Lize Spits Romandebüt »Und es schmilzt« am Schauspiel Frankfurt kompakt uraufgeführt

Und es schmilzt ~ Schauspiel Frankfurt ~ Eva (Feiederike Ott), Vater (André Meyer) ~ Foto: Jessica Schäfer
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Mit ihrem im Jahr 2016 erschienenen Romandebüt „Und es schmilzt“ erzielte die junge belgische Autorin Liza Spit (* 1988) einen beachtlichen Erfolg. Inzwischen wurde er bereits in über 10 Sprachen übersetzt und wird zurzeit verfilmt. In den Kammerspielen des Schauspiel Frankfurt wurde er jetzt erstmals szenisch dargeboten. Hierfür hat die Regisseurin Marlene Anna Schäfer ein pausenloses 100-minütiges Extrakt aus dem knapp über 500 Seiten starken Roman erstellt. Das dabei vieles gestrichen werden musste, ist selbstverständlich. Die Grundfrage nach Täter- und Opferrollen ist Bestandteil beider Varianten, wie auch das

Spit erzählt auf den ersten 400 Seiten ihres Romans viele scheinbar belanglose Details aus der Perspektive der 1988 geborenen, nunmehr 14-jährigen Eva De Wolf, die in einem kleinen Dorf in Flandern aufwächst (darunter Exkurse über Luftverkäufer und den Millenium Bug). In ihrem Berichtszeitraum von Donnerstag, den 4. Juli bis zum Samstag, den 10. August 2002, kommen detailreich einzelne Tage und zahlreiche weiter zurückliegende Kindheitserinnerungen zur Sprache. Abgewechselt werden diese Episoden mit Gedanken der erwachsenen Eva. Sie ist im Begriff, erstmals nach neun Jahren, anlässlich einer Erinnerungsfeier in ihr Heimtatdorf zurückzukehren. Lange bleibt unklar, was sie mit ihrer Rückkehr bezweckt und warum sie im Kofferraum ihres Wagens einen Eisblock mitführt. Diese kurzen Einschübe umfassen lediglich einen Zeitrahmen von zehn Stunden (09.00 – 20.00 Uhr).
Aus vielen Mosaiksteinen bildet sich auf den letzten 100 Seiten ein schonungslos offen gezeigtes Bild einer aus den Rudern gelaufenen Jugendfreundschaft, ein kleiner Rachefeldzug und ein deprimierendes Ende.
Es ist die erste Inszenierung von Marlene Anna Schäfer für das Schauspiel Frankfurt. Sie ist werktreu, wenn sie einzelne Erlebnisse nacherzählt. Die Faszination und die Dramatik des Romans kann sie in ihrem schnellen Tempo und der schlaglichtartigen Präsentation einzelner Begebenheiten jedoch nicht eins zu eins wiedergeben. Dies spiegelt sich insbesondere in den Figuren. Diese sind gut gespielt, im Buch jedoch wesentlich komplexer. Nackt- und Sexszenen, wie im Buch unverblümt beschrieben (nicht nur die von Elisa initiierte Vergewaltigung Evas, auch wie sie sich zuvor mit einem Bleistift selbst entjungfert) werden auf der Bühne allenfalls erzählerisch dargeboten (oder mit dem Rücken zum Publikum, wie beim gemeinschaftlichen Masturbieren).


Und es schmilzt
Schauspiel Frankfurt
Ensemble
Foto: Jessica Schäfer

Fluchtort Keller

Die Bühne von Marina Stefan zeigt einen Hof einer Liegenschaft, vielleicht soll dies auch ein Dorfplatz sein. Jedenfalls ist es kein heimelig anmutender Ort, die seitlichen, glatt verputzten Wände haben Fenster, hinter denen biedere Gardinen hängen. Menschen sind hinter diesen Fenstern nie auszumachen. Im Hintergrund ist in einem Ausschnitt die Wohnküche der Familie De Wolf zu sehen, an der zu Beginn alle gemeinsam sitzen. Für die Rückzugsorte der drei jugendlichen Hauptprotagonisten (im Buch Orte wie eine Friedhofsmauer, ein Heuboden oder ein Hühnerstall) wurde in der Unterbühne ein Bereich errichtet (mit blühenden Kakteen im Hintergrund). Er ist nach dem Öffnen einzelner Bodenplatten teilweise einsehbar, vor allem werden hieraus hauptsächlich Porträts per Livevideo großflächig auf die obere Rückwand projiziert.

Eltern ohne Funktion

Eine unbeschwerte Kindheit im Dorf ist für viele selbstverständlich. Nicht jedoch für Eva und ihren älteren Bruder Jolan und die jüngere Schwester Tesje. Eigentlich gäbe es noch Jolans Zwillingsschwester. Doch die starb bereits im Mutterleib, weil sich Jolans Nabelschnur um ihren Hals gewickelt hatte. Eva sieht hierin den Grund für die Lebenskrise der Mutter, die lethargisch und vom vielen Wein meist besoffen im leicht verwahrlosten Haus abhängt, wenn sie nicht gerade ihrer Manie folgt und ein Ei aus dem Hühnerstall „hervorzaubert“. In dieser Inszenierung gleicht die Mutter, bis auf die Szene beim Dorfquiz (wo sie volltrunken zusammenbricht), eher einer distinguierten Schuldirektorin, die stets die äußere Form wahrt und auf Distanz bleibt. Genauso gutherzig wie im Buch ist hingegen Laurens Mutter, an deren Brust die kleine Eva nur zu gerne die Nähe und Wärme sucht, die sie zuhause nicht bekommt (beide Mütter: Christina Geiße). Die Fürsorge von Evas ständig Bier trinkendem Vater (André Meyer) beschränkt sich darauf, ihr einen Strick zu zeigen, an dem er sich möglicherweise einmal aufhängen wird und auf die Anschaffung eines Familiencomputers (hier mit nostalgischer Referenz an Windows 95).
Katharina Hackhausen gibt nicht nur die kleine Tesje, die hier als Ausdruck ihrer Probleme sich unter dem Esstisch verkriecht (im Buch tippt sie manisch auf die Tastatur des Familiencomputers und landet schließlich bei Pflegeeltern), sondern auch einige der Dorfmädchen, die sich auf das Spiel mit den anderen einlässt: Wie Buffalo An und die alles entscheidende Pferdenärrin Elisa (deren Pferd Twinkel Eva auf dem Gewissen haben soll, was ihr dann zum verhängnis wird).


Und es schmilzt
Schauspiel Frankfurt
Ensemble
Foto: Jessica Schäfer

Zerbrechliche Eva, dominanter Pim

Gut gelungen ist die Besetzung der drei Teenager, die zu den drei Musketieren zusammengeschweißten Freunde, mit Ü-30-Darstellern. Und es sind nicht nur die Shorts und die langen Kniestrümpfe, die eine jugendliche Attitüde vermitteln (Kostüme: Lorena Díaz Stephens).
Torsten Flassig ist Laurens, dessen Eltern die Dorffleischerei betreiben und der immer etwas im Schatten von Pim steht. Diesen immer einen Schritt Vorausgehenden und auf den die Mädchen immer zuerst schauen, verkörpert Stefan Graf. Die Bühnenfassung erwähnt, dass Pims älterer Bruder Jan, der möglicherweise Evas Leben in eine andere, positivere Richtung hätte lenken können, in einer Jauchegrube tot aufgefunden wird, nicht jedoch den von Eva gefundenen „Abschiedsbrief“ auf Karopapier. Eva, von ihrem Vater auch Eefje genannt und von ihm schon als Kleinkind mit ihren Elefantenbeinen konfrontiert, ist in ihrem Dorf, was die Kontakte zu den anderen Mädchen anbelangt, eine Außenseiterin. Teil der drei Musketiere zu sein, ist für sie existentiell. Friederike Ott gibt sie neugierig, fragil und zunehmend am Boden zerstört.

Am Ende großer Jubelapplaus.

Markus Gründig, November 19


Und es schmilzt

Roman

Von: Lize Spit
Deutsch von: Helga van Beuningen
Für die Bühne bearbeitet von: Marlene Anna Schäfer

Premiere/Uraufführung am Schauspiel Frankfurt: 15. November 19 (Kammerspiele)

Regie: Marlene Anna Schäfer
Bühne: Marina Stefan
Kostüme: Lorena Díaz Stephens
Dramaturgie: Katja Herlemann

Mit: Torsten Flassig, Christina Geiße, Stefan Graf, Katharina Hackhausen, André Meyer, Friederike Ott

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