären. Atwood, wie auch Eichberg und Dübgen, lassen sich hierfür viel Zeit. Die Auflösung wie all dies hat passieren können, geht am Ende dann sehr schnell vonstatten. Vieles aus dem Roman mit seinen fünfzehn Kapiteln findet sich in der aus acht Bildern bestehenden Bühnenfassung (betitelt mit „Awakening / Falling / Eating / Walking / Remembering / Liberating / Returning / Encountering“). Selbstverständlich konnte nicht alles von Atwood übernommen werden. Manches wird nur kurz angerissen. Wie die systemkritische Mutter von Jimmy, die darüber erst depressiv und dann zur Dissidentin und Staatsfeindin wird.

Oryx and Crake
Staatstheater Wiesbaden
Snowman (Benjamin Russell), Christopher Bolduc (Crake), Jimmy (Samuel Levine)
Foto: Karl und Monika Forster

Dunkelheit & kunstvolle Projektionen

Ein großer Unterschied zwischen Roman und Bühnenfassung sind die Lichtverhältnisse. Muss sich Schneemensch im Roman ständig vor von keiner Ozonschicht gefilterten UV-reichen Sonneneinstrahlung schützen, ist die Bühne stets dunkel gehalten. Ein Gazevorhang hängt die ganze pausenlose 100-minütige Aufführung vor der Bühne. Projektionen sind ein elementarer Bestandteil von Daniela Kercks Inszenierung. Ihre Bühne besteht aus einem überdimensional großen herausragenden Ast, auf dem Snowman haust (eine tolle Arbeit der Werkstatt des Staatstheaters Wiesbaden). Im Hintergrund sind Reste eines Gebäudes bzw. einer technischen Anlage zu sehen, der Hintergrundprospekt zeigt eine Küste mit einer Andeutung auf die Skyline der einstigen Stadt New York City. Orte wie Jimmys Zuhause, seine Studentenbude oder das abgeschirmte Labor von Crake werden vage angedeutet. Beeindruckend sind die aufwendig erstellten lebhaften Animationen und Projektionen, die mit dem Rhythmus der Musik abgestimmt scheinen (Video: Astrid Steiner).

Oryx and Crake
Staatstheater Wiesbaden
Snowman (Benjamin Russell), Oryx (Anastasiya Taratorkina), Craker
Foto: Karl und Monika Forster

Sphärische Musik

Søren Nils Eichberg stellte sich bereits 2017 in Wiesbaden mit der Oper über Geflüchtete, Schönerland, vor. Die in Atwoods Roman vorhandene bedrückende Grundstimmung hat er für Oryx and Crake mit ausgeprägtem sphärischen Dröhnen und Wimmern musikalisch übertragen. Vogel- und Naturstimmen werden zugespielt. Elektrische Sounds betonen den futuristischen Charakter des Stücks.

Wie bereits bei Schöneland, hat auch hier Albert Horne die Musikalische Leitung inne. Das Hessische Staatsorchester Wiesbaden entfacht eine vielseitige, stets vorwärtsdrängende dichte Klangatmosphäre, die hervorragend zur erzählten Geschichte passt. Der ebenfalls von Albert Horne einstudierte Chor des Staatstheaters Wiesbaden ist leider nur aus dem Off zu hören und zeigt sich nur zum Schlussapplaus. Gleichwohl sind seine Passagen von hoher Dichte und Prägnanz gekennzeichnet.

Oryx and Crake
Staatstheater Wiesbaden
Snowman (Benjamin Russell), Crake (Christopher Bolduc), Oryx (Anastasiya Taratorkina), Jimmy (Samuel Levine)
Foto: Karl und Monika Forster

Stimmige Ensembleleistung

Im Mittelpunkt der Oper steht die Figur Snowman. Bariton Benjamin Russell verkörpert ihn intensiv und glänzt dabei mit kraftvoller Stimme. Seinen superschlauen und ihm in fast allen Dingen überlegenen Jugendfreund Crake gibt selbstbewusst Bariton Christopher Bolduc. Beide Männer lieben, wenn auch auf unterschiedlicher Weise, die sonderbare Oryx. Ein überaus empathische junge Frau, deren Kindheit durch die Armut der Familie früh endete und die daraufhin verkauft und zu einer Sexarbeiterin wurde. Die seit dieser Spielzeit zum Ensemble zählende Sopranistin Anastasiya Taratorkina machte bereits im November 22 in Fidelio auf sich aufmerksam. Mit der Figur der Oryx und ihren expressiven, hohen Tönen, zeigt sie ihre große stimmliche Bandbreite sehr eindrucksvoll.

Zu diesem Trio fügen sich die weiteren Figuren ergänzend ein. Wobei es eigentlich ein Quartett ist, denn die Figur des Snowman vor der weltweiten Pandemie (Jimmy), gibt Tenor Samuel Levine. Jimmys Mutter Sharon verkörpert die Mezzosopranistin Fleuranne Brockway, Jimmys Vater Bass-Bariton Mikhail Biryukov. Die Kinder Jimmy und Crake verkörpern Solisten der Limburger Domsingknaben.
Wie im Buch erscheinen auch in der Oper am Ende drei Personen an einem Lagerfeuer. Snowman ist doch nicht alleine mit den Crakern. Ob das für einen Fortbestand des Homo Sapiens ausreicht, bleibt offen.

Tosender, lang anhaltender Applaus.

Marus Gründig, Februar 23


Oryx and Crake

Oper
Von: Søren Nils Eichberg (*1973)
Nach dem Roman Oryx and Crake (2003) von: Margaret Atwood (* 1939)
Libretto: Hannah Dübgen
In englischer Sprache. Mit deutschen Übertiteln
Ein Auftragswerk des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden

Premiere/Uraufführung am Staatstheater Wiesbaden: 18. Februar 23 (Großes Haus)

Musikalische Leitung: Albert Horne
Inszenierung / Bühne: Daniela Kerck
Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer
Choreografie: Rosana Ribeiro
Licht: Oliver Porst
Video: Astrid Steiner
Chor: Albert Horne
Einstudierung Limburger Domsingknaben: Andreas Bollendorf
Dramaturgie: Constantin Mende

Besetzung:

Oryx: Anastasiya Taratorkina
Crake: Christopher Bolduc
Jimmy: Samuel Levine
Snowman: Benjamin Russell
Sharon, Jimmys Mutter: Fleuranne Brockway
Jimmys Vater: Mikhail Biryukov
Craker Abraham Lincoln: Tianji Lin
Craker Sacajawea: Jessica Poppe
Craker Empress: Josephine Stella An
Crake und Jimmy als Kind: Solisten der Limburger Domsingknaben
Craker: Felix Chang, Guillermo De la Chica Lopez, Jasper H. Hanebuth, Carlos Diaz, Joel Spinello, Tamara Kurti, Carla Peters, Josefine Rau, Statisterie des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden

Statisterie des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Chor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden

Die nächsten Vorstellungen finden statt am: 1./ 11./ 23./ 31. März & 16./ 21. April 2023

staatstheater-wiesbaden.de