Grandiose Unterhaltung mit romantischer und zynischer Note: »The Totalitarians« am English Theatre Frankfurt

The Totalitarians ~ English Theatre Frankfurt ~ Penny (Sarah Waddell) ~ © Martin Kaufhold

Mit Peter Sinn Nachtriebs Farce The Totalitarians beendet das English Theatre Frankfurt die noch bis 24. Juli laufende Spielzeit 2021/2022. Das Stück trifft das Spielzeitmotto „Devious, Deadly & Slightly Offensive“ („hinterhältig, tödlich und leicht beleidigend“) im Kern. Die Inszenierung von Mark Mineart bietet grandiose Unterhaltung mit zynischer Note.

Uraufführung vor Trumps Präsidentschaftskandidatur

Der Stücktitel nimmt das Thema vorneweg: Befürwortung des Totalitarismus. Als totalitäre Systeme gelten vor allem der Nationalsozialismus und der Stalinismus. Sind diese Systeme auch überwunden, ihre zugrunde liegenden Gedanken finden sich vielerorts in der Gegenwart. Anhänger des Totalitarismus streben nach einem neuen autoritären und undemokratischen Wertesystem. Peter Sinn Nachtriebs The Totalitarians wurde bereits im Jahr 2014 uraufgeführt, zwei Jahre vor Donald Trumps Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten (Juni 2016). Nun ist es erstmals in Europa zu sehen.

Es handelt vom populistischen Wahlkampf um das Gouverneursamt im US-Bundesstaat Nebraska durch die attraktive, naive und politisch absolut unerfahrene Kandidatin Penelope Easter, genannt Penny. Nur dank ihrer ehrgeizigen und talentierten Redenschreiberin Francine gelingen ihr einige Erfolge. Fakten sind nicht nötig, es gilt, die Erfüllung der Wählerwünsche in Aussicht zu stellen. Wie die Freiheit, überall rauchen und parken zu können. Ähnlichkeiten zu republikanischen Politikern wie Sarah Palin (Gouverneurin von Alaska) und Donald Trump tun sich auf.
Daneben geht es um das private Liebesglück von Francine und ihrem Mann Jeffrey und um den angehenden Revolutionär und Verschwörungstheorieanhänger Ben.

The Totalitarians
English Theatre Frankfurt
Jeffrey (Mark Hammersley), Ben (Nikolas Salmon)
© Martin Kaufhold

Nebraska ist nicht jedermanns Sache

Die Handlung spielt in dem im mittleren Westen der USA gelegenen Bundesstaat Nebraska. Er gilt als Kornkammer („cornhusker state“), denn 95 % der Gesamtfläche wird landwirtschaftlich genutzt. Mit Charme wirbt dessen Tourismusbehörde visitnebraska.com für einen Besuch, wohl wissend, dass das Land nicht jedermanns Sache ist („VISIT NEBRASKA. HONESTLY, IT’S NOT FOR EVERYONE“). „Hier gibt es nichts zu sehen oder zu tun. Abgesehen von all diesen Dingen.“

Zwei offizielle Werbespots werden zu jedem Aktbeginn auf einer großen LED-Tafel gezeigt und stimmen auf die besondere und liebenswerte Atmosphäre von Nebraska ein. In dieses Nest ist Francine ihrem Mann Jeffrey gefolgt, der seit nunmehr 12 Jahren als Allgemeinmediziner, „The gentle GP“ (General Practitioner), tätig ist und vor allem Diabetiker behandelt.

The Totalitarians
English Theatre Frankfurt
Penny (Sarah Waddell), Francine (Katy Federman)
© Martin Kaufhold

Groß aufspielende Darsteller:innen

Der Wechsel zwischen der Wohnung von Francine und Jeffrey, seiner Praxis, den verschiedenen Wahlkampfbüros und dem in einem Desaster endenden Auftritt im Lincoln Memorial Stadium erfolgt durch Einsatz einer Drehbühne (und entsprechenden Umdekorationen). Effektvoll ist der Auftakt zur Nominierungsfeier von Penelope Easter („Easter Rising“), wenn Konfettikanonen platzen, Luftballons herabfallen und Lichtkegel durch die Reihen gleiten.

Seitlich befindet sich links ein angedeutetes Wohnmobil des Verschwörungstheoretikers Ben (von wo aus er seine Videobotschaften sendet) und rechts eine Parkbank vor einem Birkenbaum für einen angedeuteten Außenbereich. Passend zum geerdeten Leben in Nebraska sind die Kostüme, bei denen natürlich vor allem Penny in grellen Pinktönen und Stars and Stripes Outfits am meisten glänzen kann (Bühnenbild und Kostüme: Richard Evans).

Regisseur Mark Mineart, der vor Jahren bereits selber als Schauspieler im English Theatre Frankfurt auf der Bühne stand (A Streetcar Named Desire, The Full Monty), lässt das vierköpfige Ensemble groß aufspielen. An vorderster Front steht die überzogen dargestellte und energiegeladene Penny der Sarah Waddell. Ihre Naivität ist nicht zu unterschätzen, denn sie zeigt durchaus Biss. Den größten Part hat die mit viel Körperlichkeit spielende Katy Federman als Francine, kämpft sie doch zugleich an zwei Fronten. Wandlungsfähig zeigt sich der sich nach Kindern sehnende Jeffrey des Mark Hammersley. Den schwer kranken und manisch veranlagten Ben gibt Nikolas Salmon mit viel Vehemenz. Alle vier kommen aus Großbritannien, die Textverständlichkeit ist sehr gut.

Am Ende haben Francine und Jeffrey ihre (sexuelle) Krise überwunden. Zumindest soweit gibt es ein Happy End. Gleichwohl bleibt es nicht zuletzt wegen des an ein Hakenkreuz gemahnenden Symbols von Pennys Wahlkampfmotto („Freedom from fear“; dreikreisförmig angeordnete F-Buchstaben) bei einem nüchternen Blick auch in den bundesdeutschen Alltag und der Notwendigkeit, nicht nur populistischen, inhaltsleeren Phrasen zu folgen.
Kräftiger Applaus für die schwungvoll umgesetzte Politsatire mit zynischer und romantischer Note.

Markus Gründig, Juni 22


The Totalitarians

Von: Peter Sinn Nachtrieb

Uraufführung: 1. Februar 2014 (New Orleans, Southern Repertory Theatre)
Europäische Erstaufführung: 18. Juni 22 (Frankfurt/M, English Theatre)

Premiere am English Theatre Frankfurt: 18. Juni 22
Besuchte Vorstellung: 21. Juni 22
Spielzeit bis: 24. Juli 22

Regie: Mark Mineart
Bühnenbild und Kostüme: Richard Evans
Lichtdesign: Johannes Paul Volk
Videodesign: Raphael Hustedt

Cast:

Francine: Katy Federman
Jeffrey: Mark Hammersley
Ben: Nikolas Salmon
Penny: Sarah Waddell

english-theatre.de