

Regisseur und Bühnenbildner Philipp Stölzl ist zurück in Bregenz. Nach seiner gefeierten Umsetzung von Verdis Rigoletto bringt er jetzt eine Oper auf den See, mit der wohl die wenigsten gerechnet haben: Carl Maria von Webers Singspiel Der Freischütz. Es ist zugleich die letzte Neuinszenierung vom Spiel auf dem See während der Intendanz von Elisabeth Sobotka. Sie übernimmt ab der Spielzeit 2024/25 die Leitung der Berliner Staatsoper Unter den Linden (an der Seite von Christian Thielemann als Generalmusikdirektor). Ihre Nachfolgerin in Bregenz, die gebürtige Norwegerin Lilli Paasikivi, tritt ihr Amt mit der Spielzeit 2025 an.
Carl Maria von Webers Freischütz gilt als Inbegriff der deutschen romantischen Oper. Im Mittelpunkt stehen gewöhnliche Menschen, keine antiken Helden oder Könige. Einprägsame und emotionsgeladene Melodien und eine Vielzahl an packenden Arien, die zur Entstehungszeit wahre Hits waren, zeichnen sie aus. Hector Berlioz, der für die Pariser Uraufführung des Freischütz als Grand opéra Rezitativen für die gesprochenen Texte komponierte, war die Oper „ein Meisterwerk an Poesie, Originalität und Leidenschaft“.
Inzwischen taucht sie weniger häufig in den Spielplänen auf. Dies bestätigt auch die jährliche Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins. Die Inszenierung der Bregenzer Festspiele macht sie jetzt einem großen Publikum bekannt. Schließlich besuchen viele eine Aufführung auf der riesigen Seebühne, die sonst keinen Weg in ein Opernhaus finden.

Bregenzer Festspiele
© Bregenzer Festspiele / Anja Koehler (anjakoehler.de)
Zeitgemäße Fassung mit Kürzungen und Erweiterungen
Die Textvorlage für Friedrich Kinds Libretto stammt aus der gleichnamigen Erzählung von August Apel (aus der mit Friedrich Laun erstellten Sammlung Gespensterbuch von 1810).
Handlungsort ist ein Dorf im Böhmen nach dem Dreißigjährigen Krieg. Im Mittelpunkt steht der Jägerbursche Max. Er hat Druck, einen meisterhaften Schuss abgeben zu müssen. Nur so kann er Agathe, die Tochter des Erbförsters Kuno, zur Frau nehmen. Die Originalerzählung hat kein Happy End, Agathe stirbt. Die Opernfassung bietet hingegen ein solches. Philipp Stölzls Inszenierung spielt wiederum mit den Publikumserwartungen hinsichtlich eines Happy Ends und bringt die in die Jahre gekommene Geschichte näher an die Gegenwart. Erfahrung mit dem Freischütz hat er bereits, 2005 gab er damit sein Debüt als Opernregisseur (zur Spielzeiteröffnung 2005/06 am Theater Meinigen).
Jan Dvořák hat für die Bregenzer Festspiele eine eigene, überaus couragierte, Textfassung erstellt (nach einem Konzept von Philipp Stölzl). Dies erfolgte nicht zuletzt deshalb, weil manche sprachliche Formulierungen aus der Zeit gefallen sind und antiquierte Rollenbilder heute unglaubwürdig wirken. In der Folge ist Max hier ein sich in seine Schreibkünste flüchtender Sonderling. Um dem drohenden Unheil, beim Probeschuss zu versagen, zu entkommen, soll er sich doch einfach krankschreiben lassen. Und das Agathe ihn so eindringlich liebt, hat hier einen sehr pragmatischen Grund: Sie ist von ihm schwanger. So gibt es allein auf inhaltlicher Ebene zahlreiche Überraschungen.
Eine außergewöhnlich große Erweiterung erfuhr die Figur des schwarzen Jägers Samiel, hin zu einem überaus agilen und reimfreudigen Conférencier mit mephistophelischen Ambitionen und ironisch-satirischen Kommentaren (fast omnipräsent, herausragend und am Ende vom Publikum gefeiert: Moritz von Treuenfels).

Bregenzer Festspiele
© Bregenzer Festspiele / Mathias Leidgschwendner
Creepy Winterlandschaft und opulenter Theaterzauber
Spektakuläre und überdimensionale Bühnenbilder zeichnen seit langem die Bregenzer Festspiele aus. So wie zuletzt ein Teilstück der Chinesischen Mauer (Turandot), ein in die Luft geworfenes Kartenspiel (Carmen), ein Clownskopf (Rigoletto) oder ein riesiges Blatt Papier (Madame Butterfly). Beim Freischütz gibt es keine singuläre ikonische Bühnenskulptur. Dennoch ist die Bühne, für die ebenfalls Philipp Stölzl verantwortlich zeichnet, außergewöhnlich und spektakulär. In der Ausgestaltung haben sich die Bregenzer Festspiele ob ihrer Detailverliebtheit wieder einmal selbst übertroffen. Es gibt schier unendlich viel zu entdecken, da reicht ein Besuch allein nicht aus. Das gilt auch für die vielen unterschiedlichen Kostüme (Kostüme: Gesine Völlm).
Die Bühne ragt bis an die erste Zuschauerreihe heran. Hierfür wurde eine 1.200 m² große Lagune dem jüngst neu errichteten Bühnenkern (nunmehr eine zweistöckige Anlage) vorgelagert. Acht abgebrannte und windschiefe Häuser in unterschiedlichen Größen deuten ein zerstörtes Dorf an. Über ein Mühlrad plätschert Wasser. Die Spitze eines Kirchturms und Baumgerippe ragen aus einer schneebedeckten Hügellandschaft und einem Sumpf hervor. Ein großer Mond scheint im Hintergrund.
Die creepy Winterlandschaft wartet mit zahlreichen Überraschungen auf. Der Sumpf kann nach Bedarf blubbern, leuchten und rauchen. Selbst Feuer ist nicht vor ihm sicher. Die meisten Stellen sind rund 25 Zentimeter tief. Einige Stellen sind tiefer und es gibt für den Zuschauer nicht sichtbare Verbindungsgänge unter dem Wasser. Die Darsteller:innen tragen präparierte Schuhe und Neoprenanzüge unter ihren Kostümen.
Der Chor der Brautjungfern erscheint hier als ein Nixenballett und es gibt opulenten Theaterzauber. So steigt beispielsweise ein großes Pferdegerippe aus den Fluten empor, ein Drachenkopf stößt Feuersbrünste aus und Agathes Bett gerät in Schieflage. Kriegsversehrte steigen aus den dunklen Fluten empor (Wired Aerial Theatre; Stunt- und Bewegungsregie: Wendy Hesketh-Ogilvie). Die ohnehin vorhandene geisterhafte Grundstimmung (Licht: Philipp Stölzl, Florian Schmitt) wird durch kunstvoll zugespielte Geräusche erweitert (Rabengekrächze, Gewitter etc; Toneffekte: Jan Petzold).

Bregenzer Festspiele
© Bregenzer Festspiele / Anja Koehler (anjakoehler.de)
Der Klangeindruck ist eindrucksvoll
Wegen der hohen Textlastigkeit und den gebotenen Effekten und Optiken steht die musikalische Seite vor der Herausforderung, sich behaupten zu mnüssen. Die Wiener Symphoniker spielen unter der Leitung von Enrique Mazzola (Conductor in Residence) aus dem Festspielhaus heraus mit starker Emphase. Das szenische Geschehen wird von ihnen musikalisch mit bedrohlich brausenden Klangfarben untermauert. Von der rechten Bühnenseite unterstützt eine kleine Combo, bestehend aus Cembalo, Kontrabass und Akkordeon, die Dialogszenen (Zusatzmusik: Ingo Ludwig Frenzel).
Die Sänger:innen sind sehr präsent. Dennoch droht der Kern des Werks, Webers wundervolle Musik, etwas in den Hintergrund zu geraten. Der Klangeindruck an sich ist dank des Bregenz Open Acoustics-Systems nach wie vor eindrucksvoll.
Wie in Bregenz üblich, wurden die Partien mehrfach besetzt, schließlich werden im Sommer 28 Aufführungen gespielt. Mauro Peter nimmt als strauchelnder Max für sich ein, Nikola Hillebrand als um ihr Überleben kämpfende Agathe. Katharina Ruckgaber ragt als Ännchen stark hervor. Liviu Holender gefällt als Fürst Ottokar, Christof Fischesser als finstrer Kaspar und Maximilian Krummen als Nebenbuhler Kilian. Erhaben ist der Erbförster Kuno des Franz Hawlata. Abgerundet wird das Ensemble von Andreas Wolf (Eremit), Theresa Gauß und Sarah Kling (Brautjungfern). Der Chor (Bregenzer Festspielchor und Prager Philharmonischer Chor; Chorleitung: Lukáš Vasilek, Benjamin Lack), die Statisten und die Mitglieder von Wired Aerial Theatre bilden als Dorfgemeinschaft eine harmonische Einheit.
Am Ende des actionreichen, bildgewaltigen und ungewöhnlichen Abends viel Applaus.
Karten für Vorstellungen im August sind gegenwärtig noch verfügbar. Zudem wird der Freischütz auch im kommenden Jahr gespielt werden.
Markus Gründig, Juli 24
Der Freischütz
Romantische Oper in drei Aufzügen
Von: Carl Maria von Weber (1786 – 1826)
Libretto: Friedrich Kind nach der gleichnamigen Erzählung von August Apel (1810)
Uraufführung: 18. Juni 1821 (Berlin, Königliche Schauspielhaus)
Premiere bei den Bregenzer Festspielen: Mittwoch, 17. Juli 24 (Seebühne)
Dialogfassung: Jan Dvořák nach einem Konzept von Philipp Stölzl
Mit Zusatzmusik von: Ingo Ludwig Frenzel
Musikalische Leitung: Enrique Mazzola, Erina Yashima
Inszenierung | Bühne: Philipp Stölzl
Kostüme: Gesine Völlm
Licht: Philipp Stölzl, Florian Schmitt
Stunt- und Bewegungsregie: Wendy Hesketh-Ogilvie
Mitarbeit Bühne: Franziska Harm
Chorleitung: Lukáš Vasilek, Benjamin Lack
Ton: Alwin Bösch, Clemens Wannemacher
Toneffekte: Jan Petzold
Dramaturgie: Olaf A. Schmitt
Gesamt-Besetzung (Rotationssystem):
Ottokar: Liviu Holender, Johannes Kammler
Kuno (Erbförster): Franz Hawlata, Raimund Nolte
Agathe: Mandy Fredrich, Nikola Hillebrand, Elissa Huber
Ännchen: Hanna Herfurtner, Gloria Rehm, Katharina Ruckgaber
Kaspar: Christof Fischesser, David Steffens, Oliver Zwarg
Max (Jägerbursche): Thomas Blondelle, Mauro Peter, Rolf Romei
Samiel (schwarzer Jäger): Moritz von Treuenfels, Niklas Wetzel
Ein Eremit: Frederic Jost, Andreas Wolf
Kilian: Maximilian Krummen, Philippe Spiegel
Brautjungfern: Theresa Gauß, Sarah Kling, Sarah Schmidbauer
Wired Aerial Theatre
Statisterie der Bregenzer Festspiele
Bregenzer Festspielchor
Prager Philharmonischer Chor
Wiener Symphoniker
bregenzerfestspiele.com