Das Frankfurter Publikum hat den italienischen Komponisten Luigi Dallapiccola (1904-1975) in guter Erinnerung. Die Oper Frankfurt zeigte ab Juni 2004 seinen Bühnenerstling Volo di notte (Nachtflug) in Kombination mit seinem bekanntesten Werk Il Prigioniero (Der Gefangene). Die Inszenierung von Keith Warner war sehr beliebt und wurde zuletzt 2012 wiederaufgenommen. Beide Einakter gelten als Klassiker der Moderne.
Mit Dallapiccolas einziger abendfüllender Oper Ulisse (Odysseus) zeigt die Oper Frankfurt zum Abschluss der Spielzeit 2021/2022 nun eine absolute Rarität. Ulisse wurde 1968 an der Deutschen Oper Berlin unter der musikalischen Leitung von Lorin Maazel uraufgeführt (in deutscher Sprache). Nun ist diese Oper erstmals an der Oper Frankfurt zu sehen (ebenfalls auf Deutsch und ohne Pause). Nach einer Inszenierung am Oldenburgischen Staatstheater 1984 ist es erst die dritte Inszenierung dieser Oper in Deutschland.
„Ein Extremfall der Literarisierung“
Dallapiccola bezeichnete Ulisse als „summa“ seines Lebens. Insbesondere im Epilog findet sich ein dichtes Netz von musikalischen Selbstzitaten aus seinem Gesamtwerk. Wie bei ihm üblich, schrieb er auch für Ulisse das Libretto selber. Dabei ließ er sich von Homers Odyssee inspirieren, aber auch von Aischylos, Hölderlin, Thomas Mann, James Joyce und anderen („In der Geschichte des italienischen Musiktheaters ein Extremfall der Literarisierung“, Ulrich Schreiber).
Bei Dallapiccola ist Odysseus kein kriegerischer Held, sondern mehr ein Sinnsuchender und Sinnfindender. Jemand, der immer wieder mit der Frage nach seiner Herkunft und seiner Identität konfrontiert wird. Konkrete Gegenwartsbezüge finden sich im Werk nicht, dafür allgemeingültige philosophische Fragen, wie die ewige Suche nach Wissen und Tugend.
Feuerwerk an Regie- und Kostümeinfällen
Mit dieser Oper gibt die Berliner Regisseurin Tatjana Gürbaca ihr Debüt an der Oper Frankfurt. Im nahen Staatstheater Mainz war sie von 2011 bis 2014 Operndirektorin und ist mittlerweile in ganz Europa gefragt.
Schon wenn das Publikum den Saal betritt, ist die Bühne offen. Viele sehr unterschiedliche Menschen laufen wie bei einer Besichtigung durch einen mystisch anmutenden „Un-Ort“. Schließlich wird einer dieser Touristen von einer Bühnenarbeiterin zu einem modernen, blutverschmierten Odysseus mit Helm und Eisenstange verwandelt und sodann setzt die Musik ein und seine Geschichte, seine Vergangenheit, wird freigelegt. Somit ist Odysseus einer von uns, wir sind er.
Der „Un-Ort“ der Einheitsbühne gleicht einem riesigen Schacht. Mit quadratischen Säulen, die teilweise durchbrochen sind, werden Assoziationen zu einer Tiefgarage, aber auch an einen antiken Ort, geweckt. Er ist gänzlich in schwarz gehalten und hat eine geringe Höhe (Achtung: Die Sicht von den oberen Rängen könnte eingeschränkt sein). Zum Beginn und Ende befinden sich große Hügel darin. Umzüge und Verwandlungen finden offen statt (Bühnenbild und Licht: Klaus Grünberg).
Um besser zu verstehen, wo sich Odysseus gerade befindet (im Palast des Königs Alkinoos, bei den Lotophagen, bei der Zauberin Kirke, im Hades etc.) ist es hilfreich, die Inhaltsangabe im Programmheft zu lesen. Dieses bietet zudem ausführliche Informationen zum Werk, die bei dieser Opernrarität anderswo nur schwer aufzufinden sind. Tatjana Gürbaca fragt im Kern, was macht uns Menschen aus. Dabei vermittelt sie zahlreiche Bezüge zur Gegenwart. Und sie bietet für jede Szene und die Zwischenmusiken viel an, ein wahren Feuerwerk an Einfällen, ohne dass die Inszenierung überladen wirkt (mit Formel-1 Helmen, Krankenhausbett, Stehlampen und Pompons). Ein großer Teppich dient ihr als Ort des Erzählens, des Verknüpfens von Geschichten. Bunt und grell ist schließlich das große Festmahl der Freier. Hier trägt das Volk Tierköpfe, Hörner und bunte Perücken, die Freier zusätzlich ihr Geschlecht betonende Unterwäsche über ihren Hosen, bis hin zu (künstlichen) offenen Gliedern zur Betonung ihrer manischen sexuellen Begierde (Kostüme: Silke Willrett). Natürlich geht es dann auch auf der Feier ordentlich zur Sache. Der Tod Melanthos wird plakativ gezeigt, in dem ihr Odysseus lediglich einen Eimer mit Blut überschüttet (der Tod der Freier wird hingegen nicht gezeigt).
Zwölftonmusik in italienischer Färbung
Dallapiccola griff Arnold Schönbergs Zwölftontechnik auf und führte sie in Italien ein. Er verband sie mit einer eigenen Technik, sodass seine Musik von italienischer Kantabilität geprägt ist. Am Pult des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters vermittelt der italienische Dirigent Francesco Lanzillotta die Musik beachtenswert und detailverliebt. Groß dabei ist der sich in vielen unterschiedlichen Kostümen zeigende und mit großer Leidenschaft einbringende Chor der Oper Frankfurt (Einstudierung: Tilman Michael).
Die Titelfigur vermittelt Ensemblemitglied Iain MacNeil mit intensiver Darstellungskraft und stimmlicher Stärke. Gleichsam ist seine Stimme flexibel. Sie klingt unangestrengt und wohltönend. Mit ihrem hohen Niveau überzeugen auch die vielen weiteren Beteiligten. Wie Altistin Katharina Magiera als Zauberin Kirke und Lebedame Melantho oder Sopranistin Juanita Lascarro als Nymphe Kalypso und als Odysseus‘ Ehefrau Penelope. Die französisch-zypriotische Sopranistin Sarah Aristidou besticht als Königstochter Nausikaa.
Kleinere aber nicht minder markante Auftritte haben Andreas Bauer Kanabas als König der Phaiaken, Claudia Mahnke als Odysseus‘ verstorbene Mutter, Sebastian Geyer als Peisandros, Brian Michael Moore als treuer Sauhirte Eumäos und Countertenor Dmitry Egorov als Odysseus‘ Sohn Telemachos. Dazu gefallen Yves Saelens als Demodokos / Teiresias und Jaeil Kim als Eurymachos. Exponiert herausgestellt ist der dreiste Freier Antinoos des Baritons Danylo Matviienko (klangmächtig und mit dem trainiertesten Körper des Ensembles).
Der Schluss der Oper ist kurz und besinnlich. Anders als bei Homer überlebt Odysseus. Einsam sitzt er auf einem Hügel im Meer. Sein Herz und das Meer sind nicht mehr allein…
Bei der Premiere gab es begeisterten und lang anhaltenden Applaus für Sänger:innen und das Inszenierungsteam gleichermaßen, ein deutlicher Beleg, dass sich eine szenische Umsetzung dieser Oper lohnt.
Markus Gründig, Juni 22
Eine Rückkehr Tatjana Gürbacas ist laut Oper Frankfurt bereits in Planung (für die Saison 2023/24).
Im Rahmen dieser Neuinszenierung findet an der Oper Frankfurt am kommenden Sonntag, den 3. Juli um 11 Uhr im Holzfoyer die 10. Kammermusik statt (mit dem Quintett Vito Frazzi).
Ulisse
(Odysseus)
Oper in einem Prolog und zwei Akten
Von: Luigi Dallapiccola
Libretto: Luigi Dallapiccola nach der Odyssee des Homer und anderen Quellen
Deutsche Übersetzung: Carl-Heinrich Creith
Uraufführung: 22. September 1968 (Berlin, Deutsche Oper)
Premiere an der Oper Frankfurt: Sonntag, 26. Juni 22 (Frankfurter Erstaufführung)
In deutscher Sprache
Musikalische Leitung: Francesco Lanzillotta
Inszenierung: Tatjana Gürbaca
Bühnenbild und Licht: Klaus Grünberg
Kostüme: Silke Willrett
Chor: Tilman Michael
Dramaturgie: Maximilian Enderle
Besetzung:
Odysseus: Iain MacNeil
Kirke / Melantho: Katharina Magiera
Kalypso / Penelope: Juanita Lascarro
Demodokos / Teiresias: Yves Saelens
Nausikaa: Sarah Aristidou
Alkinoos: Andreas Bauer Kanabas
Antikleia: Claudia Mahnke
Antinoos: Danylo Matviienko
Eurymachos: Jaeil Kim
Peisandros: Sebastian Geyer
Eumäos: Brian Michael Moore
Telemachos: Dmitry Egorov
Erste Magd: Marvic Monreal°
Zweite Magd: Stefanie Heidinger
Lotophagin: Julia Bell
Chor der Oper Frankfurt
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
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