Internationale Maifestspiele Wiesbaden fulminant mit Jörg Widmanns Oper »Babylon« eröffnet

Babylon ~ Staatstheater Wiesbaden ~ Tammu (Leonardo Fernando), Inanna (Sarah Traubel) ~ Foto: Karl und Monika Forster

Die antike Stadt Babylon (griech.-lat. „Pforte der Götter“) im vorderen Orient gilt bis heute als Metapher für maßloses Laster, Verfall moralischer Wertkategorien und menschlicher Hybris. Dies liegt vor allem an den Erwähnungen in der Bibel: dem Turmbau zu Babel aus dem 1. Buch Moses (AT) und den Ausführungen in der Offenbarung des Johannes (NT). Der Dirigent, Klarinettist und Komponist Jörg Widmann (* 1973) und der Philosoph, Kulturwissenschaftler und Librettist Peter Sloterdijk (* 1947) haben über diese Stadt eine monumentale, große Oper geschrieben. Sie entstand als Auftragswerk der Bayerischen Staatsoper und wurde 2012 im Münchner Nationaltheater uraufgeführt. Sieben Jahre später folgte an der Berliner Staatsoper Unter den Linden die Uraufführung einer revidierten Fassung. Diese ist rund 30 Minuten kürzer und beinhaltet neue Szenen und Arien, stellt neue Zusammenhänge und Übergänge her. Das Hessische Staatstheater Wiesbaden ist erst das dritte Haus, das dieses Werk inszeniert. Hier eröffnete es fulminant die diesjährigen Internationalen Maifestspiele Wiesbaden.

Babylon
Staatstheater Wiesbaden
Chor, Chorsolist:innen des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Foto: Karl und Monika Forster

Eine Dreiecks-Liebesgeschichte gibt in Babylon den äußeren Rahmen für die Darstellung der Abkehr der Menschen von Gott und der Entwicklung zu einer modernen Gesellschaft. Dabei stehen zwei Figuren für die sich polarisierenden Richtungen. Inanna als Verkörperung der sinnlichen Liebe („Schwester Wollust“) und die Figur der Seele als Verkörperung einer platonischen Liebe.
Es geht weniger um eine göttliche Bestrafung, als um eine Welt, die aus den Fugen geraten ist und deshalb einer Ordnung bedarf. Diese schufen die Babylonier mit der Einführung von sieben Wochentage. Und die Zahl Sieben prägt diese Oper weit über ihre sieben Bilder hinaus, sie ist von ihr regelrecht durchwoben.

Babylon
Staatstheater Wiesbaden
Euphrat (Andrea Baker)
Foto: Karl und Monika Forster

Inszenierung ist zurückhaltend und geizt nicht mit kunstvollen Videoprojektionen

Die Inszenierung der jungen Regisseurin und Bühnenbildnerin Daniela Kerck ist eine wahre Bilderflut. Sie stellte sich in 2021 mit der deutschsprachigen Erstaufführung von Joshua Harmons Admissions am Staatstheater Wiesbaden vor. Für Babylon arbeitete sie eng mit der Videokünstlerin Astrid Steiner (Duo Luma.Launisch) zusammen. Große Mengen von ausgefallenem Bild- und Filmmaterial wurden hierfür verwendet, Sie sind harmonisch und kunstvoll eingebunden, sei es im Hintergrund oder auf einem stellenweise herabgelassenen Gazevorhang. Allein diese Projektionen, abstrakte und konkrete, sind einen Aufführungsbesuch wert.

Dabei zeigt sich Daniela Kerck ob der im Werk beschriebenen Freizügigkeit und der sexuellen Energie sehr zurückhaltend. Derartige Andeutungen erfolgen dezent wie im Kleinkindersonntagsvormittagsprogramm. Das trifft schon auf die, für die Wollust stehende, Inanna zu, die ein elegantes aber unprätentiöses Kleid trägt und zunächst genauso wenig verführerisch wirkt wie die Seele (diese trägt eine Art Lehrerinnenkostüm). Sie hat ja den jüdischen Tammu in ihren Bann gezogen, zeigt aber erst im Negligé als Schwester Wollust beim Besuch von Schwester Tod im 5. Bild ihre große Verführungsmacht.

Das Volk, seien es Babylonier oder Juden, tritt einheitlich in Schwarz auf (Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer). Die Unterschiede der multikulturellen Gesellschaft treten nicht so eindeutig hervor. Dafür der Gedanke, dass alle gleich sind, keine Gruppe ist besser als die andere.
Figuren wie die Genitalseptette („Die sieben Vulven“, „die sieben Phallol“) auf dem Neujahrsfest im 3. Bild werden äußerst vage angedeutet. Dies liegt auch daran, dass Daniela Kerck die Handlung in die Gegenwart verlegt hat. Handlungsort ist ein Flughafen. In einer Wartehalle kommen und gehen die Menschenmassen, fällt die Sintflut (Tsunami) eindrucksvoll über sie her (Bühne: auch Daniela Kerck). Im Hintergrund ist immer wieder ein Flughafenvorfeld und eine Startbahn zu sehen. Dort steigt weit hinten immer wieder Rauch auf, so als sei eine Rakete abgefeuert worden oder hätte eingeschlagen.

Babylon
Staatstheater Wiesbaden
Der Tod (Otto Kathmeier), Inanna (Sarah Traubel), Chor
Foto: Karl und Monika Forster

Klanggewalten und grelle Spitzentöne

Jörg Widmanns Musik ist sehr vielseitig. Einerseits gibt es eine Vielzahl an äußerst expressiven und sich überlagernden Tönen, dann wieder zarte Gespinste für innige Momente, selbst Choral- und Marschanklänge fehlen nicht. Zu den berührenden Szenen zählt Inannas Plädoyer für Tammu, das von einer Glasharmonika begleitet wird. Das Orchester ist groß besetzt, Musiker spielen zusätzlich aus den Proszeniumslogen und intensivieren somit die Klangeindrücke. Sie stellen dem Verlag Schott Musik zufolge den eigentlichen Ort der babylonischen Sprachverwirrung dar.

Babylon
Staatstheater Wiesbaden
Der Tod (Otto Kathmeier), Chor
Foto: Karl und Monika Forster

Riesig ist auch das Aufgebot an Chorsänger:Innen. Albert Horn hat nicht nur den Chor und die Chorsolisten:innen des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden hervorragend vorbereitet, sondern steht auch am Pult des Hessischen Staatsorchesters Wiesbaden. Mit scheinbarer Leichtigkeit führt er alle Beteiligte sicher und souverän durch die anspruchsvolle und überbordende Partitur.
In der fordernden Rolle der Inanna gelingt es der Sopranistin Sarah Traubel stark für sich einzunehmen. Michelle Ryan gibt eine zurückhaltende, der Rolle entsprechenden Seele, die ihren Schmerz aus sich herausschreit. Stimmlich und körperlich vital zeigt sich der Tammu des Tenors Leonardo Ferrando. Majestätisch wirkt der klagende Euphrat der Andrea Baker, erhaben der Priesterkönig des Claudio Otelli. Die interessanteste Figur stellt der androgyne Tod des Otto Katzameier dar. Wie er sich mit großem körperlichen Einsatz windet, Tammu für 50 Jahre einen Aufschub zu gewähren, ist großartig. Leichtfüßig präsentiert sich der Skorpionmensch des Countertenors Philipp Mathmann als Weltenreisender. Stella An betört als ein Bote und als das Kind.

Am Ende der knapp dreistündigen Aufführung (inkl. einer Pause) stürmischer und lang anhaltender Beifall und Standing Ovations, auch für das Regieteam und die bei der Premiere anwesenden Jörg Widmann und Peter Sloterdijk.

Markus Gründig, Mai 22


Am 1. Mai 22 wurde auch die um ein Jahr verschobene Ausstellung „125 Jahre Internationale Maifestspiele Wiesbaden“ eröffnet. Die Ausstellung des Stadtmuseums am Markt (sam) ist noch bis zum 3. Juli 2022 zu Gast in den Kurhauskolonnaden am Bowling Green.


Babylon

Oper in sieben Bildern
Auftragswerk der Bayerischen Staatsoper

Von: Jörg Widmann
Libretto: Peter Sloterdijk

Uraufführung: 27. Oktober 2012 (München, Nationaltheater)
Uraufführung Revision: 9. März 2019 (Berlin, Staatsoper Unter den Linden)

Premiere am Staatstheater Wiesbaden: 1. Mai 2022 (Großes Haus / Eröffnung der Internationalen Maifestsiele 2022; revidierte Fassung)

Musikalische Leitung: Albert Horne
Inszenierung & Bühne: Daniela Kerck
Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer
Choreografie: Sommer Ulrickson
Video: Astrid Steiner
Chor: Albert Horne
Licht: Klaus Krauspenhaar
Dramaturgie: Anika Bárdos, Wolfgang Behrens

Besetzung:

Inanna: Sarah Traubel
Die Seele: Michelle Ryan
Tammu: Leonardo Ferrando
Priesterkönig: Claudio Otelli
Euphrat: Andrea Baker
Der Tod: Otto Katzameier
Skorpionmensch: Philipp Mathmann
Ezechiel: Thomas Maria Peters
Der Priester: Ralf Rachbauer
Ein Bote / Das Kind: Stella An
1. Pförtner: David Krahl
Der Schreiber / 2. Pförtner: Florian Küppers
Septett: Sonja Grevenbrock, Karolina Liçi, Maike Menningen, Tianji Lin, Julian Habermann, David Krahl, Florian Küppers
Tänzer:innen: Gabriele Ascani. Guillermo De la Chica Lopez, Carla Peters, Josefine Rau, Mar Sanchez Cisneros, Jonathan Schmidt, Felix Chang

Chor & Chorsolist:innen des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Statisterie des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden

staatstheater-wiesbaden.de