Traumnovelle
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 16. Dezmber 11 (Premiere)
“Im Reich der Wirklichkeit ist man nie so glücklich wie im Reich der Gedanken“
“Im Reich der Wirklichkeit ist man nie so glücklich wie im Reich der Gedanken“, sagte einst Arthur Schopenhauer. Nicht zuletzt deshalb gibt es schon lange die Traumfabrik Hollywood, bei der aus Otto-Normalbürgern Superhelden und Supermachos und bei der Märchen zur Realität werden. Dabei war der Philosoph Schopenhauer (1788-1860) seiner Zeit in vielem voraus. Sigmund Freud sah ihn als Vordenker der Psychoanalyse. Und Freud war es, der sie begründete. Mit seinen Arbeiten beeinflusste er eine ganze Generation, vor allem natürlich Künstler aller Richtungen. Wien war dabei gewissermaßen das Zentrum. So wundert es nicht, dass sich auch Arthur Schnitzler, studierter Wiener Arzt und Schriftsteller, mit der Psychoanalyse beschäftigte. Seine 1925 veröffentlichte Erzählung „Traumnovelle“ wurde jetzt von Bastian Kraft dramatisiert, die Uraufführung fand in den Kammerspielen des Schauspiel Frankfurt statt. Dort öffnet sich der Publikumssaal meistens erst kurz vor Beginn. Bei dieser Inszenierung allerdings schon 15 Minuten vorher. Dafür gibt es allerdings auch noch nichts von der Bühne zu sehen, denn ein schwarzer Vorhang versperrt den Blick. Dieser ist am Saum mit langen weißen Fäden versehen und wirkt so wie ein Vorhang aus dem Varieté oder dem Zirkus aus der Zeit des Fin de Siècle. Fünf Minuten vor Vorstellungsbeginn nehmen die Darsteller Franziska Junge und Torben Kessler mittige Plätze in der ersten Reihe ein. Nach ein paar coolen Clubsounds (Musik Björn SC Deigner) dunkelt der Saal ab und zwei Scheinwerfer sind nun auf das Paar gerichtet.
Zunächst beginnt es wie die Erzählung: mit dem kurzen Stück aus der Gutenachtgeschichte für die kleine Tochter des Ehepaares. Dann beginnt das Paar sich von den beinahe Erlebnissen während des Urlaubs zu erzählen, langsam, vorsichtig herantastend, innerlich stark bewegt. Der Vorhang öffnet sich zur Hälfte und der Blick auf eine viergliedrige Spiegelwand wird frei. Sitzen die etwa in ihrem Schlafzimmer? Mit wechselndem Licht, nun auch auf der Bühne, ist ein gleich angezogenes Paar zu erkennen. Also rotes Kleid mit sehr schmalem Gürtel für die beiden Frauen, graue modernde Anzüge für die Herren.
Regisseur Bastian Kraft hat die beiden Hauptfiguren Albertine und Fridolin doppelt besetzt (Albertine: Franziska Junge und Valery Tscheplanowa; Fridolin: Torben Kessler und Marc Oliver Schulze). Auch das zweite Paar sitzt auf zwei schwarzen Ledersesseln wie das Publikum (sogar mit identischen Platznummern), nur, wie sich später zeigt, in einem spiegellabyrinthähnlichen Gebilde auf einer Drehbühne, die dann nahezu andauernd in Bewegung ist. Vier vertikal ausgerichtete, seitlich stehende Neonröhren werfen ein kaltes Licht und untermalen die albtraumhafte Grundstimmung (Bühne und Kostüme Ben Baur). Es wird sehr genau und artifiziell gesprochen, es gibt keine Alltagssprache. Die Wirkung ist Dank der hochkarätigen Besetzung groß. Jede noch so kleine Szene ist ein kleines Kunstwerk für sich – an Ausdruck und Körpersprache. Clou der Inszenierung ist die wechselnde Rollenverteilung, wobei die vier Darsteller auch die weiteren Figuren der Erzählung geben (und dafür Masken verwenden). Wie beispielsweise Valery Tscheplanowa, die mit extrem schrägen Körperhaltungen das verkorkste Wesen der Marianne zeichnet, die ihre Lebensblüte für die Pflege des kranken Vaters aufopferte. Die Figuren spiegeln sich nicht nur auf der Bühne sondern auch in der Besetzung. Die Albertine der Franziska Junge gleicht äußerlich zwar der der Valery Tscheplanowa, ist aber in Art und Weise dann doch anders, ein Stück weit die andere Seite von Albertines Seele. So auch bei den Herren, wo der Fridolin des Torben Kessler und der des Marc Oliver Schulze andere Nuancen aufweisen (Kessler gibt ihn aktiver und vitaler, Schulze mehr den Nachdenklichen). Die Figuren werden so um einiges interessanter. Weitestgehend beibehalten wird die Erzählweise aus der Sicht des Fridolin, doch es gibt auch Dialogszenen.
Insgesamt zeigt Bastian Kraft hier viel und das hohe Spielniveau gefällt sehr. Allerdings verliert sich aber auch manches, bzw. wird nicht so deutlich. Das Extreme findet in dieser so oberflächlich gesitteten Gesellschaft keinen Raum, obwohl die seelischen (und nicht zuletzt auch sexuellen) Abgründe in der Novelle angedeutet werden. Das wird hier doch etwas zurückhaltend angegangen (Stellwände versperren den Blick auf den Ballsaal, dafür gibt es eine Videoprojektion von Fridolins Kopf). Da war Schnitzler vor beinahe 100 Jahren mutiger als Bastian Kraft heute. Der Wunsch aus dem Alltag der Beziehung auszubrechen, die macht des Unbewußten, ist in ein ansprechendes Kunstkorsett gesteckt worden.
Nach Albertines Traumgeständnis treten sechs Bühnenarbeiter auf und demontieren das Bühnenbild. Zurück bleiben lediglich die doppelten Zweisitzer auf der Drehbühne. Das Paar ist inzwischen aufgewacht, der Alltag hat sie wieder, da bedarf es dieser Spiegelflächen nicht mehr. Wenn am Ende dann ein seitlich positionierter Scheinwerfer warmes Licht spendet, der Vorhang ganz langsam zu geht, ja dann ist es fast wie in der Traumfabrik Hollywood, wenn ein Pärchen Hand in Hand dem Sonnenuntergang entgegengeht. Man möchte denken „und so lebten sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage“ (Licht: Johannes Richter). Wobei die Beziehung durch das schonungslose Geständnis über die eigenen Wünsche und Triebe zwar das Paar in ihren Grundfesten erschütterte, es aber dennoch eine zarte Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft gibt.
Markus Gründig, Dezember 11
Winterreise
Staatstheater Mainz
Besuchte Vorstellung: 9. Dezember 11 (Premiere)
VORBEI
Es ist eines der am häufigsten inszenierten neuen Stücke der Saison: Elfriede Jelineks autobiografisch geprägtes Stück „Winterreise“. Im Rhein-Main-Gebiet zeigte das Schauspiel Frankfurt das Stück im vergangenen September unter der Regie von Bettina Brunier im Bockenheimer Depot. Das Staatstheater Mainz zeigt es jetzt unter der Regie von Jan Philipp Gogler im „TiC Werkraum“. Gogler ist seit dieser Saison leitender Regisseur am Staatstheater Mainz. Er wird hier in 2012 „Liliom“ und in Bayreuth den „Fliegenden Holländer“ inszenieren. Wo in Frankfurt ein weit in die Tiefe ragender Bühnenraum sich langsam immer mehr dem Publikum zuwandte und sich verengte, es schneite und Papierfetzen eine eisige Atmosphäre simulierten, kommt die Mainzer Produktion in ihrer äußeren Form schlichter daher. Im schwarzen Bühnenraum des „TiC Werkraum“ steht einzig ein schwarzer Flügel (der aber nur aus äußerer Hülle besteht), fast so, als würde ein klassischer Liederabend mit Franz Schuberts melancholischem Liedzyklus „Die Winterreise“ gegeben (Bühne: auch Jan Philipp Gogler). Die vier Wanderer, die in Mainz auf Wanderschaft gehen, werden ausschließlich von Frauen gespielt (einzig eines Mannes Stimme ertönt an diesem Abend, es ist die vom „Vater“, gesprochen vom Ensemblemitglied Marcus Mislin vom Band).
Zunächst sind es drei Darstellerinnen die mit der Rezitation des Jelinekschen Textes beginnen. Sie tragen einheitlich schwarze Anzughosen, Pumps und weiße Blusen mit einem Blumenmotiv in Brusthöhe (Kostüme: Karin Jud). Später folgen rote Lippen und eine Perücke mit Jelineks Zopf, um der autobiografischen Textnähe auch eine visuelle Form zu geben.
Aus Schuberts Zyklus ertönt der Beginn des ersten Liedes („Fremd bin ich ausgezogen“) und die Gedanken zu verpassten Gelegenheiten, zum verpassten Leben: dem ewig nachtrauernden „Vorbei“, das vorbei ist, wo das nächste Vorbei auch schon wieder vorbei ist… Männer imitierend tragen sie zwischendurch auch Jackett, Krawatte und eine Melone, während der „Wetterfahne“ fliegen Textblätter auf den Bühnenboden, wird Jelineks Schreibmanie durch ein vom Klavier gespieltes Schreibmaschinengeklappere gewürdigt. Für die Sequenz mit den Gedankenspielen zu den Freundes- und Liebesmöglichkeiten im Internet, werden Portraits von Männern auf schwarz-weiß Kopien von einem Stapel gezogen, die wie Herbstlaub nur so auf den Boden prasseln. Eingespielte, verfremdete Passsagen aus Schuberts „Die Winterreise“ sorgen genauso wie viele Lichtwechsel für Abwechslung (Licht Jürgen Sippert, Musik Kostia Rapoport).
Die sehr unterschiedlichen Darstellerinnen fügen sich zu einem schönen Ganzen, bespielen dabei mit Verve und nuancenreich den ganzen Raum. Monika Dortschy gibt eine starke „wunderliche Alte“ (plötzlich aus dem Flügel hervorkommend), manische Mutter und tief empfindende Frau. Lisa Mies beeindruckt u.a. mit einem hysterischen Anfall, Johanna Paliatsou mit starker Präsenz, fragend und postulierend. Karoline Reinke überzeugt als laszive und lustvolle Tochter/Frau.
Dem Ende nahe, beim „Wegweiser“, werden alle auf dem Boden herumliegende Textblätter und Bilder zerrissen und eine Galerie von kleinen Portraits am hinteren Bühnenrand aufgereiht. Ende und Neubeginn leitet somit zur „ewigen Leier“, der ständigen Wiederholung weiter, die mit innigen Eindrücken das Stück beendet.
In kurzweiligen, pausenlosen und spannenden 90 Minuten wird Jelineks virtuoses Sprachgeflecht „Winterreise“ hier gründlich und publikumsfreundlich durchschritten, starker Applaus.
Markus Gründig, Dezember 11
Hamlet, Prinz von Dänemark
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 3. Dezember 11 (Premiere)
Shakespeare forever. Mit ihm beendete das Schauspiel Frankfurt seine letzte Saison („Ein Sommernachtstraum“ im Theaterzelt am Honsell-Dreieck), nun folgte der Shakespeare-Klassiker schlechthin: Hamlet („Sein oder Nichtsein – das ist hier die Frage“). Shakespeares tiefsinnigste Tragödie. Die Figur des Hamlet gehört neben Prometheus und Faust zu den großen, das menschliche Dasein von weltumspannenden Perspektiven her erfassenden Figuren des Abendlandes. Großartige Schauspieler weist das Ensemble des Schauspiel Frankfurt auf, doch keinen männlichen traf das Glück, diese große Theaterrolle verkörpern zu können. Zur Darstellung der komplexen Figur des Hamlet, der die großen Themen des Daseins verhandeln muss und dennoch einen jugendlichen Charme aufweisen sollte, fiel die Wahl auf eine Frau. Das ist zunächst befremdlich, so als würde Jodie Foster den James Bond spielen. Sind die männlichen Darsteller zu eindimensional, dass es für den ewigen Zauderer Hamlet einer Frau bedarf oder entspricht die Rolle in ihrer Zerrissenheit und Unentschlossenheit mehr der weiblichen Seele? Oder würde zu viel Testosteronausstrahlung von der eigentlichen Problematik zu sehr ablenken? All dies kann jeder Zuschauer für sich entscheiden. Bettina Hoppe, die jüngst für den Deutschen Theaterpreis Der Faust als beste Darstellerin nominiert wurde, spielt den neuen Frankfurter Hamlet. Wobei spielen untertrieben ist, sie lebt ihn, mit allen Fasern ihres Körpers. Euphorisch, kämpferisch, sarkastisch, verzweifelt, anklagend, verzagend. Das macht sie, die in Hosenrollen schon Erfahrung hat (Wilhelm Meister, 2010 im Bockenheimer Depot), perfekt. Sie bewältigt die Textmassen, die oftmals sehr schnell gesprochen werden und dennoch bis in die hinteren Reihen zu verstehen sind, mit hoher Artikulationskunst und wirkt doch nie gekünstelt. Die Verachtung des Lebens wie auch die große Sehnsucht nach dem wahren Leben spiegeln sich in ihr. Dazu schafft sie es auch noch virtuos am Klavier zu spielen (jazzige Grooves, klassische Melodiensequenzen) und zu singen; die Musik als Ventil in einer Welt, in der für Gefühle kein Raum ist…
Da haben es die anderen Darsteller schwer, ein adäquates Profil zu gewinnen. Am eindringlichsten gelingt dies Sandra Gerling als in den Suizid getriebene Ophelia (in einem orangefarbenen, hoch geschlossenen Kleid) und Peter Schröder als versehentlich getöteter Polonius. Sandra Gerling räkelt sich anfangs lustvoll zu Hamlets Klavierspiel auf dem Flügel, später verfällt sie ergreifend dem Wahnsinn (und begegnet ihrer Verzweiflung mit sexistischen Posen und Sprüchen). Peter Schröder, jüngst vom Theater Basel in das Ensemble des Schauspiel Frankfurt gewechselt („Die Legende vom heiligen Trinker“), füllt die Rolle des Oberkämmerer Polonius mit dezentem Spiel und sehr präsent aus (wofür er auch einen starken Schlussapplaus erhielt).
Ophelias Bruder Laertes verkörpert Sébastien Jacobi mit kämpferischer Natur. Für Unterhaltung sorgen die Studienkollegen Rosenkranz (Mathis Reinhardt) und Güldenstern (Christian Bo Salle), die auch die Totengräber geben. Ihre Theateraufführung im Stück ist eine hinreißend gegebene Posse. Glanz und Erhabenheit verkörpert das Königspaar. Die Königin Gertrude der Stephanie Eidt zeigt eine starke Präsenz. In einem eleganten, schulterfreien grünen Abendkleid samt schier endlos langer Schleppe und mit akkurat hochgesteckter Frisur zeigt sie auch äußerlich ihre Offenheit dem Leben gegenüber. Als Lebemann gibt sich auch der König Claudius des Till Weinheimer, fast als eine George Clooney Kopie, mit Dreitagebart, im hellen Anzug und weißen Schuhen (Kostüme: Bernd Skodzig). Felix von Manteuffel erscheint als weiß getünchter Geist, Moritz Pliquet entert als Prinz Fortinbras vom Saal aus die Bühne, Johannes Kühn gibt den Höfling Osric (die Rolle von Hamlets Studienfreund Horatio wurde gestrichen).
Die Regie führte der Hausherr persönlich: Intendant Oliver Reese. Wie bei seinen vorherigen Inszenierungen am Schauspiel Frankfurt (Phädra, Der nackte Wahnsinn), zeichnet auch hier Hansjörg Hartung für die Bühne verantwortlich. Und die ist wieder einmal außergewöhnlich. Sie bietet eine gewisse zeitgemäße Ästethik, die Wert auf eine schöne Oberfläche legt (dem Bühnenbild der „Räuber“ nicht fern). Von finsterem Mittelalter keine Spur. Zu sehen ist nur ein Ausschnitt, denn nach oben bleibt die Bühne begrenzt. Dafür fällt sie groß nach hinten und unten ab. Der im gleißenden weißen Licht erstrahlende Einheitsraum mit Spiegelwänden, ca. 30 Stufen, einer Reihe weißer Stühle rechts und links und einem Klavierflügel wirkt wie ein Theatersaal ohne Bühne. Reese lässt die Darsteller effektvoll von allen Seiten, sei es von den tief unten gelegenen Schiebetüren oder seitlichen Spiegeltüren, auf- und abtreten und gibt ihnen viel Zeit mit auf den Weg. Allein die erste Hälfte bis zur Pause dauert 120 Minuten. Wobei ja auch viel Text zu bewältigen ist. Und hier bietet das Schauspiel Frankfurt die eigens neu angefertigte Übersetzung von Roland Schimmelpfennig, Deutschlands derzeit erfolgreichstem Bühnenautor, dessen Werke hier auch schon gespielt wurden („M.E.Z.“, „Das weiße Album“, „Wenn, dann: was wir tun, wie und warum“). Seine Übersetzung ist für heutige Ohren viel verständlicher, der Klassiker „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage!“ lautet bei ihm „Leben oder Nichtleben, das ist hier die Frage!“, während auch bei ihm „etwas faul ist im Staate Dänemark“.
Im Teil nach der Pause überschlagen sich die Ereignisse, ist die Rückwand nun schwarz, wie auch die meisten Kostüme, sind die Stühle weg bzw. aufeinandergestapelt. Dazu spritzt bald heftig Blut, liegt die ganze Bagage abgeschlachtet danieder: So geht’s den besseren Leut… Langer Applaus, vor allem für Bettina Hoppe.
Markus Gründig, Dezember 11
Die Geistheilerin
Volkstheater Frankfurt – Liesel Christ
Besuchte Vorstellung: 27. November 11
Liber „Scivias“ ~ Wisse die Wege
Vor wenigen Wochen endete auf Prosieben die zweite Staffel der Science-Fiction-Serie „V – Die Besucher“. Dabei ging es um reptilienartige Außerirdische, die eine Invasion auf der Erde planen, da sie die Menschen für ihre Fortpflanzung und damit für den Erhalt ihrer Spezies benötigen. Ihr größtes Hindernis dabei war die menschliche Seele, die sie trotz eindeutig technologischer Überlegenheit nicht reproduzieren oder auch nur verstehen konnten. Doch nicht nur in fernen Zeiten, auch heute im 21. Jahrhundert ist die menschliche Seele noch immer eine unbekannte Größe. Allen Erklärungsmodellen der Schulmedizin zum Trotz, wimmelt es nur so vor alternativmedizinischen Behandlungsmethoden, um körperliches Leiden auf seelischem Weg zu lindern und zu heilen (angefangen von der klassischen Homöopathie, über Geistiges Heilen, Bioenergetische Heilmeditation, Praxis des Pendelns, Morphisches Feld lesen, Heilen mit geometrischen Zeichen usw.). Die Autorin Annegret Held schrieb jetzt als Auftragswerk für das Volkstheater Frankfurt eine temperamentvolle Komödie über dieses Thema. Die künstlerische Leiterin des Hauses, Sylvia Hoffmann, bearbeitete es für die Frankfurter Uraufführung und führte auch die Regie bei derselben.
Allen offensichtlichen Zweifeln an kuriosen Heilmethoden zum Trotz, lässt sich gerade an trivialen Placebotabletten am besten nachweisen, dass es im menschlichen Hirn mehr als rein biologische Mechanismen gibt. Held drückt das in ihrem Stück auf galante Weise aus (ohne sich nun für eine Richtung festzulegen). Sie hat die Geschichte stimmungsvoll verpackt, mit vielen Lachern und zu Herzen gehenden Momenten. Am Ende haben gar drei Liebespaare ihr Glück (wieder-) gefunden.
Noch bevor sich der Vorhang im Volkstheater Frankfurt hebt, ertönen kurz Auszüge aus Carl Orffs Kantate „Carmina Burana“, deren Texte der im 11. und 12. Jahrhundert entstandenen Lied- und Dramentextsammlung „Carmina Burana“ entnommen sind. In dieser Zeit lebte auch die außergewöhnliche Hildegard von Bingen (1098 – 1179), die sich als visionäre Benediktinerin mit den Themen Religion, Medizin, Musik, Ethik und Kosmologie beschäftigte. Ihre natürlichen Heilmethoden sind noch heute überaus populär. Für die Hauptfigur in Helds Stück ist sie wichtigste Inspirationsquelle. Und so steht sie als ausgemusterte große Pappfigur des Fremdenverkehrvereins in der modernen und schlichten Praxis von Dorothea, eingerahmt von medizinischen Schautafeln (Bühnenbild: Gerhard Weger). Der Titel von Bingens erster Glaubenskunde prangt in großen Lettern zweisprachig in einem Bilderrahmen: „Liber „Scivias“ ~ Wisse die Wege“. Und Gottes Wege sind unergründlich. Wie die selbstlose Geistheilerin Dorothea aus einer zerrüttelten Beziehung, Arbeitslosigkeit und versuchter Selbstständigkeit ihre eigene Mitte (und damit Liebesglück und einen Job) wieder findet, davon handelt das Stück, das im weiten Sinn durchaus gut zur Weihnachtszeit passt. Einen Moment innehalten und zu reflektieren, sei es beim fließenden Wasser im Entspannungsbad (wie es Dorothea im Stück macht) oder in der Kirche, ist nie verkehrt, kann aber viel bringen.
Kate Schaaf gibt die Dorothea mit viel Hingabe. Als ihre resolute und messerscharf denkende Mutter Käthe bringt sich Anette Krämer elanvoll in Szene (schließlich muss der Hausanstrich noch finanziert werden). Ivan Vrgoc überzeugt als prachtvoller Mannskerl und Wüterich. Bewegend, wenn er sich an die heilenden Händen seiner Geliebten erinnert, die ihm nach einem anstrengenden Tag auf dem Bau Frieden und Glück geschenkt haben (auch wenn er dies damals nie auf einer spirituellen Ebene gesehen hat). Eine Schlüsselfigur ist die Patientin Johanna Gerstenburg. Erst ist sie eine alternative graue Maus im grünen Jogginganzug unter hellbrauner Jacke, mit Birkenstocksandalen und komplett schwarzem Stock, später eine elegant auftretende Unternehmerin im chicen Kostüm, weissen Pumps und nun hat ihr Stock einen silbernen Griff (Kostüme: Bärbel Christ-Heß und Andreas Stöbener-Koch). Ricarda Klingelhöfer gibt die für ihr Folterknechtdasein im vorherigen Leben Leidende mit viel überzeugender Spielfreude. Wie auch die anderen Darsteller in den etwas kleineren Rollen für Begeisterung sorgen: Jochen Nix (als jungen Frauen nachheischender Patient Heinrich Schiebelhuth), Emanuel Raggi (als schüchterner aber nicht hoffnungsloser Lorenzo di Rossario) und Julia Schneider (als gut aufgelegte Freundin Pauline im Angestelltenkostüm und im sexy Maria Stuart Kostüm der lokalen Theatergruppe).
Also viel Spaß und Herz im neusten Stück des Volkstheater Frankfurt, das dazu in Mundart und mit lokalen Bezügen aufwartet, quasi ein Muss für jeden Frankfurtfreund.
Markus Gründig, November 11
Die Hamletmaschine
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 30. Oktober 11 (Premiere)
Bereits 1979 wurde Heiner Müllers Stück „Die Hamletmaschine“ in der nördlich von Paris liegenden Kleinstadt Saint-Denis uraufgeführt. Von daher ist es schon verwunderlich, dass es in der Theaterstadt Frankfurt erst jetzt erstmals gespielt wird. Und dies auch nicht in einer Neuinszenierung, sondern mit der Übernahme einer vom Deutschen Theater Berlin stammenden Inszenierung. Dafür hat allerdings das Frankfurt Publikum die seltene Gelegenheit, eine Theatergröße zu erleben. Denn der aus Bulgarien stammende Regisseur Dimiter Gotscheff, der während der Intendanz von Elisabeth Schweeger am Schauspiel Frankfurt Antonin Artauds „Die Cenci“ (2002) und Anton Tschechows „Platonow“ (2003) inszenierte, spielt bei dieser Produktion zugleich die Hauptrolle. Wobei von Rollen eigentlich gar nicht gesprochen werden kann, denn das Stück entzieht sich einem herkömmlichen dramaturgischen Aufbau. Es gibt keine Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung, wie beispielsweise in dem tags zuvor gezeigten „Die Physiker“ im Schauspielhaus. Es gibt keine Dialoge, lediglich auf Hamlet und Orphelia verteilte Monologe, die in fünf „Bildern“ aufgeteilt sind. Hamlet und Orphelia stehen hier als Metapher, denn es ging Heiner Müller nicht um eine Neuerzählung von Shakespeares Klassiker. Hamlet, der Wissende, ist geprägt von einer lähmenden Handlungsunfähigkeit. Er klagt an, ist verzweifelt über die Zustände in der Welt und ganz in sich gefangen. Dimiter Gotscheff spricht im schwarzen Anzug Müllers eigenwillige Texte langsam und deutlich, raunt und stöhnt, fährt sich mit den Händen durch die Haare und durchschreitet den Raum. Dieser weicht etwas von der Berliner Inszenierung ab, bei der auf der Bühne acht grabähnliche Gruben zu sehen waren. Hier sind es nun acht angedeutete weiße Grabplatten, die in zwei Reihen aufgeteilt sind (Bühne Mark Lammert) und um die herum Hamlet und Orphelia schreiten, dabei über die sich selbst zerstörende Welt klagen, über Terror und Untergang, über die Ohnmacht des Einzelnen und die Unterdrückung der Frau. Als Orphelia („die der Fluß nicht behalten hat“; Anspielung auf ihren Tod im Original „Hamlet“) kann Valery Tscheplanowa sich das Innerste aus der Seele schreien. Im hübschen schulterfreien Sommerkleid räkelt sie sich zunächst in Schuhen auf den Zehen dem Himmel entgegen, um später barfüßig mit einem gellenden Schrei die Aufführung zu beenden. Dazu gibt es noch einen eloquenten Erzähler im roten Pullover (Alexander Khuon, alternierend mit Isaak Dentler), der anfangs zusammen mit Hamlet und Orphelia aus der ersten Publikumsreihe die Bühne betritt und später aus einer Bodenluke auftaucht (und Auszüge aus Heiner Müllers Langgedicht „Mommsens Block“ vorträgt).
Viele sonst bei Premieren im Schauspiel Frankfurt anwesende Ehrengäste waren bei dieser Premiere wohl verhindert, denn sie waren nicht gesehen. Dabei ist Heiner Müllers fragmentarische Szenenfolge aktuell wie eh und jeh (und eine Herausforderung dazu). Und allein schon Dimiter Gotscheff, dem „Langzeit-Schufter im Müller-Steinbruch“ (Anne Peter) einmal live zu sehen, ist ein Erlebnis.
Markus Gründig, Oktober 11
Die Physiker
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 29. Oktober 11 (Premiere)
Die an der Decke klebende Krankenliege ist zunächst das augenfälligste Merkmal, das einem mit Blick auf die in den Zuschauerraum vorgelagerte (und verkleinerte) Bühne auffällt. Doch halt, da scheint ja alles auf dem Kopf zu stehen! Je länger der Blick weilt, umso mehr Details erschließen sich dem Zuschauer. So stehen auch ein Klavier (nebst darauf liegendem Apfel und Vase), Lampen und ein Standaschenbecher auf dem Kopf, sind drei Türrahmen entsprechend zur „Decke“ ausgerichtet und auf dem „Boden“ liegt eine Stuck-Rosette auf. Wir befinden uns im Salon des Privatsanatoriums „Les Cerisiers“, in dem drei berühmte Wissenschaftler als vermeintlich Irre Zuflucht gesucht haben. Der sehr gegenständliche, hübsch dekorierte Raum (Bühne: Robert Schweer) ist zu den Seiten offen (von wo aus Auf- und Abtritte erfolgen). Hinter den Türrahmen sind die Zimmer der drei Physiker angedeutet, mit Anspielung auf deren Besonderheiten. Im Falle von Newton ist es eine Regalwand mit Äpfeln, für Einstein eine Pfeifensammlung und für Möbius eine Pinnwand voll mit Manuskripten.
Regisseur Markus Bothe, dessen „Sommernachtstraum“ vergangenen Sommer im Zelttheater am Honsell-Dreieck zu sehen war und dessen „Roter Ritter Parsifal“ im vergangenen Jahr mit dem deutschen Theaterpreis „Der Faust“ in der Kategorie Regie Kinder- und Jugendtheater ausgezeichnet wurde, zeigt Dürrenmatts zweiaktigen Klassiker in einer liebevoll arrangierten, werktreuen Umsetzung. So gibt es bei der (pausenlosen) Inszenierung nur geringe Änderungen. Beispielsweise ertönen statt Einsteins Geigenspiel in stereotyper Wiederholung stets die gleichen Takte vom Klavier (die hoch oben vom auf dem Rücken liegenden Kornelius Heidebrecht gespielt werden), wird der eigentlich drei Monate zurückliegende erste Mord gezeigt und anstelle Polizeifotos werden die Umrisse der erdrosselten Pflegerinnen mitsamt ihren bezaubernden weißen Kleidern (Kostüme: Alexandre Corazzola) mit Kreide markiert.
Die große Überraschung liegt weniger in der Inszenierung als im Stück selbst, das von seiner anfänglichen Heiterkeit über die schrägen Vögel in sarkastischen Ernst mündet. Auch knapp 50 Jahre nach seiner Uraufführung hat es an Aktualität nichts verloren, wie der jüngste Beschluss des Europäischen Gerichtshofes zur nicht Patentierbarkeit von Produkten aus menschlichen embryonalen Stammzellen beweist (wenn dazu befruchtete Eizellen zerstört oder geschädigt werden müssen). Über Dürrenmatt selbst erschien bei Diogenes gerade eine große Biografie (Peter Rüedi: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen).
In der dritten Spielzeit unter der Intendanz von Oliver Reese wird zunehmend deutlich, dass die Darsteller ihr Publikum gefunden haben bzw. umgekehrt, sind die meisten doch inzwischen zu bekannten Gesichtern geworden. Wie Traute Hoess, die im Sommer als Filmdiva im Bockenheimer Depot (Je t’aime :: je t’aime) zu erleben war. Hier gibt sie jetzt siegessicher, strahlend und ohne Stethoskop das Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd. Michael Benthin gibt einen einarmigen Kommissar Voß, klassisch in Mantel und mit Hut, der arg verstört ob der Gepflogenheiten in dieser Krankenpflegeanstalt ist. Claude de Demos jugendlich wirkende Marta Boll entspricht nicht dem Klischee einer strengen Oberschwester. Heidi Ecks´ Missionarin Lina Rose gibt sich, in formaler Strenge gekleidet, sehr freundlich. Ulrich Beseler spielt in Mehrfachbesetzung deren frischen Ehemann, den Polizisten Blocher und den Oberpfleger Sievers. Im Mittelpunkt stehen die drei Physiker. Sascha Nathan als putzlappenbehängter Newton, Thomas Huber als mit lockerer Hose ausgestatteter und stets seinen Namen repetierender Einstein und Andreas Uhse als nachdenklicher Möbius.
Sämtliche weiteren Vorstellungen im Monat November waren bereits vor der Premiere ausverkauft. Zusammen mit dem freundlichen Schlussapplaus bei der Premiere ist schon jetzt klar, dass diese solide gemachte Inszenierung von Dürrenmatts erfolgreichster Komödie lange im Spielplan des Schauspiel Frankfurt bleiben wird.
Markus Gründig, Oktober 11
Der Herr der Fliegen
Schauspiel Frankfurt ~ Junges Schauspiel
Besuchte Vorstellung: 19. Oktober 11 (Premiere)
Sonne satt, ein grandioser Sandstrand, Palmen, im Hintergrund grüne Berge, davor ein in den schönsten Blautönen schimmerndes Meer. Und das Beste: keine Erwachsenen, die einem auf die Nerven gehen und bevormunden. Für eine Gruppe Kinder ist dieser Traum Realität geworden. Doch wird aus dem Traum schnell ein Albtraum, kommen Strukturen und Verhaltensmuster der Erwachsenenwelt zum Vorschein, die zu Neid, Brutalität, ja bis zu gegenseitigen Tötungen führen. William Golding hat in seiner 1954 erschienenen desillusionierenden Robinsonade „Der Herr der Fliegen“ ein düsteres Bild der jungen Generation gezeichnet, die nicht besser ist als die Generation, die zuvor mit Atombomben und dem Kalten Krieg die Welt in Angst und Schrecken gesetzt hat. Nigel Williams hat den Roman Goldings 1995 dramatisiert und seitdem hat sich die Geschichte, die viele bereits aus dem Schulunterricht kennen, auch zu einem Jugendtheaterklassiker gemausert.
Fröhliche Unbekümmertheit und das Gefühl von grenzenloser Freiheit sind auch in der fast schon artistisch angehauchten und überaus lebhaften Inszenierung von Martina Droste in den Kammerspielen Frankfurt zu spüren, der ersten Produktion des Jungen Schauspiels in der neuen Spielzeit.
Einzig ein großes Geäst aus Metall steht auf der Bühne von Olga Ventosa Quintana. Es wirkt wie ein Lebensbaum, der sich nach allen Seiten streckt, Schutz bietet und Vertrautheit vermittelt. Er wird von den zehn Gestrandeten, die hier abweichend vom Roman paritätisch auf jeweils fünf Jungen und Mädchen (bzw. jungen Erwachsenen) verteilt sind, in Beschlag genommen. Mit Haut und Haaren, mit Kopf und Fuß, Armen und Beinen. Sie laufen darauf, hüpfen hoch, hängen sich an den Beinen daran herab und springen energetisch davon ab. Vielleicht liegt es an Martina Drostes Qualifikation als Feldenkraislehrerin, jedenfalls wirken die vielen Bewegungen, die die Figuren fast schon als Tiere wirken lassen, authentisch und bereichernd. Durch die einheitlich getragenen weißen kurzen Hosen und grauen Trägershirts (Kostüme: Kirsten Hoffmann) kommt visuell eine zusätzliche leichte Ebene ins Spiel. Im Zentrum der Handlung stehen Ralph (hoffend und reflektierend: Jonas Hackmann), der anfangs das Sagen hat und der ehemalige Chorleiter Jack (einnehmend und flink: Erik Herrmann). Brillenträger Piggy (als Jeanne d’Arc des Rechts: Sarah Zelt) ist den Anderen hoffnungslos ausgeliefert. Der introvertierte Percy (Ruhe ausstrahlend: Arthur Hermeyer) ist in seiner Angst gefangen, während das fröhlich naschende Zwillingspaar „Samneric“ (die stets vor guter Laune überschäumende Verena Jockel als Sam und die tapfer mit verletztem Fuß spielende Steffi Basseck als Eric) nicht ganz unfreiwillig das Lager wechselt. Vielschichtig gibt Lucie Weismüller den Maurice und passend innig und ein wenig mysteriös Leonie Moritz den Simon. Kämpferisch nach vorne blicken Billy (Florian Friedrich) und Roger (Sebastian Lange).
Mit der Attacke auf Ralph endet nach 90 Minuten die Aufführung (ohne rettendes Schiff). Aber die Frage, wie es ein jeder hält, mit sich, mit seinem Nächsten, mit der Gemeinschaft in der er steht, mit der Umwelt, der Zukunft, bleibt ob aller Betroffenheit aufgrund der gezeigten Gewalttaten, allgegenwärtig. Der Einzelne ist durchaus mehr als nur ein instinktgetriebenes Wesen. Und so ist die Geschichte aktuell, auch nach über 50 Jahren. Viel Applaus für ein starkes Gruppenspiel.
Markus Gründig, Oktober 11
Tot im Orient-Express
Staaststheater Mainz (Koproduktion mit der Szputnyik Shipping Company und dem Theater Winterthur)
Besuchte Vorstellung: 14. Oktober 11
Das Theater ist tot, es lebe das Theater!
An einem kalten Wintermorgen ließ Agathe Christie ihren belgischen Kriminalromanhelden Hercule Poirot von Syrien nach Istanbul reisen, um ihn dann im Luxuszug seine Reise nach London antreten zu lassen, wo eine neue Aufgabe auf ihn wartete. Inmitten der jugoslawischen Bergwelt kam es jedoch zu einem unerwarteten Stopp aufgrund massiver Schneeverwehungen und dann gab es auch noch einen brutalen Mord zu lösen… Christies Roman „Mord im Orientexpress“ erschien 1934, die Strecke Paris – Istanbul wurde bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts von der Compagnie Internationale des Wagons-Lits, der ältesten Eisenbahngesellschaft, bedient. Reisen hatte damals noch eine andere Bedeutung als heute, auch wenn damals schon die Zeit knapp war und Reisende in Besorgnis waren rechtzeitig ihren Anschlusszug (oder -Schiff) zu erreichen. Wände aus Mahagoniholz, edles Interieur und servicefreundliches Personal waren damals für die in der 1. Klasse Reisenden selbstverständlich und so weht auch heute noch eine nostalgische Verklärtheit beim Gedanken an diese historische Linie mit. Und eben diese nostalgische Erinnerung zaubert nun das Staatstheater Mainz auf die Bühne, ohne jedoch einfach nur historische Kulissen nachzubilden. In Koproduktion mit der ungarischen Szputnyik Shipping Company und dem schweizerischen Theater Winterthur entstand, frei nach Christies Roman, die Stückentwicklung „Tod im Orient-Express“, die Uraufführung fand im vergangenen September im Theater Winterthur statt. Der ungarische Regisseur Viktor Bodó, dessen Grazer Inszenierung von Peter Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ zum Berliner Theatertreffen 2010 eingeladen wurde, zeigt keine simple Dramatisierung des Romans, sondern eine intelligente, exakt durchgeplante Bearbeitung, die spielerisch die Genres Film und Theater verknüpft, dabei die Wirklichkeitswahrnehmung hinterfragt und bei alledem noch bestens unterhält.
Während das Publikum sich im Saal einfindet, läuft als schwarz-weiß Film ein Potpourri skurriler Szenen aus den Frühzeiten der internationalen Nachrichten, die zur Entstehungszeit des Romans noch als sogenannte Wochenschauen in den Filmlichttheatern zu sehen waren. Und mit einer Wochenschau beginnt dann auch der Abend, u.a. mit dem Bericht über den Prozessauftakt von Sylvester Matuska, dem Budapester Eisenbahnattentäter, der 1931 geschnappt wurde. Von Anfang an sind filmische Elemente integraler Bestandteil der Inszenierung. Ebenso die selbstironische Behauptung „Dem Film gehört die Zukunft, das Theater ist tot“. Dabei zeigt gerade diese Funken sprühende Inszenierung, dass man sich um die Zukunft des Theaters keine Sorgen machen muss. Zunächst erfreut die unzweifelhaft als Kulisse zu erkennende Szenerie. Diese ist aber mit einer solchen Hingabe gemacht, dass man gleich wieder vergisst, dass alles nur Attrappe ist. Seien es die Bahnhofsverkaufsschalter im ansonsten leeren Raum oder der mächtige Eisenbahnwagen, der von oben auf die Bühne herabschwebt und der mit viel Dampf und Wind seine Fahrt aufnimmt. Während der Fahrt sind in den Fenstern Landschaftsprojektionen karger südländischer Landschaft zu sehen, die Namen der beteiligten Darsteller wurden zuvor auf den Wagen projiziert (Video: Simon Ferenc Tóth), zeitgleich mit einem Spot auf die jeweilige Person. Dieses Wechselspiel zwischen Konkretem und Losgelöstem setzt sich fort. So besteht der 1. Klasse Speisewagen lediglich aus einer kleinen Rückwand und großer Decke, die Seiten sind offen zur leeren Bühne, der Gepäckwagen lediglich aus einer Handvoll Koffern. Das Schlafwagenabteil zeigt dann wiederum viele Türen, Leuchten und Klappsitze für den Schaffner (Bühne: Pascal Raich). Fährt der Zug in eine Kurve, wird das akustisch untermalt, ebenso das Abbremsen (Sounddesign: Gábor Keresztes). Zugleich legen sich die Reisenden synchron in die Seite.
Die Kostüme von Juli Balázs nehmen Bezug zur Erscheinungszeit der Vorlage, also den frühen 30iger Jahren des 20. Jahrhunderts. Entsprechend distinguiert geben sich auch die 1. Klasse Reisenden, die von Darstellern des Staatstheater Mainz und der Szputnyik Shipping Company gespielt werden.
Aus der Rolle fällt da nur der, ob der anspruchsvollen Kundschaft genervte, ungarische Schaffner Ferencz Józef (mit turnerischen Qualitäten: Károly Hajduk). Im Mittelpunkt steht der mitreisende Detektiv, der hier Hercule Pfeffer heißt und verschmitzt von Jost Grix gegeben wird. Genau gezeichnet sind die verdächtigen Mitreisenden, wie die Nachts umsonst nach Männern Ausschau haltende Amerikanerin Mrs. Hamilton der Andrea Quirbach, die steinreiche Fürstin Natalia Dobroljubov der Monika Dortschy, die sinnliche Gräfin Cseszneky der Lisa Mies, die die lesefreudige Diana Rodrigues der Ulrike Beerbaum oder der italienische Opern singende Dr. Giorgio Foscarelli des Lorenz Klee (sowie die korrekte Gouvernante Mary Spencer der Verena Bukal, die hilfsbereite Zofe Lucrezia Hardelean der Lőte Koblicska, der schmissige Colonel Griffiths des Gregor Trakis, der aufmerksame Sekretär des Mathias Spaan, der liebestolle Graf Cseszneky Gyula des Simon Ferenc Tóth, sowie der verschlagene Kassierer des Philipp Kugler, der auch den blutüberströmten Puckett gibt).
Person um Person wird von Hercule Pfeffer befragt, doch die Darstellung des bekannten Endes von Agatha Christies Vorlage wird hier erweitert dargestellt. Denn plötzlich befindet man sich in einer Szene, bei der Darsteller eine Szene spielen sollen, Also was jetzt? Spielt der Darsteller eine Rolle oder ist er spielender Darsteller der meint, eine Rolle zu spielen? Mit Humor und Witz und gleichzeitiger offen sichtbarer Theaterillumination löst sich der Knoten um den Mordfall und das Publikum ist Teil des Ganzen. Langer und starker Applaus eines begeisterten Publikums.
Markus Gründig, Oktober 11
Die Wildente
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 6. Oktober 11 (Premiere)
Was für ein Aufwand, was für ein fantastisches, rasantes Spiel. „Die Wildente“ am Schauspiel Frankfurt in der Regie von Karin Henkel (die hier im Oktober 2009 „Drei Schwestern“ inszenierte) ist ein humorvoller, überdrehter und tiefgründiger Sinnesrausch, der einen schon allein ob der visuellen Eindrücke gefangen nimmt. Das Kino der Stummfilmzeit, Musik und Slapstick sind dabei elementare Teile. Handelt es sich quasi um einen Ibsen reloaded? Ungewöhnlich und polarisierend ist diese Inszenierung zweifelsohne. Auch genial? Das liegt im Auge des Betrachters. Und dieser ist schon beim Blick auf das Programmheft das erste Mal irritiert. Muss das Schauspiel Frankfurt jetzt sparen oder warum ist das Cover mit dem Bild eines Mädchens, das mit seiner Hand in ein dunkles Feld tastet, auf einmal schwarz-weiss gehalten, wo man sich gerade an die sonst üblichen schönen Farbfotos gewöhnt hat?
Eine gewisse Unsicherheit im Vorwärtsgehen setzt sich für den Zuschauer fort nachdem sich der Vorhang gehoben hat und die Bühne die Zimmer der Familien Ekdal und Werle erkennen lässt, die von der kleinen Hedwig hereingezogen wurden. Verklärt von Nebelschwaden sind gewöhnliche Räume zu sehen (so sie nicht gerade mit weißen Vorhängen verdeckt sind). Wie eine riesige Torte stehen Atelier, Salon mit Flügel, Wohnstube und angedeuteter Garten auf einer sich ständig in Bewegung befindlichen Drehbühne. Die Dachböden in der Mitte sind über seitliche Klappen und Treppen zu erreichen und wirken mit ihren Geländern fast wie ein oberes Schiffsdeck. Nach vertrocknetem Gestrüpp, Hasen oder gar einer Wildente sucht man in dieser sterilen Umgebung vergeblich. Dafür kann man von diesem Zufluchtsort wunderbar zu den Sternen aufblicken. Ironisierend schwebt über alledem ein riesiges rot beleuchtetes Herz (unter dem Deckmantel der Liebe wird ein Mädchen in den Selbstmord getrieben; Bühne Janina Audick). Doch trotz aller Bewegung, fortbewegen tut sich hier keiner, alles bleibt wie es ist, auch wenn Regisseurin Karin Henkel mit vielen Ideen aufwartet. Großflächig werden daneben Bilder und Texte auf die Bühne projiziert und in einem Bilderrahmen ziehen dunkle Wolken über die Fabrik Werles (Video Kathrin Krottenthaler). Dramatische Orchesterfilmmusik untermalt die spannungsgeladene Stimmung (Musik Arvild J. Baud). In einer schmalen Kammer stehen viele Leute in schicker Abendkleidung und mit vollen Bäuchen, unter Ihnen auch Frau Sørby, die zukünftige Frau des Direktor Werle (charmant: Michael Goldberg im Kleid; er gibt auch hingebungsvoll den introvertierten, jagd- und trinkfreudigen alten Ekdal). Es ist ein zwölfköpfiger Chor, der sich als mahnende und wachende Gemeinschaft immer wieder meldet (Choreinstudierung: Wolfgang Runkel).
Die Anfangssequenz, das Ankommen Gregers’, wird dreimal wiederholt, mitsamt dessen ins Mark gehenden Klagerufen. Wer mit dem Inhalt nicht vertraut ist, braucht etwas Zeit, um in die Handlung hineinzukommen.
Die Besetzung des Gregers mit einer Frau erweitert die Freundschaft zwischen Gregers und Hjalmar auf eine Dreiecksgeschichte zwischen Gregers, Hjalmar und Gina und führt zu einer zusätzlichen Spannungsebene. Letztlich bleibt nicht nur unklar, wer nun eigentlich der biologische Vater von Hedwig ist und was zwischen Gina und dem alten Werle damals lief, sondern auch was damals zwischen Gregers und Hjalmar war. Und es gibt Gregers Streben, Hjalmar die Wahrheit aufzudecken mehr Sinn, wenn Gregers eine Frau ist (und sich dadurch das Vorhaben als Schuss nach hinten erweist). Dabei ist Lena Schwarz nicht nur einfach Gregers, sondern eine imponierende und integrierende Diva aus der Stummfilmzeit (mit großen Gesten, übersteigerter Mimik und kraftvoller Stimme). Martin Rentzsch gibt den erhabenen Direktor Werle und ebenso den burschikosen Doktor Relling. Claude de Demos Gina ist rollengemäß eine fürsorgliche und zurückhaltende Hausfrau und unfreiwillige Unternehmerin. Wiebke Mollenhauer verleiht der Hedwig die nötige kindliche Unbeschwertheit. Star des Abends ist Torben Kessler als Hjalmar, der sich hier mit großem Einsatz in die Herzen der Zuschauer spielt. So etwas von sich selbstbetrügendem Weichei hat man schon lange nicht mehr gesehen. Dazu passt auch der von Klaus Bruns verordnete XXL-Pulli, indem er sich und sein Wesen gut verstecken kann.
Tragische Tiefe scheint immer wieder durch, wird jedoch von stets präsenter überzeichneter Komik bis zum Ende hin in den Hintergrund gedrängt. Am Ende dann langer Applaus, allerdings auch einige Buhrufe für das Regieteam.
Markus Gründig, Oktober 11
Liliom
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 2. Oktober 11
Tragödie, Komödie oder gar ein Musical? Die Vorstadtlegende in sieben Bildern über den Schaustellerreisenden Andreas Zavoczki, genannt Liliom, ist auf jeden Fall das erfolgreichste Stück des Ungarn Ferenc Molnár, der schon in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts Weltruhm erlangte und dessen virtuos gestaltete Stücke durch die Verbindung von tragischen und humorigen Elementen bestechen. Umso verwunderlicher, dass einzig Liliom in den Spielplänen regelmäßig vertreten ist. Bekannt ist es auch durch verschiedene Verfilmungen, beispielsweise von Fritz Lang (1934) oder mit Josef Meinrad (1963) bzw. Helmut Lohner (1971) in der Titelrolle. Oder in der Musicalversion von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II, die in der Saison 2007/2008 am Staatstheater Darmstadt gezeigt wurde (eine Neuverfilmung des Musicals mit Hugh Jackmann in der Rolle des Billy Bigelow ist seit längerem geplant und gegenwärtig für 2013 angekündigt). Liliom als Theaterstück ist gleichzeitig auch eine Paraderolle für Schauspieler. Hans Albers hat die Figur beispielsweise über 1.800 mal verkörpert. Das Stück erinnert an die Geschichten von Molnárs Zeitgenossen Ödön von Horváth. Abgesehen davon, dass dieser bei der Uraufführung von Liliom erst knapp acht Jahre alt war, ist es jedoch gerade die publikumswirksame Verbindung von Theatralik und Witz, die Molnárs „Liliom“ auszeichnet.
Das Schauspiel Frankfurt eröffnete mit diesem Stück die neue Spielzeit in den Kammerspielen. Regie führt der neue (zusätzliche) Hausregisseur Christoph Mehler, der in den Kammerspielen zuletzt Roland Schimmelpfennigs „Wenn, dann: was wir tun, wie und warum“ zur Uraufführung brachte. Eine Bank und kahle Wände gibt es auch hier, obgleich mit einer den Bühnenhimmel umfassenden farbigen Lichterkette und einer Rummelplatzkapelle, die zusätzlich für eine dezente Festplatzstimmung sorgt. Aber die Welt ist hart und kalt, zumindest für arme Leute wie Liliom und die ihm verfallene Julie. Und so wird auf nackter Bühne mit unverstelltem Blick auf die Hauswände gespielt. Nur die Rückwand ist zunächst mit einem samtroten Vorhang bedeckt. Auf ein angedeutetes Fegefeuer für den Unglückstropf Liliom wird nicht verzichtet, was dem Publikum so manchen Schmunzler entlockte. Gesprochen wird in leichten Dialekten, was zusätzliche Sympathie weckt.
In der Titelrolle des brutalen, wendigen, und doch alle Frauen anziehenden Liliom glänzt Oliver Kraushaar. Wie er den rauen und vor Kraft strotzenden Macho Liliom gibt ist beeindruckend. Dabei lässt er nuanciert stets den schwachen Charakter unter der rauen Schale durchscheinen. Mit Henrike Johanna Jörissen als Julie (und Tochter Luise) hat er eine starke Partnerin an seiner Seite, die das Gegenteil von ihm ist. Äußerlich klein und sanft, wie ein zartes Blümchen. Doch stark verwurzelt, ist sie innerlich voller Stärke, die Schläge ihres Geliebten als Liebesbeweis bzw. als einzige Möglichkeit sich auszudrücken deutend. Ausdrucksstark ist sie in ihrem Leiden und Unverständnis über ihren toten Geliebten.
Um dieses tragische Paar gibt es aber weitere interessante Figuren. Wie die resolute Karussellbesitzerin Frau Muskat (kämpferisch: Heidi Ecks), den Polizeikonzipisten (streng aber mit humanen Zügen: Matthias Scheuring) und den falschen Kumpel Ficsur (wortgewandt: Isaak Dentler) . Als Gegenstück fungiert das spießige Glückspärchen Marie (spaßig, vom Schauspiel STUDIO Frankfurt: Henriette Blumenau) und Wolf (biedern komisch: Thomas Huber; auch mehrfach ein Rad schlagender Hollinger und werbender Drechsler).
Auch wenn hier das Theaterstück gezeigt wir und nicht das Musical, gibt es dennoch Musik von einer Liveband (Baß: Karl Wende; Klavier: Oliver Urbanski; Schlagzug und Schlagwerk: Jan Kahlert). Am Anfang sind es typische Festzeltorgelklänge, die für Praterstimmung sorgen, später geht es über jazzige Einlagen weiter bis zu einer rockigen Nummer. Die Musik komponierte Oliver Urbanski, der auch singt. Letzteres erledigt mit großer Innerlichkeit auch Henrike Johanna Jörissen sowie das gesamte Ensemble mit einer Gruppennummer.
Regisseur Christoph Mehler ist hier ein schöner Transfer von der Entstehungszeit des Stückes nach heute gelungen (schließlich könnte Liliom heute auch ein strauchelnder 1-Euro-Jobber sein), ohne in Sentimentalitäten zu verfallen. Viel Applaus auch bei der besuchten vierten Aufführung.
Markus Gründig, Oktober 11
Draußen vor der Tür
Staatstheater Mainz
Besuchte Vorstellung: 24. September 11 (Premiere)
Kurz war sein Leben, tragisch dazu. Wolfgang Borchert hatte es nicht leicht, machte es sich nicht leicht. Verschiedene Kriegseinsätze an der Ostfront, Denunziationen, Haft und am Ende eine schwere Lungenkrankheit, die sein Leben mit 26 Jahren beendete. Weiterleben wird er in seinen Werken, allen voran in seinem einzigen Drama „Draußen vor der Tür“, das er innerhalb von nur acht Tagen geschrieben haben soll und das einen Tag nach seinem Tod am 21. November 1947 in den Hamburger Kammerspielen uraufgeführt wurde (nachdem es zunächst als Hörspiel veröffentlicht worden war).
Tragisch ist auch die darin erzählte Geschichte des Kriegsheimkehrers Beckmann, der, um eine Kniescheibe beraubt, zu Hause die Frau mit einem anderen Mann antrifft, die Eltern sind gestorben und in seinem traumatisierten Zustand findet er auch keine Arbeit, da liegt es nahe, in die Elbe zu springen, doch selbst die will ihn nicht haben.
Das Staatstheater Mainz eröffnete mit diesem Bühnenklassiker seine neue Schauspielspielsaison, Intendant Mathias Fontheim selber inszenirt es als modernes Antikriegsstück. 1947 lag Deutschland noch in Trümmern, die Währungsreform gab es noch nicht. Neben der wirtschaftlichen Not gab es die persönliche Not, wie die des Kriegsheimkehrers Beckmann. Und da auch im 21. Jahrhundert weiterhin Kriege die Welt erschüttern, sieht Regisseur Fontheim einen aktuellen Bezug (zumal zunehmend deutsche Soldaten darin involviert sind).
Die verkleinerte Bühne im Kleinen Haus zeigt lediglich die diagonale Hälfte eines hellen, holzgetäfelten Raums (Fenster gibt es ebenso wenig wie Türen). Platz für Beckmann ist nur auf einem breiten Steg in der Dunkelheit davor (Bühne, auch Kostüme: Marc Thurow). Der Abend beginnt ganz wie im Buch: mit dem Prolog und einem Rülpskonzert des Beerdigungsunternehmers, der hier jedoch eine Beerdigungsunternehmerin (mit Hornbrille und schwarzem Anzug auf Pumps: Nicole Kersten, die auch den Straßenfeger gibt) ist. Es folgt der ebenso vorangestellte Traum: Beckmann kommt und windet sich zunächst gute fünf Minuten wortlos, von seinem Lebenskrämpfen geplagt, fällt, versucht aufzustehen, prallt gegen die Wand und fällt erneut. Schließlich kommt die Elbe (nicht zimperlich: Nicole Kersten, die auch die blasierte Frau des Obersts und die forsche neue Wohnungsmieterin Frau Kramer gibt) und spült sich samt einer Ladung Müll über ihn. Er muss leben, wider alle Umstände. Und mit seiner Verantwortung für die ihm im Krieg anvertrauten Soldaten (von denen elf unter seinem Kommando gefallen waren). Doch der eloquente Oberst (präsenzstark: Marcus Mislin) kann ihm nicht weiterhelfen, auch nicht der Kabarettdirektor (enthusiastisch: Zlatko Maltar). Temporäre Stützen sind für ihn ein Mädchen (liebevoll: Karoline Reinke) und der Andere (kameradschaftlich: Stefan Walz). Auf Distanz zu ihm hält sich des Obersts blasierter Schwiegersohn (Tibor Locher). Und der alte Mann, an den keiner mehr glaubt (Michael Schlegelberger), kann ihm schon gar keine Antworten geben.
Mattias Fontheim zeigt das Stück sehr nah am Original, es gibt viel wiederzuentdecken. Dabei scheut er auch Gewalt nicht. So misshandelt kurz vor Beckmanns langem Schlussmonolog der rasende einbeinige Soldat (Tibor Locher) seine Frau aufs Übelste und auch Beckmann hat an diesem Abend etliche Schläge einzustecken. André Willmund, seit vergangener Saison am Staatstheater Mainz, hat hier seinen großen Abend, denn er liefert ein unter die Haut gehendes Porträt des leidenden Beckmann. Gasmaskenbrillenfrei brilliert der 30-Jährige als Ausgeschlossener, Entmutigter, Fragender, Gehetzter, lästiger Störenfried, schwer an seiner Schuld Tragender und Zerrissener, voller expressiver Larmoyanz. Ein eindringlicher, großartiger Abend, vor allem dank André Willmund.
Markus Gründig, September 11
Winterreise
Schauspiel Frakfurt im Bockenheimer Depot
Besuchte Vorstellung: 21. September 11
Ein Leben in Angst. Ein Leben mit einer Angst-Erkrankung. Dafür überaus kreativ im Schreiben, Theaterpreise en masse und nicht zuletzt den Nobelpreis für Literatur. Elfriede Jelinek ist eine außergewöhnlich erfolgreiche Autorin. Als Auftragsarbeit für die Münchner Kammerspiele schrieb Elfriede Jelinek „Winterreise“, die Uraufführung fand im Februar dieses Jahres statt. In der Saison 2011/12 wird das Stück landauf landab inszeniert (u.a. in Berlin, Mainz, Stuttgart, Wien). Das Schauspiel Frankfurt zeigt es jetzt in der Spielstätte Bockenheimer Depot, alle angesetzten Aufführungstermine waren schon vor der Premiere ausverkauft.
Dabei ist Jelinek keine leichte Autorin im Sinne von leicht zugänglichen Boulevardstücken. Ihre komplexen und oftmals sperrigen Texte wecken Assoziationen, erzählen aber keine Geschichten. Die Stücke entsprechen nicht dem üblichen Aufbau eines Dramas. In der vergangenen Saison war ihr Stück „Die Kontrakte des Kaufmanns“ in der ehemaligen Diamantenbörse zu sehen. Anders als dort ist ihre „Winterreise“ viel persönlicher, intimer. Schließlich hat für sie kein Werk der Kunst mehr Bedeutung als Schuberts Vertonung von Wilhelm Müllers Gedichten. Die Reise des Müllerburschen ist eine traurige Geschichte mit offenem Ende. Angekommen ist er schließlich nirgends. So sieht es auch Jelinek, wie sie in ihrer Dankesrede zur Verleihung des diesjährigen Mülheimer Dramatikpreises (den sie für ihre“ Winterreise“ bekommen hatte) ausführte: „Er geht nicht, um irgendwohin zu kommen, er geht, um fortzukommen.“ Fort von der Angst, von Leid und Not.
Bettina Brunier hat dafür eine schöne Umsetzung gefunden. Gespielt wird in einem Seitenflügel des Bockenheimer Depots. Das Publikum sitzt auf der kleinen Publikumstribühne und schaut von einem Ende der Halle in das andere. Links grenzen schwarze Vorhänge den Raum ab. Die rechte Seite wird ungeschönt so gezeigt wie sie ist, mit ihren hohen Fenstern, Technikinstallationen und schwarzen Heizkörpern. Am hinteren Ende befindet sich eine schwarze Wand, in deren Mitte eine Tür zu erkennen ist. Vier Darsteller sitzen davor, vier weitere treten dazu und laufen vor, in Richtung Publikum. Doch sie kommen nie an. Wie von einer magischen Kraft angesogen, werden sie immer wieder nach hinten gezogen. Eine gute Umsetzung für eine Reise im Stehen, ohne Ankommen. Die Wand wiederum schiebt sich wie ein Krebsgeschwür immer weiter nach vorne, um schließlich kurz vor dem Publikum haltzumachen. Der Boden ist eine weiße Winterlandschaft (bestehend aus Konfetti, Papierschnipsel und Papierknäueln; Bühne: Claudia Rohner), zunächst ist der Raum eisig kalt ausgeleuchtet (Licht: Alexander Kirpacz).
Altern, die Begrenztheit des Lebens, aber auch Einsamkeit und Verlust sind aufgegriffene Themen, die im pulsierenden Sprachzauber zutage kommen, bei dem lose Sätze aus den 24 Liedern der Winterreise Verwendung finden. Und die auch musikalisch verfremdet bzw. stark verkürzt am Klavier (Kornelius Heidebrecht) erklingen. Vier Darsteller (Wilfried Elste, Josefin Platt, Lore Stefanek; Andreas Uhse) spielen die unterschiedlichen Figuren, sie sind zusätzlich mit stummen Doubles besetzt, dazu gibt es eine junge Frau (Ayako Ogata, Annemie Pauli, Donna Zielinski; Stefan Feldner, Gerd Hofmann).
Sie alle sind Wanderer. Wanderer durch das Kuriosum Leben, durch die Gemeinschaft, die sich Gesellschaft nennt. Dabei geht es vom Allgemeinen ins Spezielle. Vom österreichischen Bankenskandal über den Fall Natascha Kampusch (die als Kind entführt und acht Jahre eingesperrt wurde) und die Reaktion anderer darauf, bis hin zu persönlichen Bezügen zu Elfriede Jelinek (ohne jedoch autobiografisch zu sein). Wilfried Elste ist beispielsweise ein Wanderer mit Rucksack als einzigem Bezugspunkt. Von der Frau und der Tochter ins Heim abgeschoben, fristet der an Demenz Leidende ein jämmerliches Dasein. Die emotionale Singlefrau der Josefin Platt leidet an ihrer Einsamkeit und schafft es auch ob der großen Verlockung durch die Singlebörsen des Internets nicht, sich davon zu befreien. Lore Stefanek gibt eine allumsorgende Mutter und eine resolute Dame, die stets die alte Leier singt, selbst nachdem sie selbst verschuldet untergegangen ist. Als wortgewandter Todesverführer glänzt Andreas Uhse im schwarzen Glitzerjackett (Kostüme: Justina Klimczyk).
Regisseurin Bettina Brunier hat hier ein fesselndes Konzentrat aus Jelineks Text auf die Bühne gebracht. Die langen und oftmals sperrigen Texte Jelineks werden in kleinen Häppchen brillant umgesetzt vorgestellt. Jeder Eindruck von Monotonie wird vermieden. Am Ende steht gar ein sarkastisch heiterer Tanz. Viel Applaus, auch bei der besuchten vierten Vorstellung und die Freude, beim Verlassen des Bockenheimer Depots festen Boden unter den Füßen zu haben.
Markus Gründig, September 11
haymatlos – Ein Liederabend
theaterperipherie
Besuchte Vorstellung: 20. September 11 (Frankfurt Art Bar)
I’m free like a river
Flowin‘ freely to infinity
I’m free to be sure of what
I am and who I need not be…
(Stevie Wonder)
2007 gegründet, beschäftigt sich das Theater „theaterperipherie“ mit den Themen Integration und Lebenswelten von Migranten, mit Schwerpunkt auf Jugendliche und junge Erwachsene. Der Begriff Heimat bekommt bei diesen eine ganz besondere Bedeutung. Denn was für die deutschstämmigen Deutschen selbstverständlich ist, ist es für Kinder aus Immigrantenfamilien nicht. Sie sind Deutsche, sie lieben Deutschland und sind doch Fremde. Zu dem Land ihrer Eltern haben Sie kaum Bindung, mitunter waren sie noch nie dort. Wo ist ihre Heimat, wo sind ihre Wurzeln? Bei dem Liederabend „haymatlos“ gehen sieben junge Menschen auf die Reise in ihre Heimat und stellen dabei fest, dass sie heimatlos sind. Produktionen von „theaterperipherie“ waren bisher vor allem immer in der Jugendkulturkirche Sankt Peter zu sehen. Ab dieser Saison werden die Stücke im Titania aufgeführt. Wobei dies erst ab der nächsten Produktion (Woayzeck und Marie) gilt. Für „haymatlos“ gibt es keine feste Spielstätte. Die Premiere fand im Café des Kunstvereins statt, die besprochene Aufführung in der Frankfurter Art Bar, die nächsten finden im Frankfurter Autorentheater und in der Brotfabrik statt. Und dies macht das Programm noch interessanter, wird das Thema „Heimatlosigkeit“ dadurch noch transparenter.
In der Frankfurter Art Bar sitzen die sieben Darsteller zunächst mit dem Rücken zum Publikum an der Theke (Bühne: Linnan Zhang). Sie tragen Jeans und T-Shirts und sehen zunächst auch nicht anders aus, als das Publikum gegenüber (Kostüme: Salima Abardouch). Biemnet (Biemnet Haile) beginnt soulig mit dem Stevie Wonder Song „I’m free like a river”, der quasi als Exposition dem Abend vorangestellt ist und bei dem die anderen die Melodie mitsummen, über den Traum unabhängig und frei von anderen sein zu können. Doch die Realität ist eine andere, wie alle zu berichten haben: „Jeder Zuluneger hat seinen Bettvorleger, aber unsereiner, der hat nix, aber unsereiner, der hat nix, aber unsereiner, der hat nix!“ heißt es dann bald. Abgewandelt in „Jeder Inder der hat 20 Kinder…“ oder „Jeder Beduine hat seine Waschmaschine, aber unsereiner, der hat nix!..“. Und da kommt auch schon Anne (Anne Sicking) ins Spiel, die Singlefrau. Sie ist ohne ausländische Wurzeln, doch was hilft ihr das schon beim jährlichen Osterfeuer in ihrer Heimatstadt Dorsten, wo stets nur Paare sind und es schwer ist, „einen Braten in die Röhre zu bekommen“. Apropos Braten, dazu passen Kartoffeln, und diese gibt es ja in Deutschland in allen Variationen. Die in Brasilien geborene Mariana (Mariana Boscov) kennt sich damit inzwischen bestens aus, kam sie doch aus Liebe zu ihrem Mann nach Deutschland. Und sie liebt Kartoffeln, vor allem gratiniert. Ihr gesungenes „Oh Tannenbaum“ singt sie mit einer solchen Hingabe, wie ein Kind, das wochenlang auf Heiligabend gewartet hat und nun mit leuchtenden Augen vor dem Wohnzimmer steht. Doch es bleibt nicht bei Volkstümeleien. Jonas (Jonas Abbood) ist im Irak geboren. Er erinnert sich an seinen Vater, der für ihn als Kind wie der Präsident aussah. Während vom Band die irakische Nationalhymne („Text Ibrahim Touqan, Musik Walid Georges Gholmieh) in der Originalsprache läuft, singt er mit schönem Timbre in der Stimme balsamisch die deutsche Übersetzung: „Meine Heimat ~ Glanz und Schönheit ~ Erhabenheit und Geziertheit ~ Sind in deinen Hügeln ~ Leben und Freiheit ~ Freude und Hoffnung ~ Sind in deiner Atmosphäre …“. Ein Text, den man so hier nicht vermutet hätte. Olesja (Olesja Dyring) aus Kirgisien präsentiert dafür, wie die Deutschen die Russen sehen. Und reicht Familienfotos als Beweismittel herum. Auch die Wodkaflasche ist schnell zur Hand und schon singen alle enthusiastisch „Moskau, Moskau…“.
Francisco (Lutumba Francisco) ist „a bayrischer Bua“ par excellence. Geboren in Erding, spricht er perfekt bayrisch und schuhplattlert im Wettbewerb, dass allen anderen die Puste ausgeht. Wäre da nicht seine Hautfarbe, die die Herkunft seiner Eltern verrät, wäre sein Leben womöglich anders verlaufen. Von deutscher Behördenbürokratie weiß der um einen deutschen Pass Ringende leider viel zu viel zu berichten (dazu intonieren die anderen Jerry Lewis’ bekannte Melodie „The Typewriter“). Bahar (Bahar Sarkohi) kommt aus dem Iran, sie ärgert, dass hier keiner ihren Namen richtig ausspricht. Apropos richtig und falsch. Müsste es nicht heimatlos heißen? Auch dies wird geklärt. Mitunter finden auch deutsche Wörter Eingang in eine andere Sprache (so wie „Kindergarten“ in den USA). Zur Zeit des Nationalsozialismus suchten rund 1000 Deutsche Zuflucht in der Türkei. Ausgebürgert aus Deutschland, waren sie staatenlos und erhielten „heimatlos“ in den Pass gestempelt. Dies wurde zu einem Synonym für den Status der Exilanten und ging als Begriff für Staatenlose ein.
Biemnet kommt aus Sossenheim, wo Schüler aus 20 bis 30 verschiedenen Länder in einer Klasse sitzen. Und kann es einfach nicht mehr hören, ständig wegen seines Aussehens als Fremder angesprochen und dementsprechend behandelt zu werden. Schöne Leitkultur hier, stellt er sarkastisch fest. Und Bahar berichtet von ihrer Ankunft in Deutschland, dem Aufenthalt im Heim, arm und ohne Möglichkeit sich anderen mitteilen zu können. Dazu die große Sorge um den Vater in der Heimat. Auch sie gehört zur Generation mit neu zu definierender Heimat. Iranische Lebensgewohnheiten kennt sie kaum und die wenigen, die sie kennt, kann sie kaum praktizieren, wie den Feuersprung beim Frühjahrsfest Nouruz.
Es ist ein heiterer und charmanter Abend, den Regisseurin Natalie Schramm zusammengestellt hat, der gleichzeitig aber auch ein zartes Gespür für die Nöte all derer widerspiegelt, die ohne rechte Heimat sind (auch wenn sie nahezu alle akzentfreies Deutsch sprechen) und dass manches persönliches Problem mit Integration alleine nicht gelöst werden kann. Sensibilisierung zu wecken, ist ein erster Schritt. Wenn dies dann auch noch auf so unterhaltsame Weise geschieht, umso besser.
Markus Gründig, September 11
Die Räuber
Schauspiel Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 16. September 11 (Premiere)
Friedrich Schiller war noch jung, als er sein Frühwerk „Die Räuber“ 1781 schrieb, gerade einmal 20 Jahre alt. Nicht mehr ganz so jung, aber noch zu den jüngeren Regisseuren zählend, ist der in der mecklenburg-vorpommerischen Landeshauptstadt Schwerin geborene Enrico Lübbe (1975), der jetzt Schillers frühes Meisterwerk im Frankfurter Schauspielhaus inszenierte und sich damit erstmals in Frankfurt vorstellte. Lübbe ist seit der Saison 2008/2009 Schauspieldirektor in Chemnitz und arbeitete zuvor u.a. in Köln, Leipzig, Nürnberg und Stuttgart. Seine letztjährige Inszenierung von Gerhart Hauptmanns „Rose Bernd“ am Bayerischen Staatsschauspiel München (Residenztheater) fand viel Beachtung. Dies könnte auch seiner aktuellen „Die Räuber“-Inszenierung am Schauspiel Frankfurt widerfahren. Durch radikale Reduktion machte Lübbe aus Schillers langatmigen, 5-aktigen Stück ein Konzentrat mit lediglich 100-minütiger Spieldauer.
Dabei ist es nicht allein die starke Kürzung, die diese Inszenierung zu etwas Besonderem macht, sondern die gesamte kühl-moderne Ästhetik und die fast schon choreografisch gestaltete Personenführung. Vom Frankenland und Moorischen Schloss ist dabei genauso wenig zu sehen, wie von einer sächsischen Schenke. Nach einem lauten musikalischen Getöse fährt zu Beginn der Eiserne Vorhang hoch und die Familie Moor und die Räuberbande stehen mit Blick zum Publikum nah am Bühnenrand (nur Maximilian, der Vater, sitzt). Nicht der zweitgeborene Franz spricht das erste Wort (wie es im Buch steht), sondern der erstgeborene Karl beginnt hier mit seinem Lamento. Wobei die Schar der Herren schon ob ihrer Kleidung auffällt. Jeder, bis auf den Vater, hat zumindest ein weißes Kleidungsstück an, sei es Hose, Jacke oder Hemd. Wie klassische Räuber sieht da nicht einer aus. Mit ihren hellen Anzügen oder sommerlichen Outfits wirkt die Schar absolut der Gegenwart entsprungen (Kostüme: Sabine Blickenstorfer). Soziale Missstände, Drang nach Freiheit und Gerechtigkeit ist zeitlos, genauso wie Gier, Unzufriedenheit und Missgunst. Gleichzeitig vermittelt dieser luftige Kleidungsstil eine schöne Leichtigkeit, die die Angst nimmt, jetzt einen schweren theatralen Brocken verdauen zu müssen (wie auch das Spielformat mit seinen 100 Minuten natürlich heutigen Sehgewohnheiten entgegenkommt, auch wenn es leider keine Pause gibt).
Nachdem dann Franz Moor seine Briefintrige eingefädelt hat, gibt es erneut ein Getöse. Der schwarze Prospekt hinter den Männern fährt hoch und aus dem Bühnenhintergrund bewegt sich ein abstrakter Baukörper nach vorne. Am ehesten lässt sich dieser als angedeuteter mondäner Bungalow beschreiben. Er besteht aus einer Wand, die von zwei Eingängen unterbrochen ist und einem vorne überragenden Flachdach. Die Wände gleichen gebürstetem Aluminium. Auch hier also eine gewisse Helligkeit, kein dunkler Wald, Spelunke oder Schloss. Bei diesem Bild bleibt es für den Rest der Handlung (Bühne: Henrik Ahr) Die einzelnen Szenenwechsel erfolgen durch Änderung des Lichts, begleitet von lautstarken musikalischen Versatzstücken, die von der isländischen Gruppe Sigur Ros stammen könnten (Musik: Bert Wrede).
Durch die Ähnlichkeit der Figuren in ihrer Optik, werden diese zu Projektionsflächen für jedermann. Ein übliches schwarz-weiss Denken gibt es in dieser Inszenierung nicht. Wie ja auch schon Schiller eine gewisse Ambivalenz in die Figuren eingearbeitet hat. Karl Moor (elegant, erhaben, aber auch orientierungslos, strauchelnd und verzweifelnd: Marc Oliver Schulze) ist die tragische Figur, der zum Räuber aus Not wurde, dabei aber in eng geschnittener Jacke und Sonnenbrille fast als metrosexuelle Glanzfigur des 21. Jahrhunderts daherkommt. Der Franz Moor des Sascha Nathan ist hinterhältig wie es sich gehört, doch nie nur einfach bösartig. Stets scheint die menschliche Seite seiner leidenden Seele durch (weshalb er auch den stärksten Schlussapplaus erhielt). Vater Maximilian von Moor (an seinen Söhnen zugrundegehend und emphatisch: Felix von Manteuffel) ist dabei der unfreiwillige Spielball zwischen den Buben. Glanz bringt die Amalia der Sandra Gerling auf die Bühne. Schon rein äußerlich mit ihren eleganten langen Haaren und im kurzen, weißen Kleid, dessen Pailletten wild glänzen. Auch sie gibt sich sehr zurückhaltend. Wie dies alle tun. Dem gesprochenen Wort gibt Regisseur Enrico Lübbe viel Raum und Zeit. Keine Effekthascherei, nur ein paar Kunstblutspritzer am Ende (Regiemitarbeit: Torsten Buß). Dafür stimmt ein Chor aus dem Hintergrund mit ein (Einstudierung Chor: Jürgen Lehmann).
Die weiteren Figuren sind bei diesem Regiekonzept etwas auf der Strecke geblieben und fallen entsprechend klein aus, auch wenn sie groß besetzt sind (Spiegelberg: Michael Benthin; Roller: Christoph Pütthoff; Schufterle: Christian Bo Salle; Razmann: Sébastien Jacobi; Schweizer: Viktor Tremmel; Kosinski: Moritz Pliquet; Hermann: Till Weinheimer; Daniel / Ein Pater: Ulrich Beseler).
Mit diesem Stück eröffnete das Schauspiel Frankfurt die neue Saison im Schauspielhaus (dem ehemaligen Großen Haus). Im Sommer wurde die Obermaschinerie erneuert und erweitert. Bei dieser Produktion war von der neuen Technik noch nicht viel zu sehen, sie hat fast Kammerspielformat. Eindringlich, ergreifend und positiv ungewöhnlich.
Markus Gründig, September 11
The Importance of Being Earnest
English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 9. September 11 (Premiere)
Style, not sincerity, is the vital thing
(Oscar Wilde)
Die offizielle Spielzeiteröffnung am English Theatre Frankfurt erfolgt fast schon traditionell mit einem Klassiker der Bühnenliteratur, sei es mit einem von Edward Albee („Who’ s afraid of Virgina Woolf“), Patrick Hamilton („Gaslight“) oder Tennesse Williams („Cat on a hot tin roof“). Die jetzige Spielzeit, es ist die 32., wurde mit Oscar Wildes bestem Werk, der Lügnerkomödie „The Importance of Being Earnest“ eröffnet. Sie gilt als eine der glänzendsten Komödien der Weltliteratur überhaupt. Formal geht es um zwei junge Herren der britischen Upperclass, die ihren Spaß damit haben, sich je nach Ort für andere Personen auszugeben. Dies führt natürlich zu turbulenten Verwicklungen, die sich aber, wie es sich für eine gute Komödie gehört, am Ende alle auflösen. Zudem finden auch noch drei Paare zueinander. Dabei glänzt Wilde mit sprachlichem Witz und überraschenden Effekten bei der Handlungsführung. Das Hauptthema, das Missverhältnis von Sein und Schein, steht in gewisser Weise auch für Wildes Lebensthema.
Im deutschen Sprachraum ist das Stück unter dem Titel „Bunbury ~ Ernst sein ist wichtig“ bekannt, hier wird es gern als reines Unterhaltungsstück bzw. als Klamotte gezeigt. Doch es liegt auch ein gewisses grotesk komisches Potenzial in dem Stück.
Regisseur Matthew Ryan vermeidet bei seiner Inszenierung im English Theatre Frankfurt alles Überdrehte, genauso wie eine zeitgemäße Interpretation im Sinne des modernen Regietheaters und zeigt das Stück klassisch, als ein Stück britischer Theaterkultur.
Clou der Inszenierung ist das Einheitsbühnenbild von Bob Bailey, das lediglich aus einer riesigen halbrunden, vorgestellten Wand aus unzähligen Bilderrahmen besteht. Diese sind nur zum Teil mit Portraits und Landschaftsbildern versehen. Ortsbezüge und Ausschnitte von Einrichtungsgegenständen finden sich hier zusätzlich als abstrakte Andeutung (dazu Musikinstrumente für den künstlerischen Bezug von Algernon). Am Bühnenrand steht rechts ein Grammofon und links auf einem kleinen goldenen Tisch neben einer Flasche Champagner ein kleiner Bilderrahmen mit dem Porträt Oscar Wildes (ein größeres, mit verwischtem Gesicht), hängt zudem an der großen Wand). Oscar Wilde ist also gewissermaßen dabei, bei seiner „trivialen Komödie für ernsthafte Leute“ (so sein Untertitel zu diesem Stück), ebenso wie ein großes Fragezeichen in einem der Bilderrahmen zum Nachdenken anregt: Was ist wahr, was ist falsch, wie wichtig ist äußerer Schein oder ein guter finanzieller Rückhalt, welche Bedeutung haben Freundschaften oder die Familie?
Um diese beeindruckende Rahmenwand wird für jeden Aktwechsel eine Vorhanggalerie gezogen und der Hintergrund unterschiedlich ausgeleuchtet. Dadurch erhält die Bühne ein Großmaß an Raum, zusätzlich Tiefe und die Szenerie eine schöne Leichtigkeit. Einrichtungsgegenstände gibt es kaum (nur eine Chaiselongue, ein Bistrotisch und zwei Stühle). Der Ortswechsel von London in den Garten von Manor House in der nördlich angrenzende Grafschaft Hertfordshire wird durch ein prächtiges Blumenbouquet an der Wand angedeutet. Gespielt wird, wie es im Stück steht, zur Gegenwart (der Uraufführung, 1895) in London. Daher tragen die Damen lange und hochgeschlossene Kleider, die Herren schicke Anzüge in Brauntönen (Kostüme: auch Bob Bailey).
Für den heiteren Ausflug in das viktorianische England sorgen britische Darsteller, die alle mit hervorragender Diktion sprechen. James Meunier gibt einen passenden jovialen und nonchalanten Algernon, der sich um nichts schert, außer um seine eigene Lustbefriedigung. Er hat nichts (außer Schulden), scheint nach außen hin aber alles zu haben, eben ein Lebemann wie Oscar Wilde. Alexander Warner verkörpert den von Algernons Bunburysierungsspäßen genervten John Worthing mit Anmut und Charisma. Die Gwendolen Fairfax der Nicola Sian und die etwas jüngere Cecily Cardew der Sarah Lambie gefallen mit der Leichtigkeit ihres Spiels. David Horne, erst Butler Lane, dann Butler Merriman, erinnert in letzterer Figur an den guten Butler James aus „Dinner for one“. Zoë Ann Bown gibt eine intelligente Gouvernante Miss Prism, die mit Rev. Canon Chasuble (beschwingt: Robert Howie) sogar einen neuen Freund gefunden hat. Groß in Szene zu setzen weiß sich Amanda Reed als energiegeladene und strenge Lady Bracknell, die britischen Anstand perfekt nach außen repräsentiert und auch einen guten Sinn für wirtschaftlich fundierte Lebensentscheidungen hat.
Am Ende viel Applaus für die charmante Umsetzung dieses brillanten und doppelbödigen Spiels um Stil und Aufrichtigkeit.
Markus Gründig, September 11
Je t´aime:: Je t´aime
Schauspiel Frankfurt im Bockenheimer Depot
Besuchte Vorstellung: 26. August 11
Von der Leinwand auf die Bühne, von der Bühne auf die Leinwand, Theater und Filmindustrie bedienen sich gern anderer Genres (wie ja auch gerne Romane für die Bühne adaptiert werden). Bei „Je t´aime :: Je t´aime“, dem neuesten Projekt von Bernhard Mikeska und Lothar Kittstein, wird auf den gleichnamigen Film von 1968 Bezug genommen (Regie: Alain Resnais). Noch nie von dem Film gehört? Kein Wunder, schließlich verschwand er nach einer Streik bedingten Absage bei den Filmfestspielen von Cannes in den Archiven, bevor er überhaupt gezeigt wurde. Seitdem lief er, wenn überhaupt, nur sporadisch. Im Jahr 2008 erschien aber eine DVD vom Film, diese inspirierte Bernhard Mikeska für eine szenische Umsetzung. Im Film geht es um einen Verlagsangestellten, der sich nach einem Selbstmordversuch einem medizinischen Experiment zur Verfügung stellt und dabei eine Zeitreise zu Stationen seines bisherigen Lebens durchmacht. Im Zentrum steht dabei eine Liebesgeschichte, bei der unklar bleibt, ob er die Geliebte ermordet hat oder ob sie Suizid verübte. Dominik Graf beschreibt im Programmheft den Film als spannend wie ein Thriller, intellektuell und existenziell anrührend, quasi als ein Juwel, der heute keine Chance hätte einen Produzenten zu finden.
Das Projekt „Je t´aime :: Je t´aime“ von Bernhard Mikeska und Lothar Kittstein, das jetzt in der Spielstätte Bockenheimer Depot uraufgeführt wurde, zeigt in drei, fast nahtlos verbundenen Akten die Geschichte einer Filmdiva, deren Glanzzeiten vorbei sind: eine Feier zu ihrem 50. Geburtstag, eine Feier zum Remake des Films „Je t´aime :: Je t´aime“ und schließlich das Remake vom Remake. Der Film soll dabei im Kopf des Zuschauers entstehen. Erinnerungen an Billy Wilders Film „Sunset Boulevard“ von 1950 werden wach, auch wenn es da um eine Stummfilmdiva ging (Gloria Swanson spielte die alternde Norma Desmond). Auch auf der Bühne im Bockenheimer Depot fallen Schüsse, zum Ende eines jeden Akts. Am Schluss hat sich die Diva wohl umgebracht.
Zuschauer, denen ein Platz in der ersten Reihe noch viel zu weit hinten ist, kommen bei dieser Produktion voll auf ihre Kosten, denn die Grenze zwischen Publikum und Schauspieler ist aufgehoben, es gibt gewissermaßen keine vierte Wand. Gespielt wird in einer mondänen Villa in Beverley Hills, deren große Fensterfront die Terrasse samt Swimming Pool und einen fantastischen Nachtblick auf Los Angeles zeigt. Im großen, luftigen Wohnraum, mit Steinwänden, einer Galerie, blühenden Oleandersträuchern, einer Couch und großem Esstisch (inklusiver schwarzer Designstühle) gibt es Sitzgelegenheit für diejenigen, die nicht so lange stehen können oder wollen (Bühne: Dominic Huber/blendwerk). Ansonsten bildet das Publikum die Gäste der Party. Es schlendert durch die Räume, schaut hier, schaut dort. Es ist jedoch kein interaktives Theater (die Schauspieler sprechen die Gäste nicht an). Jeder hat einen Kopfhörer bekommen, aus denen zunächst nur dezente Loungemusik (Musik und Sounddesign: Knut Jensen) ertönt. So langsam mischen sich die Darsteller (ohne Kopfhörer) unter die Gäste. Das Besondere ist, dass für die Übertragung der Gespräche bis zu drei Kanäle genutzt werden, jeder aber natürlich nur einen hören kann. So ist das Publikum unbemerkt in drei Gruppen aufgeteilt, denn zuweilen sprechen die Darsteller mehrfach, an verschiedenen Orten in der Villa. Die Loslösung von Ort und Zeit wird dadurch gelockert. Dazu gibt es zwischen den Akten große Zeitsprünge mit wechselnden Rollenbesetzungen (die Olga im ersten Akt spielt beispielsweise die Jeanne im zweiten Akt, der Claude vom ersten Akt gibt den Alain im zweiten Akt etc.), auch die Villa selbst gerät aus den Fugen: sie dreht sich. Zunächst denkt man, der äußere Bereich ist es, der sich dreht. Doch ein Blick nach oben zeigt, der mittlere Raum, auf dem weite Teile der Gäste verweilen, ist es, der sich dreht.
Es herrscht eine positive Spannung wie auch eine entspannte Atmosphäre. Dazu passen die Kostüme von Almut Eppinger, die der jeweiligen Zeit entsprungen sind. So trägt der Produzent einen weißen Anzug, eine Hornbrille mit gelben Gläsern, später Olga ein Flower-Power-Kleid und Agnes ein gelbes Kleid im India-Look, die Männer haben Schlaghosen an. Doch ein großer Strauß weißer Lilien auf dem Esstisch deutet von Anbeginn an auf Morbides hin. Und so dauert es auch nicht lange, bis sich in der fröhlichen Partygesellschaft Brüche, Abgründe und Streitereien auftun. Diva Catrine (mondän: Traute Hoess) glaubt ohnehin, dass all die Leute nur Leichenfledderer sind und träumt von einem richtig teuren Film, der sie noch einmal groß in Szene setzt. Währenddessen flirtet Olga (verführerisch: Valery Tscheplanowa) mit dem in ihren Augen niedlichen Tier und zu höflichen Oscar (träumerisch: Nils Kahnwald), entspannt sich Ehemann Alain (geheimnisvoll zurückhaltend; Peter Schröder) am Pool. Olga (mit sommerlicher Leichtigkeit: Franziska Junge) lehnt Rollenerwartungen ab und Oscar (angespannt: Thomas Schmidt) bettelt um eine kleine Nebenrolle, wo er doch schon den ganzen Text gelernt hat.
Mehrfach wird „Je t´aime“ gesungen (die dazugehörige LP liegt die Songs sind auch auf der Schauspiel Frankfurt Webseite unter „Bonusmaterial“ zu hören/downzuloaden). Die Akte sind durch kurze Ansprachen eines jungen Mädchens (alternierend: Rahel Rosenkötter / Emma Teitge) verbunden, ein Alter Ego der Diva?
Zum Finale singen zwei Frauen (Franziska Junge, Valery Tscheplanowa) erst liebreizend, steigern sich aber dann in Rage und fordern Olga auf, ihrem Leben ein Ende zu setzten. Diese hörte von unten zu. Blicke und Gesichtsausdrücke sind bei diesem Projekt immanent und hierbei beeindrucken alle Darsteller. Dennoch sticht Traute Hoess als Verzweifelte, der das Remake das Genick gebrochen hat, deren Lebenstraum zerplatzt ist und die mittlerweile eine gewisse Senilität aufweist, hervor: Große Schauspielkunst ohne Worte. Schließlich blicken sich das Mädchen (vom Fenster im 1. Stock) und Olga (von der Galerie) gegenseitig an, dann fällt der letzte Schuss. Viel Applaus für ein ungewöhnliches aber sehr sehenswertes Projekt.
Da bereits schon vor der Uraufführung sämtliche geplanten Vorstellungen ausverkauft waren, wurden inzwischen nicht nur weitere Vorstellungen angesetzt, es sind auch noch weitere in Planung.
Markus Gründig, August 11
The Threepenny Opera
English Theatre Frankfurt (Drama Club)
Besuchte Vorstellung: 12. August 11 (Premiere)
Wo es bei den Städtischen Bühnen Frankfurt nach den hessischen Sommerferien nur hinter der Bühne schon wieder eifrig zur Sache geht, eröffnete das in naher Nachbarschaft liegende English Theatre Frankfurt jetzt seine neue Spielzeit (die 32.). Bevor es am 9. September 11 mit Oscar Wildes populärstem Stück „The Importance of Being Earnest („Bunbury“) richtig los geht, wird zunächst als „Appetitmacher“ eine Produktion des Drama Clubs gezeigt. Der Drama Club des English Theatre Frankfurt hat sich seit dem Jahr 2005 einen Namen gemacht. Profis und Amateure, Schüler und Erwachsene arbeiten hier zusammen, das English Theatre Frankfurt unterstützt sie dabei mit seinen Räumen und dem technischen Equipment. Viele Produktionen entstehen zudem in enger Kooperation mit dem Gymnasium Oberursel, so auch diese. Zum Saisonauftakt 2011/12 wurde hierfür ein deutscher Klassiker ausgewählt: Brechts und Weills „The Threepenny Opera“, besser bekannt unter dem Originaltitel „Die Dreigroschenoper“, wobei dieses Stück wiederum auf John Gays „The Beggar´s Opera“ aus dem Jahre 1778 beruht.
Regisseur Michael Gonszar (auch Leiter des Drama Clubs) ist auch hier wieder eine packende Umsetzung gelungen, die die Geschichte von Macheath, genannt Mackie Messer, durchaus im Brechtschen Sinn des epischen Theaters zeigt. Die dreistündige Aufführung (inkl. einer Pause) lässt zu keiner Zeit Langeweile aufkommen. Bildungsanspruch und Unterhaltung werden gleichberechtigt befriedigt, dargeboten von einem großem Ensemble und einer Liveband (die im Bühnenhintergrund spielt).
Zu Beginn tauchen die Darsteller im abgedunkelten Zuschauerraum auf und fuchteln mit Taschenlampen herum, als Fingerzeig auf das bevorstehende Spiel auf der Bühne. Diese ist karg ausgestattet. Eine von hinten angestrahlte Plexiglaswand, rollbare Kleiderständer, drei Lampen, die vom Bühnenhimmel herabhängen. An der einen Wand prangt in grossen Lettern „“No youth unemployment ~ no riots („Keine Jugendarbeitslosigkeit keine Unruhen“). Ein aktueller Bezug zu den Krawallen gegen das britische Establishment in der vergangenen Woche. Wobei Regisseur Gonzar für das Spiel um Moral und Fressen, Geld und Gier, immer wieder dezent aktuelle Schlagwörter (wie Kate und William, Fukoshima, Finanzkrise oder Strauß-Kahns Zimmermädchen) einfließen lässt. Viele Bezüge, die auf Probleme der heutigen Zeit hinweisen und die Aktualität des Stücks untermauern.
Die Figur des Mac the Knife ist hier ein Ganove in Verkleidung, er entspricht der Figur des Jokers, der vor allem aus den Batman Comics bekannt ist. Insbesondere durch die Verfilmungen mit Jack Nicholson als Joker. Als dessen Nachfolger behauptet sich Mike Marklove im grünen Schottenanzug (im 2. Teil dann erst in einem grauen, dann in einem schwarzen Anzug; Kostüme: Isabelle Hofmann) mit starker Präsenz und Stimme, charismatisch Frauen wie Männer zur Erreichung seiner Interessen um seine Finger wickelnd. Er hat ein weiß geschminktes Gesicht, der Mund ist fett mit rotem Lippenstift umrahmt, die Augen sind dunkel geschminkt. Diese maskenförmige Gesichtsoptik wurde auch für alle anderen Figuren übernommen, wenn auch in unterschiedlichen Ausführungen.
Zentrale Figur für Regisseur Gonzar ist weniger Mac the Knife als Polly, die Tochter der umtriebigen Bettler-Geschäftsleute Peachum (vehement: Sebastian Polag als Mr. Peachum; urkomisch überzogen: Lea Dunbar als Mrs. Peachum). Swana Rode gibt die Polly ausdrucksstark als naive Kindsfrau, die sich im Laufe des Stücks zur reifen Frau entwickelt. Dazu singt sie auch noch richtig gut. Dies tut auch das Ensemble bei den vielen Chornummern (Musikalische Leitung: Rudi and Angela Federspiel). Die leichten Tanzszenen von Gabrielle Staiger sorgen für zusätzliche Abwechslung, wie auch die frivolen Lustdamen auf ihrem plüschigen Sofa.
Zum Finale hin wird es gleichermaßen dramatisch und komisch. Ein großer Galgen steht für Mac the Knife bereit, Mrs. Peachum erscheint im schwarzen Kleid und elegantem Hut, während Polly desillusioniert ihr Holzpferd auf dem Arm trägt. Der Polizeichef Brown (Jürgen Stockhausen) kommt tatsächlich auf einem Pferd heran, mit langer Brittania-Schleppe.
Ein schöne Inszenierung, die sicher mit viel Arbeit in der Vorbereitung verbunden war. Das Ergebnis überzeugt auf ganzer Linie. Vorstellungen laufen noch bis zum 24. August im English Theatre Frankfurt. Im September ist die Inszenierung zudem in der Stadthalle Oberursel zu sehen (2. bis 4. September 11).
Markus Gründig, August 11
Der Frankfurter Jedermann
Theater Willy Praml
Besuchte Vorstellung: 29. Juli 11 (Premiere)
Nun hat auch Frankfurt wieder einen „Jedermann“. Nach der letztjährigen viel beachteten Produktion des Volkstheater Frankfurt – Liesel Christ im Archäologischen Garten vor dem Kaiserdom (mit Stars wie Ralf Bauer und Helmut Markwort, Regie: Wolfgang Kaus) eröffnete das Theater Willy Praml jetzt die neue Saison mit Hugo von Hofmannsthals bekanntestem Theaterstück (das inzwischen auch untrennbar mit Salzburg verbunden ist, wo es seit 1920 alljährlich im Sommer gespielt wird).
In der Naxoshalle im Frankfurter Stadtteil Bornheim wird „Jedermann“ gespielt, jedoch der „Frankfurter Jedermann“. Die Textfassung von Willy Praml und Michael Weber verwendet im Hauptteil den Hoffmannsthal’schen Text, erweitert das Stück aber um den Prolog „Everyone“ von Max Reinhardt (den dieser anlässlich einer Werkstattaufführung des „Jedermann“ mit der Theaterschule von Hollywood im Jahre 1940 gehalten hat) sowie um Fremdtexte die u.a. von Houellebecq, Warhol und Schlingensief stammen. Damit wird der Moralität vom Sterben des reichen Mannes (dessen Ursprünge bis ins späte Mittelalter zurückreichen) nicht nur ein zeitgemäßes Gewand, sondern auch eine umfassendere Bedeutung gegeben.
Aufführungen des Theater Willy Praml sind immer ein besonderes Highlight, nicht nur wegen des außergewöhnlichen Spielorts (der Industriekathedrale Naxoshalle), sondern auch durch die hohe künstlerische Umsetzung. So auch wieder bei dieser Neuproduktion, die die Kernfrage des Mysterienspiels „Wie hält es ein jeder mit dem Tod“ (und damit mit dem Leben) ganz ins Hier und Heute versetzt. In einer Stadt wie Frankfurt, die Sitz von 218 Kreditinstituten ist und in der es über 70.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Kredit- und Versicherungsgewerbe gibt, ist Geld ein omnipräsenter Faktor. Von daher passt der allegorische Jedermann insbesondere hierher. Geld und Reichtum sind relativ und deshalb geht es nicht um einen Multimillionär, sondern um einen Menschen wie du und ich, dem unverhofft die letzte Stunde geschlagen hat.
Die Tiefe der Naxoshalle wird bei dieser Produktion nur in der Form genutzt, dass eine Tribüne für das Publikum in der Hallenmitte steht und auf die eigentliche Publikumstribüne ausgerichtet ist. Diese ist zunächst durch eine Leinwand verdeckt, vor der ein DJ (im Trägershirt mit Totenschädel: Jakob Rullhusen; in weiteren Vorstellungen mit Gregor Praml alternierend) an einem Pult steht. In einem weiten Bogen zieht sich ein lila Teppichboden im Halbkreis zu weißen Seitenwänden. Lila hat sowohl in der römisch-katholischen als auch in der evangelischen Kirche eine zentrale Bedeutung, bei denen es als Sinnbild für Übergang und Verwandlung steht bzw. zur Vorbereitung auf hohe kirchliche Feiertage Verwendung findet. Somit hat Bühnenbildner Michael Weber, der auch voller Vitalität den Jedermann spielt, geschickt Klerikales mit Weltlichem verbunden. Denn auf die große Leinwand und die Seitenwände werden immer wieder zeitgemäße Luxussymbole projiziert (wie Bvlgari- und Breitling-Uhren oder auch Goldbarren und ein Brillantring). Der Körperkult unserer Zeit wird mit Bildern schöner Menschen (z.T. mit Sixpack) dargestellt. Für die Allmacht des Geldes stehen auch zwei golden glänzende Säulen im Bühnenbereich.
Die Loslösung von der starren Vorlage wird sodann auch gleich szenisch zu Beginn deutlich. Während das Publikum sich setzt, betreten die Darsteller schon nach und nach die Bühne, stets einen schwarzen Aktenkoffer (als persönliche Schatztruhe) in der Hand, der mit den unterschiedlichsten Dingen gefüllt ist. Wie mit einem Knochen (für die Vergänglichkeit), einer Pistole (für eine suizidale Selbstbestimmung), feinem Sand (für die ablaufende Lebenszeit) oder einer Perücke (für die Rollen, die wir je nach Umfeld spielen). Sinnbilder also schon von Anbeginn an. Diese Menschen könnten einem auch auf der Fressgass’ oder auf der Goethestrasse begegnen, sie sind mit eleganten Kleidern und Anzügen gekleidet. Groovige Clubsounds (von Gregor Praml und Jakob Rullhusen) sorgen für stimmungsvolle Eindrücke. Sie wechseln mit hochdramatischen Auszügen aus Mozarts „Requiem“. So wird junges wie nicht mehr ganz so junges Publikum angesprochen und zusätzlich auf einer emotionalen Ebene berührt. Einem einführenden Prolog folgt zwar die Rede Gottes, doch wird er hier nicht von einer Person dargestellt, sondern vom gesamten Ensemble. Verständlicher ist da schon die Figur des Todes und seines Gehilfen. Andreina Conti, erst im schwarzen Glitzerkleid, dann im engen Pullover mit Skelettaufdruck, gibt den Tod wendig und mit starker Präsenz. Die vergangene Tradition der Totentänze aufgreifend, ist der Gehilfe ein Tänzer (energiegeladen: Andreas Bach), der, zunächst im weißen Anzug, keck nicht nur seine vier Buchstaben zu schwingen weiß (später dann barfüßig dazu eine Sense). Während der arme Nachbar (Jakob Gail) sein Leid klagt, läuft parallel Aloe Blaccs „I need a dollar” vom Band. Höhepunkt im Teil vor der Pause ist der Totenreigen, bei dem die Festgesellschaft von rechts nach links über die Bühne zieht und ihre Gedanken zum Thema Tod und Ewigkeit wiedergibt. Jedermanns Mutter (resolut: Brigitte Korn) referiert nüchtern über die auftauchenden Insekten beim humanoiden Verwesungsprozess, andere über ihre Erfolglosigkeit, ihren Zeitmangel, Stress, über die Beschäftigung mit unnützen Dingen, die Glorifizierung des äußeren Scheins oder die Unfähigkeit, aus einer Opferrolle auszubrechen (und lieber alles zu ertragen).
Der Teil nach der Pause ist dichter und fokussierter. Auch hier ertönt moderne Musik, wie Pink Floyds „Money“. Der Totengräber (unnachgiebig: Christian Raabe) verrichtet geflissentlich sein Amt und Werke (Birgit Heuser, die in großer Wandlungsfähigkeit zuvor die Buhlschaft gab) klagt krank und zerbrechlich ihr Leid, während Glaube (im Trio: Reinhold Behling, Jakob Geil und Nicole Mierzwa) auf Jedermann einreden. Die hier gespielte Schlussszene folgt der 1. (Prosa-) Fassung aus dem Jahr 1905. Zunächst sieht es so aus, als würde Jedermann, ins gleißende Licht gehend, seinem Weg folgen. Doch aus der Seite kommt in Nebelschwaden, im roten Anzug und auf einem Bürostuhl thronend der Teufel höchstpersönlich. Regisseur Willy Praml selbst gibt ihn und dies mit furchterregenden Gebärden. Zum ergreifenden Finale öffnen sich auf der Galerie die Vorhänge und die Festgesellschaft blickt herab, auf den Seitenwänden blickt der Teufel interessiert junges Leben an und der zurückgekehrte Jedermann verkündet: „Erst, da ich sterbe, spür ich, dass ich bin“. Viel und starker Applaus für diesen „erweiterten“ Jedermann.
Markus Gründig, Juli 11