Bundesweit gibt es zahlreiche Musik- und Theaterfestivals, die im Sommer zu einem Besuch einladen. Beispielsweise das Schleswig-Holstein Musik Festival oder das Rheingau Musik Festival. Im August und September eines jeden Jahres findet im Ruhrgebiet die Ruhrtriennale statt. Ein internationales Festival der Künste, das offen ist für Musiktheater, Schauspiel, Tanz, Performance, Musik und Bildende Kunst. Die jeweilige Intendanz wechselt alle drei Jahre. Aktuell wird sie von Barbara Frey geleitet, ab 2024 von Ivo van Hoveie.
Die Veranstaltungen finden in sanierten Industriedenkmälern der Region statt. Wie beispielsweise im Landschaftspark Duisburg-Nord, im PACT Zollverein Essen oder in der Zeche Zollern Duisburg. Ein beliebter Spielort ist auch die Jahrhunderthalle in Bochum. Sie wurde einst vom Bochumer Verein als Gebläsemaschinenhalle für Hochöfen genutzt. Hier inszenierte der aus Russland stammende Dmitri Tcherniakov jetzt die Oper Aus einem Totenhaus von Leoš Janáček. Der international tätige Regisseur machte 2021 bereits mit seiner Inszenierung von Richard Wagners Der fliegende Holländer bei den Bayreuther Festspielen auf sich aufmerksam. In Bochum zeichnet er für Regie und Bühne verantwortlich.
Jeder kann zum Mörder werden
Janáčeks letzte Oper Aus einem Totenhaus beruht auf der Prosaarbeit Aufzeichnungen aus einem Totenhaus von Fjodor M. Dostojewski. Erzählt werden fragmenthaft Erlebnisse von Insassen eines Gefangenenlagers, Geschichten von Kriminellen und Mördern. Dabei, und das ist das Besondere an Tcherniakovs Umsetzung, bringt er das Geschehen dem Publikum ganz nah, hebt für ein Teil davon sogar die vierte Wand auf. Wenn Janáček mit dem Motto »In jedem Geschöpf ein Funke Gottes« an die Mitmenschlichkeit appelliert, zeigt Tcherniakov, dass jeder Mensch auch zu allem Schlechtem fähig ist und zum Äußersten getrieben sogar zum Mörder werden kann.
Unmittelbare Nähe zu den Sängern
Für die Inszenierung wurde ein aufwendiges Bühnenbild geschaffen, das zugleich viel und nichts ist. In die lange Halle wurde mit sehr vielen Gerüsten eine abstrakte Gefängnisanlage mit drei Innenhöfen installiert. Gefängniszellen gibt es keine, dafür drei Galerien, von denen das Geschehen beobachtet werden kann (die unterste, als Seitenhof bezeichnet, ist nur leicht erhöht). Circa ein Viertel der Zuschauer kann das Geschehen sogar auf der Spielebene im Gefängnishof erleben, in unmittelbarer Nähe zu den Sängern. Es erweitert damit gewissermaßen die Insassenzahl der sibirischen Gefängnisstation Ostrogg am Irtysch, dem Handlungsort der Oper. Eine echte Vermischung zwischen Publikum und den normal gekleideten Sängern (Kostüme: Elena Zafiseva) gibt es aber nicht. Am Ende vom ersten Akt knien sich die Insassen furchtsam vor den Besuchern nieder, das ist der einzige unmittelbar nahe Moment. Sitzplätze gibt es für niemanden. Deshalb ist die Inszenierung nicht für jeden geeignet (bei der Premiere gab es sogar einen medizinischen Notfall, eine Frau brach zusammen und musste von Sanitätern herausgetragen werden). Allerdings bringt das Stehen über knapp zwei Stunden auch Vorteile, denn die Beine lassen sich leichter vertreten als wäre man in einem Stuhl verhaftet. Und für jeden Akt wird auch ein anderer Gefängnishof betreten. Das sorgt für eine gewisse Abwechslung, auch wenn sich die Gefängnishöfe an sich nicht unterscheiden. Hinzu kommen ein paar Hocker und Tische, am Ende vom ersten Akt fährt imposant ein LKW durch die Höfe.
Testosteron übersteuerte Gefangenenschar
Ruhige und poetische Momente sind in Dmitri Tcherniakovs Inszenierung rar. Die Gefangenen sind eine wilde Testosteron übersteuerte Schar. Schon während der Ouvertüre fallen sie brutal übereinander her. Brutalität ist Alltag, allgegenwärtig und die eizige Möglichkeit, Nähe aufzubauen. So gibt es zahlreiche Kampfszenen. Selbst das Spiel im Spiel, die Theateraufführung im 2. Akt, „Die Pantomime der schönen Müllerin“, wird zur großen Schlammschlacht (mit nackten Oberkörpern).
Auf gesanglicher Ebene wird Außerordentliches geboten. Dabei werden die Sänger, es ist eine rein männliche Besetzung, vom Chor der Janáček-Oper des Nationaltheaters Brünn (Leitung: Martin Buchta) unterstützt. Alle zeigen eine große darstellerische Präsenz und vokale Fülle.
Bariton Johan Reuter gibt den Adligen Gorjanšikov, der sich mühsam seinen Platz unter den Häftlingen erkämpfen muss. Tenor Bekhzod Davronov ist der junge Aljeja mit Krücke und Klumpfuss, Gorjanšikos Bezugsmensch, der ihm Lesen und schreiben beibringt, von den anderen aber wird er ständig gequält. Den rauen rücksichtslosen und rauen Luka (später erkannt als Filka Morozov) gibt Tenor Stephan Rügamer. Eine eindrucksvolle Leistung zeigt Bariton Leigh Melrose als markanter Šiškov. Seine lange Erzählung im 3. Akt geht unter die Haut.
Auf musikalischer Ebene sorgen die Bochumer Symphoniker unter der Leitung von Dennis Russell Davies für eine korrespondierende dramatische Stimmung. Sie spielen von der Seite und können von den linken Galerien aus gut beobachtet werden. Ob der starken Fokussierung auf das Geschehen, gerät der Höreindruck bedauernswerterweise etwas in den Hintergrund.
Verzichtet wurde auf die Episode mit dem Adler, dessen Flügel gebrochen und am Ende geheilt sind. Äquivalent zum gewaltvollen Auftakt, ist auch das Ende. Gorjanšiko hat seine Entlassung vernommen, bleibt aber im Gefängnis. Sein schmerzvolles Aufschreien ob der erfahrenen Ungerechtigkeit und der staatlichen Willkür beendet die Aufführung. Bei der Premiere gab es intensiven und langanhaltenden Applaus für alle Beteiligten.
Markus Gründig, September 23
Aus einem Totenhaus
(Z mrtvého domu)
Oper in drei Akten
Von: Leoš Janáček (1854 – 1928)
Libretto: Leoš Janášek nach Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Uraufführung: 12. April 1930 (Brünn, Nationaltheater)
Premiere bei der Ruhrtriennale: 31. August 23 (Jahrhunderthalle Bochum)
Musikalische Leitung: Dennis Russell Davies
Regie, Bühne: Dmitri Tcherniakov
Kostüme: Elena Zafiseva
Licht Design: Gleb Filshtinsky
Live Action Director: Ran Arthur Braun
Sound Design: Thomas Wegner
Associate Set Design: Danila Travin
Dramaturgie: Barbara Eckle
Regieassistenz: Jeël Lauwers
Musikalische Studienleitung: Daniel Linton-France
Besetzung:
Alexandr Petrovič Gorjanšikov: Johan Reuter
Aljeja, ein junger Tatar: Bekhzod Davronov
Šiškov: Leigh Melrose
Luka (Filka Morozov): Stephan Rügamer
Skuratov: John Daszak
Šapkin: Alexey Dolgov
Der Alte: Neil Shicoff
Čerevin, Fröhlicher Sträfling: Elmar Gilbertsson
Cekunov, Sträfling: Steghan Bootz
Platzkommandant: Peter Lebert
Kleiner Sträfling, Verbitterter Sträfling: Lluís Calvet i Pey
Kedril, Junger Sträfling: Alexander Fedorov
Sträfling a, Don Juan (Brahmane), Teufel: David Ngkl
Großer Sträfling, Sträfling 3, Schauspieler: Rubin Neck
Sträfling mit Adler, Betrunkener Sträfling, Sträfling 2: Alexander Kravets
Koch, Sträfling (b), Schmied: Anatelii Molodets
Dirne: Vladyslav Shkarupilo
Chor der Janáček-Oper des Nationaltheaters Brno
Bochumer Symphoniker