Die erste Premiere am Schauspiel Frankfurt im Jahr 2022 war zugleich eine Uraufführung: Anja Hillings Liberté oh no no no. Das Stück entstand als Auftragswerk des Hauses. Hilling (* 1975) wirft darin ein Kaleidoskop von Schlaglichtern auf das Leben einer jungen Frau, die ihre Position im Leben sucht. In 34 Szenen fächert sie ein vielschichtiges Bild einer modernen jungen Frau auf. Diese Szenen korrespondieren mit den Prosagedichten »Illuminations« des französischen Lyrikers Arthur Rimbauds (1854-1891).
Freiheit? Oh bitte nicht!
Diese junge Frau hat keinen Namen, nur eine Bezeichnung: R. Das R kann dabei für vieles stehen: Rebellin und Revolutionärin, Resignation und Ruhe, Realität und Realitätsverlust, bis hin zu Rimbaud. Sie stammt aus soliden Verhältnissen, hat alles, um ein erfolgreiches Leben zu führen. Doch schon bei ihrem ersten Auftritt zeigt sie sich ramponiert. Blut klebt an ihrem Körper, an ihrem Sweatshirt. In diesem Zustand wird ihr von der Umwelt nicht geholfen, sie wird vielmehr im Regen sitzen gelassen (Anspielung auf Rimbauds „Nach der Flut“). Innerhalb der folgenden knapp zwei Stunden pausenloser und kurzweiliger Spieldauer, ist diese „Kreatur“ (laut P) in verschiedenen Stationen ihres Lebens zu erleben. Wie bei ihrer Schulabschlussfeier, bei der Berufsberatung, beim Dating, in der Straßenbahn. Auch Themen, die sonst nicht so stark im Fokus stehen, werden thematisiert: ausgiebiges masturbieren, Alkoholsucht oder das Altern. Die Erzählung verläuft nicht chronologisch, gerade darin liegt die Besonderheit und die Stärke des Stücks. Ihre Erinnerungen an Erlebtes ist stark von ihrer Wahrnehmung geprägt, es kommt zu Realitätsverschiebungen, was ist real, was geträumt oder Fantasie? Zu vielen Ereignissen hat sie einen mehr intuitiven als intellektuellen Zugang. Als Kind verläuft sie sich im Wald. Dieser ist für sie ein sie vor dem Unbill der Welt schützender Raum. Eine gewisse Isolation begleitet sie auch später im Leben. Freiheit? Oh bitte nicht!
Lotte Schubert als starke und widersprüchliche R
Lotte Schubert verkörpert die groß angelegte Figur der R sehr vielseitig, mit starkem Enthusiasmus und starkem körperlichen Einsatz. Auch die Personen um sie herum haben keine Namen, nur Buchstaben als Bezeichnung. Diese tragen sie in großen Lettern auf ihren Sweatshirts (Kostüme: Nini von Selzam). Teils sind die Lettern identisch, teils unterschiedlich. Zusammen können sie so Wörter wie FEAR oder FREE bilden. Meistens sind sie aber schlichtweg V (wie die Versuchung).
Angelika Bartsch, u. a. bekannt als Rechtsmedizinierin in der ZDF-Serie „Heldt“ und den Burgfestspielen Bad Vilbel, zeigt schon stumm eine beeindruckende starke Präsenz (u. a. gibt sie die Mutter, eine Job-Beraterin und eine Partyqueen). Uwe Zerwer ist u. a. ein lässiger Vater. Mark Tumba ist Rs intensivster Begleiter (u. a. mit langen blonden Haaren als Freundin, kurz oberkörperfrei als ihr Liebhaber oder als Hund Raison).
Frankfurter Regiedebüt von Sebastian Schug
Bei aller Direktheit, Feinheit und Poesie von Anja Hillings Text, ist es gleichwohl eine Herausforderung, diesen szenisch umzusetzen. Sebastian Schug ist dies bei seiner ersten Arbeit für das Schauspiel Frankfurt gelungen. Temporeich, mit viel Musik und immer wieder mit Akzente setzenden akustischen und optischen Kurzunterbrechungen, visualisiert er Rs Erinnerungen und Fantasie sehr plastisch. Musik kommt dabei nicht nur vom Band. Thorsten Drücker sorgt an Schlagzeug, Flöte und Gitarre mit Improvisationen für stimmungsvolle Untermalungen (wie auch gerne alle singen).
Gespielt wird in einem offenen Bühnenraum, der schon zu Beginn die Requisiten offen ausstellt. Stühle, Eimer, eine Wohnecke und vieles mehr. Eine Wand von leuchtenden OPEN-Schildern wirkt wie eine überzogene Einladung zum Leben, an einer Traverse hochgezogener eleganter Vorhang verweist aufs Rs Wohlstand und ein Wolkenmotiv auf die allgegenwärtige Freiheit, die gleichwohl weit entfernt ist (Bühne: Thea Hoffmann-Axthelm).
Am Ende viel Applaus für diese ambitionierte Umsetzung des vielschichtigen Textes.
Markus Gründig, Januar 22
Liberté oh no no no
Von: Anja Hilling
Auftragswerk des Schauspiel Frankfurt
Premiere/Uraufführung am Schauspiel Frankfurt: 14. Januar 22 (Kammerspiele)
Regie: Sebastian Schug
Bühne: Thea Hoffmann-Axthelm
Kostüme: Nini von Selzam
Musik: Thorsten Drücker
Dramaturgie: Lukas Schmelmer
Licht: Ellen Jaeger
Besetzung:
R: Lotte Schubert
MA uvm.: Angelika Bartsch
V uvm: Mark Tumba
PA uvm: Uwe Zerwer
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