Sie ist Volksoper, Psychothriller und düstere Schauerballade: Tschaikowskis Oper Die Zauberin. Mit farbenreicher Musik, großen Chortableaus, Tanzszenen und einem Beziehungsdrama hat sie großes Potenzial für einen Publikumserfolg. Kein Wunder, dass der Komponist sie als sein bestes Bühnenwerk sah. In den Spielplänen durchgesetzt hat sie sich bisher nicht.
Eine der wenigen Aufführungen in Deutschland gab es 2005 in Baden-Baden. Die Zauberin eröffnete die Sommerfestspiele im Festspielhaus (Gastspiel des Mariinsky-Theatersaus St. Petersburg, wo sie 1889 auch uraufgeführt wurde). An der Oper Frankfurt ist sie nun als Frankfurter Erstaufführung zu erleben. Sie ins Programm zu nehmen war ein Vorschlag der Sopranistin Asmik Gregorian. Sie verkörpert hier die Titelrolle und ist derzeit parallel (!) bei der Wiederaufnahmeserie von Puccinis Manon Lescaut in der Titelrolle auf der Bühne zu erleben. Mit der Partie der Nastasja ist sie bereits vertraut (2014, im Theater an der Wien unter der Regie von Christof Loy).
Bezauberung durch Authentizität, Charisma und Unvoreingenommenheit
Eine im 15. Jahrhundert spielende Oper, die die Verhältnisse im zaristischen Russland im 19 Jahrhundert reflektiert, kann heute noch immer aktuell sein. Der russische Regisseur Valentin Uryupin zeigt dies bei seinem Debüt an der Oper Frankfurt mit starken Bildern. Die Geschichte hat er behutsam in die Gegenwart transferiert. Eine kurze Stelle im Libretto nutzt er, um aufzuzeigen, dass Polizei und Kirche auch heute noch bestimmen, was moralisch und was unmoralisch ist. Dabei ist seine Inszenierung insgesamt recht konservativ angelegt.
Die Zauberin handelt nicht von Hexerei und Zauber, wie der Titel suggeriert. Die Hauptfigur Nastasja, von allen Kuma genannt, bezaubert vielmehr durch ihre Authentizität, ihr Charisma und ihre Unvoreingenommenheit. Aufgeschlossen und unvoreingenommen betreibt sie vor der fünftgrößten Stadt Russlands, in Nischni Nowgorod, eine Gutsschänke (die hier eine Kunstgalerie ist). Insbesondere Männer zieht Nastasja durch ihre natürliche, unverkrampfte und ungekünstelte Art in ihren Bann. Das fördert Eifersucht und hat am Ende zahlreiche tödliche Konsequenzen. Zudem fühlt sich der Priester Mamyrow durch ihre Einladung zum Tanz persönlich angegriffen und bezichtigt sie der Zauberei und Unzucht.
Bezüge zur aktuellen Lage in Russland
Dabei ist Nastasjas Ort ein Freiraum, in dem Diversität großgeschrieben wird. Jeder kann sich hier so geben, wie es ihm gefällt. Damit ist er ein Gegenentwurf zur Lage der aktuellen freien Kunstszene in Russland, die nicht erst seit dem Ukrainekrieg mit massiven Einschränkungen und Einschüchterungen konfrontiert ist. Während sich Nastasjas Gäste eine Reportage über die Niederschlagung von Demonstranten in einem Video anschauen, kommen Polizisten in den Raum und verprügeln einzelne (Video: Christian Borchers).
Erinnerung an den Umgang von Aktivisten und Kritikern Russlands die mundtot oder gar ermordet wurden (wie beispielsweise die Reporterin Anna Politkowskaja) werden unweigerlich wach. Und die im Stück enthaltene Ermordung mittels eines Gifts ist traurigerweise bis heute ein Thema (denkt man u. a. an die Vergiftung des Doppelagenten Alexander Litwinenkos mit Polonium oder den Giftanschlag auf den oppositionellen Politiker Alexei Nawalny).
Im Zentrum dieses recht schmucklosen Raums (lediglich ein Wandbereich ist mit einem abstrakten großflächigen dunkelgrünen Waldbild versehen, dazu im Hintergrund ein Blutmond) stehen zwei zusammengefügte Podeste, die so etwas wie eine Bühne bilden (später steht an dieser Stelle ein Bett aus angedeuteten Europaletten). Auf ihnen thront auf langen Stäben ein Miniaturhaus. Ein Haus als Ausdruck für Privatsphäre und als Schutzraum. Es leuchtet je nach Stimmung in verschiedenen Farben (in wärmendem gelb, leidenschaftlich rot, hoffnungsvoll grün und ernüchternd weiß). Es lässt sich als ein Abbild von Nastasja verstehen, von ihrem Seelenzustand.
Konträr dazu ist der Salon des Fürsten gestaltet, ein bieder, elegant anmutender Raum. Hier thront ein Boxdummy auf einer Galerie, ein Spielplatz für den Prinzen (Bühnenbild: Christian Schmidt).
Eine überdimensionale Wolfsfigur, wie auch die Wolfsköpfe tragenden Tänzer (Choreografie: Gal Fefferman), können unterschiedlich interpretiert werden: Der Wolf als Bedrohung und Schutzsymbol zugleich. Ein liebkosender, echter Schäferhund sorgt nicht nur für Sympathie beim Publikum, sondern ist wohl auch für den Fürst ein wichtiger emotionaler Bezugspunkt. Schon vor seinem ersten Treffen mit Nastasja ist scheinbar die Beziehung zur Fürstin längst abgekühlt. Kirsten Dephoffs Kostüme sind vielfältig, insbesondere für die Galerie-Besucher. Kräftige Farbtöne kommen dabei vor allem bei den Kopftüchern der Damen zum Einsatz.
Sinnliche und starke Asmik Gregorian
Zum dritten Mal kann sich das Frankfurter Publikum glücklich schätzen, die gefeierte litauische Sopranistin Asmik Gregorian in einer Titelpartie erleben zu können. Ihre Strahlkraft, stimmlich und darstellerisch, ist sehr beeindruckend. Nach Odysseus in Luigi Dallapiccolas Ulisse ist Ensemblemitglied Iain MacNeil erneut in einer Hauptrolle zu erleben. Die Figur des finsteren und treulosen Fürsten verkörpert er mit großer stimmlicher Autorität (auch wenn er als leicht indisponiert angekündigt wurde).
Bei der besuchten zweiten Vorstellung gab es zwei pandemisch bedingte Umbesetzungen. Für den erkrankten Michael McCown gestaltete der vom Opernchor kommende Tenor Alexey Egorov die Partie des Paisi. Die Hauptrolle der Fürstin teilten sich bei dieser Vorstellung in Vertretung für Claudia Mahnke die Mezzosopranistin Elena Manistina (musikalisch ausdrucksstark vom Bühnenrand) und Verena Rosna (szenisch). Kein leichtes Unterfangen, das aber sehr gut funktioniert hat.
Sein Debüt an der Oper Frankfurt gibt bei dieser Neuinszenierung der russische Tenor Alexander Mikhailov. Er zeigt mit schönem Stimmtimbre einen vitalen jungen Prinzen, der zugleich ein erfolgreicher Boxkämpfer ist (mit Faible für goldene Outfits). Das Liebesduett im dritten Akt zwischen dem Prinzen und Nastasja ist ein Höhepunkt der Oper.
Dass Priester auch dunkle Seiten haben können, zeigt Vasily Barkhatov deutlich. Der unnachgiebige Priester Mamyrow ist hier zugleich der den tödlichen Gifttrunk liefernde Kudma (vehement: Frederic Jost).
Dazu sind viele Ensemble- und Opernstudiomitglieder beteiligt. Vor allem im großen ersten Akt kommt der von Tilman Michael einstudierte Chor der Oper Frankfurt ausgezeichnet zur Geltung. Nach seinen Dirigaten von Oedipus Rex und Iolanta leitet der russische Dirigent Valentin Uryupin erneut das Frankfurter Opern- und Museumsorchester. Allein musikalisch ist Die Zauberin mit ihren bunten Farben, feinen instrumentalen Soli und kraftvollen Ausbrüchen ein Erlebnis.
Am Ende der knapp vierstündigen Aufführung (mit einer Pause nach zwei Stunden) intensiver Beifall.
Markus Gründig, Dezember 22
Die Zauberin
(Tscharodeika)
Oper in vier Akten
Von: Peter I. Tschaikowski
In russischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln
Premiere / Frankfurter Erstaufführung: 4. Dezember 22
Besuchte Vorstellung: 11. Dezember 22
Musikalische Leitung: Valentin Uryupin
Inszenierung: Vasily Barkhatov
Bühnenbild: Christian Schmidt
Kostüme: Kirsten Dephoff
Choreografie: Gal Fefferman
Licht: Olaf Winter
Video: Christian Borchers
Chor: Tilman Michael
Dramaturgie: Zsolt Horpácsy
Besetzung:
Nastasja: Asmik Grigorian
Fürst: Iain MacNeil
Die Fürstin: Claudia Mahnke / Elena Manistina (11.12.22; musikalisch) / Verena Rosna (11.12.22; szenisch)
Prinz Juri: Alexander Mikhailov
Mamyrow / Kudma: Frederic Jost
Nenila: Zanda Švēde
Iwan Schuran: Božidar Smiljanić
Foka: Dietrich Volle
Polja: Nombulelo Yende°
Balakin: Jonathan Abernethy
Potap: Pilgoo Kang
Lukasch: Kudaibergen Abildin
Kitschiga: Magnús Baldvinsson
Paisi: Michael McCown / Alexey Egorov (11.12.22)
Künstler: Aslan Diasamidze
Tanz: Rouven Pabst / Gabriele Ascani / Luciano Baptiste / Guillermo de la Chica Lopez / Carlos Díaz Torres / Jonathan Schmidt
Chor der Oper Frankfurt
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
°Mitglied des Opernstudios
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