Haukur Tomassons Musiktheater »Gudruns Lied« am Staatstheater Mainz

Gudruns Lied ~ Staatstheater Mainz ~ Gudrun (Bildmitte: Nadja Stefanoff), Wärterinnen (Lucie Ceralová und Dorin Rahardja) ~ © Andreas Etter
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Ob in der Literatur, in der Musik oder in der Bildenden Kunst, der Nibelungenstoff erfuhr in vielen Bereichen eine Rezeption. Die Ursprünge der Nibelungensage reichen bis ins 5 Jahrhundert nach Christi zurück. In der Spätantike siegten am Rhein römische und hunnische Truppen über Burgunden. Der brutal erkämpfte Sieg sorgte im germanischen und skandinavischen Raum für Sagen und Mythen. Wie in der in altisländischer Sprache verfassten Götter- und Heldensammlung Edda aus dem 13. Jahrhundert. Diese diente der dänischen Opernkompanie Opera Nord unter Louise Beck als Basis für eine Zusammenarbeit mit dem isländischen Komponisten Haukur Tomasson. Genauer gesagt ging es speziell um die Figur der Guðrún Gjúkadóttir. Diese hat aus Rache ihre beiden Kinder getötet und ihrem Mann deren Herzen zum Essen gegeben und ihn dann getötet. Haukur Tomasson komponierte darüber Gudruns Lied, das Werk wurde 1996 in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen uraufgeführt. Jetzt ist es erstmals in Deutschland zu sehen (in einer erweiterten Fassung). Das Staatstheater Mainz wollte es bereits im Frühjahr 2021 zeigen. Aufgrund der Corona-Einschränkungen kam es zunächst nur zu einer Aufführung ohne Publikum, dafür mit Ton- und Bildaufzeichnung. Bei Anwesenheit des Komponisten Haukur Tomasson konnte jetzt die Premiere mit Publikum gefeiert werden.

Erweiterte Fassung mit Zwischentexten für die noch Lebenden

Gudruns Lied
Staatstheater Mainz
Gudrun (Nadja Stefanoff), Guttorm (Vicent Doddema)
© Andreas Etter

Gudruns Lied ist ein Rückblick auf das grauenhafte Geschehen. Dabei geht es nicht primär um die Gräueltaten, sondern um die Frage, wie es dazu kommen konnte und wie viel Schuld Gudrun trägt. Neben Gudrun singen diejenigen, die eigentlich längst tot sind. Eigens für die Mainzer Fassung schrieb die Dramaturgin, Dramatikerin und Schriftstellerin Hannah Dübgen Zwischentexte. Personen, die bisher musikalisch nicht eingebunden waren, also diejenigen, die noch leben, kommen zu Wort. Wie die strenge Mutter Grimhild (Monika Dortschy) oder der sich leidenschaftlich für seine Schwester einsetzende Guttorm (Vincent Doddema).

Gudruns Lied
Staatstheater Mainz
Statisterie, Brynhild (Verena Tönjes), Gudrun (Nadja Stefanoff), Norne (Alin Deleanu), Atli (Brett Carter)
© Andreas Etter

Gefängniszelle und Gerichtssaal

Als Ort für Gudruns Rückblick wählte Regisseurin Elisabeth Stöppler einen Gerichtssaal, nach ihrer Selbstanzeige befindet sich Gudrun in Untersuchungshaft und reflektiert das vergangene Geschehen. Valentin Köhlers Bühne zeigt ob seiner Schrägen einen klaustrophobisch anmutenden Raum mit einer kleinen Gefängniszelle im Hintergrund. Die Kernfakten der Gerichtsprotokolle und Obduktionsberichte werden auf die Rückwand projiziert, wie auch die Dramatik unterstützende Bilder (Video: Fabio Stoll, Andreas Etter). Das schlichte Weiß der Bühne dominiert durch die ausgefallenen Kostüme von Susanne Maier-Staufen weniger stark. Während Gudrun und ihre Wärter:innen noch schlichte bläuliche Gefängniskleidung tragen, kommt die Brutalität und Rohheit der in ihrer Erinnerung Wiederauferweckten optisch stark zur Geltung (in Form von Hosen und Mäntel aus Fell und bizarren Gesichtsmasken).

Gudruns Lied
Staatstheater Mainz
Gudrun (Nadja Stefanoff), Grimhild (Monika Dortschy), Guttorm (Vicent Doddema)
© Andreas Etter

Gesang in Altisländisch

Eine Rarität stellt der Gesang dar, erfolgt er doch in Altisländisch. Zusammen mit der vielschichtigen Musik, die zwischen zarten Selbstreflexionen und expressiven Ausbrüchen changiert, entstehen faszinierende Klangeindrücke: schroffe Töne, ein nervöses Klirren, bedrohlich, gespenstisch anmutend und sphärisch. Durch die fremde Sprache bleibt genügend Distanz zum grauenvollen Geschehen, gleichzeitig ergreift und fesselt jede einzelne Szene. Dafür sorgt nicht zuletzt Robert Houssart am Pult des kammermusikalisch besetzten Philharmonischen Staatsorchester Mainz. Houssart ist Spezialist für Neue Musik und Leiter Dirigent der Royal Danish Opera in Kopenhagen. Auch Stille durch kurze Pausen ist ein wichtiger Bestandteil der Inszenierung, die bereits schweigend beginnt.

In der Titelrolle ist Sopranistin Nadja Stefanoff zu erleben, die aktuell auch als Fedora in Umberto Giordanos gleichnamiger Oper an der Oper Frankfurt zu erleben ist (und nach Graz in Kürze am Tiroler Landestheater Innsbruck als Marta in Mieczysławs Weinsteins Die Passagierin).

Obwohl die Produktion für eine Aufführung in 2021 unter strengen Corona-Auflagen kleiner geplant war, sind jetzt knapp 30 Personen auf der Bühne auszumachen. Dazu zählen u. a. Verena Tönjes als Rivalin Brynhild, Brett Carter als verhasster Ehemann Atli und Alin Deleanu als dessen Bote Knefrodur (und Norne). Für die wenige Tage vor der Premiere erkrankte Dorin Rahardja (Kostbera/Norne) hatte Maren Schwier kurzfristig deren Rolle übernommen.

Am Ende bleibt vor allem Guðrún Gjúkadóttirs Äußerung „Wer noch lebt, mache es anders, besser.“ in Erinnerung. Ein stets sich zu vergegenwärtigender Vorsatz.

Lang anhaltender und intensiver Applaus.

Markus Gründig, April 22


Gudruns Lied

(Gudrun’s 4th Song)

Von: Haukur Tómasson (1996)
Musiktheater nach der Edda-Dichtung mit Zwischentexten von Hannah Dübgen
Fassung von Elisabeth Stöppler

Premiere am Staatstheater Mainz: Karfreitag, 15. April 22 (Großes Haus)
In altisländischer und deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln
Voraufführung ohne Publikum: 23. Januar 2021 (Übertragung auf SWR2)

Musikalische Leitung: Robert Houssart
Inszenierung: Elisabeth Stöppler
Bühne: Valentin Köhler
Kostüme: Susanne Maier-Staufen
Licht: Ulrich Schneider
Video: Fabio Stoll, Andreas Etter
Chor: Sebastian Hernandez-Laverny
Dramaturgie: Christin Hagemann
Dramaturgische Mitarbeit: Jörg Vorhaben
Einstudierung der Knabensolisten des Mainzer Domchores: Jutta Hörl

Besetzung:

Gudrun: Nadja Stefanoff
Brynhild: Verena Tönjes
Atli: Brett Carter
Knefrodur, Norne: Alin Deleanu
Kostbera, Norne: Dorin Rahardja / Maren Schwier
Glaumvör, Norne: Lucie Ceralová
Atlis Söhne: Jonathan Menzel / Marian Brantzen, Jonas Freitag / Friedrich Seelmann, Emil Mosblech / Kilian Krams*
Grimhild: Monika Dortschy
Guttorm: Vincent Doddema
Svanhild: Leandra Enders

*Mitglieder des Mainzer Domchors
Statisterie des Staatstheater Mainz
Herrenchor des Staatstheater Mainz
Philharmonisches Staatsorchester Mainz


staatstheater-mainz.de