Als erster von insgesamt drei Teilen der Projektreihe „Gallus-Geschichten“ hat das Junge Schauspiel Frankfurt jetzt die vielstimmige Performance „Zeit für Zeug:innen“ vorgestellt. Entstanden ist sie unter Martina Droste Konzept und Regie) und einem diversen jugendlichen Ensemble zwischen 14 und 23 Jahren. Gespielt wird in der 3. Etage des Historischen Museums Frankfurt. Dort gibt es aktuell drei Ausstellungen: „Bibliothek der Generationen“, „Partizipatives Stadtlabor zur Zeitzeugenschaft“ und „Ende der Zeitzeugenschaft“.
Was sich zunächst etwas abstrakt und wenig aufregend anhört, ist im Grunde ganz einfach. Es geht um die Frage, was Erzählungen über die Vergangenheit für die Gegenwart bedeuten.
Es ist die vierte Kooperation zwischen Schauspiel Frankfurt und dem Historischen Museum Frankfurt. Wie schon bei vorherigen Projekten, z. B. der Performance Und du bist raus im Februar 24, haben sich auch jetzt wieder Jugendliche intensiv mit dem Ausgestellten beschäftigt. Ein theatrales Erlebnis ist das Ganze weniger, es ist mehr eine gut gemachte, intensive, rund 75-minütige, Einführung in die Ausstellungen.
Vielfältige Themen
Die Themen sind vielfältig. Es geht um „Migration und Aktivismus, um persönliche Erinnerungen und die Veränderung von Orten, um Kindererziehung, die Universität, Queerness, Krieg und Künstliche Intelligenz“ (Flyer zur Ausstellung) und auch in einem kleinen Teil um den Holocaust.
Das Publikum zieht mit den jungen Performer:innen zu den verschiedenen Ausstellungsstationen. Sie sind schon anhand Ihrer auffälligen Kleidung mit schwarz-weiß Mustern gut vom Publikum zu unterscheiden (Kostüme: Anna Sünkel). Von dort berichten sie mit kurzen Sätzen über ihre Eindrücke und Gedanken und was sie nachhaltig beschäftigt. Dies fällt so unterschiedlich aus, wie es die in den Ausstellungen erwähnten Erinnerungen sind. Dabei wird bewusst auf eine emotionale und subjektive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gesetzt.
Eigene und fremde Erinnerungen
Zu Beginn steht eine Reflexion über Erinnerungen anderer: „Ich habe einen Mann/eine Frau gesehen…“ Hier wird u. a. von einem ehemaligen KZ-Insassen gesprochen, der seine deutsche Sprache aus Scham abgelegt hat oder von jemanden, der sich von seiner eigenen schmerzhaften Geschichte distanziert hat.
„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“-singend, ziehen Performer:innen und Zuschauer:innen zu einem anderen Bereich weiter (Chorische Einstudierung: Christina Lutz). Dort stehen, unterbrochen von kurzen pantomimischen Szenen, persönliche Erinnerungen im Mittelpunkt. Was ist die erste Erinnerung? Was löste die erste Erinnerung aus? Waren es Geräusche oder Düfte? Für einen ist es Krieg (mit der Folge, dass ein erster Schulbesuch erst mit 11 Jahren möglich war). Für eine andere eine schlechte Erfahrung im Kindergarten, bei der Gutgläubigkeit ausgenutzt wurde.
Bei einer Kaffeerunde wird über Kismet, Schicksal, diskutiert und welche Bedeutung Heimat hat. Besonders dann, wenn es das Land der Heimat inzwischen gar nicht mehr gibt. Insoweit hat Heimat für einige eine transzendente Bedeutung, ist mehr ein Gefühl. Natürlich wird auch hier Bezug zum ausgestellten Material genommen (welches auf realen Geschichten beruht).
Vier Szenen finden parallel statt, unterbrochen von kurzen Soundeinspielungen (Musik: Max Mahlert). Die Szenen werden wiederholt, sodass jede angeschaut werden kann. Darunter ein Austausch zum Film „Die Uneinsichtigen“ über Diskriminierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung von an AIDS-erkrankten Menschen und über Frauenbeziehungen, am Beispiel von Elena Barta und Marie-Luise Leberke. Letztere arbeitet im Ehrenamt für die Bibliothek der Generationen und stand, neben weiteren Ehrenamtler:innen, den Performer:innen in der Vorbereitungsphase für Gespräche zur Verfügung.
Angesprochen werden auch Erinnerungen in der eigenen Familie. Über vergangene Erlebnisse, die nicht ausgesprochen wurden. Wie die ungeklärte Geschichte einer Großmutter im fernen Nigeria oder Erlebnisse bei Familienausflügen im fernen Afghanistan (zu Autorennen mit SUVs in die Wüste und zutage gekommener Leichname vergangener kriegerischer Auseinandersetzungen).
Vor der großflächigen Wandcollage „Das geteilte Leben“ aus der Ukraine (vor und nach der Zerstörung) und an einem geteilten Tisch, wird die Frage „Wie geht es dir?“ als Plattitüde entlarvt.
Am Ende steht das Bekenntnis der Zeitzeugenschaft als ein pro gesellschaftliches Engagement („Tief in mir hört gerade ein kleiner Idealist“) und das Statement/Lied „Alle Menschen dieser Erde, alle wollen glücklich sein, lernt den anderen zu verstehen“ als Botschaft.
Markus Gründig, November 24
Zeit für Zeug:innen
(Teil 1 von 3 der Projektreihe Gallus Geschichten)
Von: Martina Droste und Ensemble
In Kooperation mit dem Historischen Museum Frankfurt
Premiere / Uraufführung am Schauspiel Frankfurt: 23. November 24 (im Historischen Museum Frankfurt)
Konzept und Regie: Martina Droste
Kostüme: Anna Sünkel
Musik: Max Mahlert
Chorische Einstudierung: Christina Lutz
Mit:
Pia Ackfeld, Isabella Beebe, Liam Belgorodski, Felix Brößler, Kayleigh Hornbostel, Lillo Hoursch, Livia Jarnagin, Lenz Leuenroth, Abdul Noorzei, Yevheniia Posmitieva