

Nach der Uraufführung im September 1957 im New Yorker Winter Garden Theatre war dem Musical West Side Story mit „nur“ 732 Aufführungen zunächst kein übergroßer Erfolg beschieden. Trotz überschäumende Lebensfreude und großen Hoffnungen auf eine prosperierende Zukunft zeigend, bietet das Musical nur wenige heitere Momente. Dafür, und ungewöhnlich für das Genre zur damaligen Zeit, soziale Konflikte, drei Tote (Riff/Bernado/Tony) und kein Happy End. Entstanden ist es aus einer Idee von Jerome Robbins (1949), das Buch verfasste Arthur Laurents und kein geringerer als Stephen Sondheim die Songtexte.
Der weltweite Erfolg stellte sich erst nach der ersten Filmversion von 1961 ein (10 Oscars). Inzwischen gilt West Side Story als ein Schlüsselwerk der Musicalgeschichte. Dies nicht wegen seiner vielen populären Melodien (wie „Maria“, „Tonight“, „America“ und „Somewhere“), sondern wegen der ausdrucksstarken Musik, die u. a. Elemente des Jazz, der Tanzmusik und der italienischen Oper beinhaltet. Der Komponist Leonard Bernstein sah Musik stets als unmittelbares Abbild des menschlichen Lebens. Seine Musik hat Ernsthaftigkeit und Realitätsnähe. West Side Story gilt als sein Opus magnum, das Konventionen des Genres überschritt. Schauspiel, Musik und Tanz haben darin eine gleich hohe Bedeutung, alle sind handlungstragende Elemente. Die Musik drückt das Geschehen plastisch aus. Die anspruchsvollen Tanzszenen sind mehr als bloße Bewegungen, sie haben eine dramatische Funktion.
Überschreibung von »Romeo und Julia«
West Side Story ist eine Überschreibung von Shakespeares Tragödie Romeo und Julia. Die Handlung spielt zur Entstehungszeit des Musicals und umfasst eine Zeitspanne von lediglich 31 Stunden. Statt dem italienischen Verona findet alles Geschehen in der Upper West Side in New York statt. Wo heute das Lincoln-Center (Met Opera) steht, gab es früher Slums. Mit erbitterten Kämpfen zwischen Puerto Ricanern, Schwarzen und armen Weißen. Mittendrin befindet sich mit Maria und Tony ein junges Liebespaar, das gegen Vorurteile und verfeindete Straßengangs zu kämpfen hat.

Burgfestspiele Bad Vilbel
Bernardo (Aliosha Jorge Ungur), Riff (Stefan Preuth), Tony (Louis Dietrich)
© Eugen Sommer
Aufführungen von West Side Story waren lange Zeit wegen einer restriktiven Rechtevergabe und ebensolcher Vorgaben (wie Übernahme der Originalchoreografie) selten. Dies ist inzwischen anders. So ist es in diesem Sommer u. a. auf Freilichtbühnen in Eutin, Luisenburg, Schwäbisch Hall und in Bad Vilbel zu sehen (komplett auf Deutsch).
Dabei ist West Side Story allein schon wegen der großen Zahl an Darsteller und Musiker eine Herausforderung für jeden Veranstalter. Auch und gerade für die Burgfestspiele Bad Vilbel. Die zählen zwar ob der Vielzahl an Aufführungen zu den größten Sommertheatern, haben aber nur begrenzte Platzverhältnisse. Zudem werden während des Sommers sieben Stücke wechselnd gespielt, ein aufwendiges Bühnenbild dabei nicht möglich.
Energiegeladenes, spiel- und tanzfreudiges Ensemble
Die Inszenierung von Christian H. Voss zieht von Beginn an in Bann und trumpft mit einem überaus energiegeladenen, spiel- und tanzfreudigen Ensemble auf. Voss arbeitet seit 2010 für die Burgfestspiele, wo er u. a. Kalender Boys, Ganze Kerle, Flashdance und Sister Act, inszenierte. Die zum Teil sehr umfangreichen Tanznummern bestechen ob ihrer Vielfalt und artistischen Bezügen (wie bei „Mambo“ und „Cool“; Choreografie: Kerstin Ried; in Bad Vilbel choreografierte sie u. a. bereits Sister Act, Maria, ihm schmeckt’s nicht und Ewig jung.
Coole New Yorker Hinterhofatmosphäre und karibische Lebensfreude
Die Einheitsbühne von Oliver Kostecka (u. a. Don Carlos und Des Teufels General vermittelt eine coole New Yorker Hinterhof- / Straßenatmosphäre. Zentrales Element ist eine Art Halfpipe, von deren linken Seite eine Feuertreppe zu Marias Balkon überleitet. Sie wirkt wie eine Brücke, die Verbindung schaffen kann. An den Rändern stehen zahlreiche Gitter, die in gewisser Weise das durch die Erwachsenenwelt eingeschränkt sein der jungen Leute widerspiegeln.

Burgfestspiele Bad Vilbel
Riff (Stefan Preuth; in der Mitte), Bernardo (Aliosha Jorge Ungur; rechts) und Ensemble
© Eugen Sommer
Außer den Straßenszenen werden Orte wie die Brautmoden- /Süßwarengeschäfte, die Drogerie oder die Turnhalle lediglich angedeutet. Die großflächige Rückwand besticht mit einem Gemälde der Freiheitsstatue auf Ziegelpflaster (Brownstone´s) und Details (wie kleinen Fenstern, einem Ventilator oder einer Straßenlampe). Beim Song „America“ wird die Rückwand farbig angestrahlt, sodass ein Abbild der puerto-ricanischen Nationalflagge erzeugt wird. Zum Finale mit dem erschossenen Tony ist sie ein dunkles Rot gehüllt.

Burgfestspiele Bad Vilbel
Ensemble
© Eugen Sommer
Die verfeindeten und hitzköpfigen männlichen Jugendgangs sind schon durch ihre unterschiedlichen Kleidungsstile deutlich zu erkennen. Während die Jets leicht abgenutzt wirkende blau-weiße Bomberjacken und Jeans tragen, zeigen sich die Sharks in gedecktem Schwarz. Dafür sind die Petticoats der Sharks Frauen umso bunter. Sie zeugen von karibischer Lebensfreude. Aus dem Rahmen fällt im ersten Teil ob seines konservativ wirkenden Kleidungsstils mit Hosenträgern, der stets aufrichtige Tony (Kostüme: Monika Seidl).
Charmanter Tony, ausdrucksstarke Maria
Diesen gibt mit Charme und Lässigkeit Louis Dietrich. Er war von Dezember 24 bis Februar 25 als Orin Scrivello, Zahnarzt mit speziellen Neigungen und Freund Audreys, in Der kleine Horrorladen in der Frankfurter Komödie zu erleben. Den Tony gibt er mit schöner lyrischer Tenorstimme besonnen und leidenschaftlich verliebt („Maria“).
Aus der großen Schar der Jets und Sharks ragen vor allem heraus: Stefan Preuth als temperamentvoller Anführer Riff, Aliosha Jorge Ungur als stolzer Anführer Bernardo, sowie Lukas Schwedeck als bewegungsstarker Action, André Naujoks als sich behauptender Chino und Carina Leopold als sich mehr in der Männerwelt wohlfühlende empathische Tomboy Anybodys.

Burgfestspiele Bad Vilbel
Ensemble
© Eugen Sommer
Die Hals über Kopf verliebte Maria verkörpert mit vielen Facetten Annemarie Purkert (einnehmend mit „Ich seh‘ gut aus“ und berührend im Duett „Tonight“ mit Tony). Couragiert ist die Anita der Julia Steingaß („America“), die zum Ende Actions Vergewaltigungsopfer wird.
Die Erwachsenen haben es schwer, der Energie der jungen Leute die Stirn zu bieten (Matthias Schuppli als zum Frieden aufrufender Doc, Markus Maria Düllmann als kompromissloser Kriminalpolizist Schrank und Sascha Stead als sich abmühender Streifenpolizist Krupke).
Die groß besetzte Live-Band spielt powervoll unter der Leitung von Philipp Polzin (in Bad Vilbel u. a. Musikalischer Leiter bei Summer in the City, Maria, ihm schmeckt’s nicht und Sister Act) aus einem auf den seitlichen Burgmauern stehenden Bungalow heraus.
Die knapp zwei Stunden der Aufführung (zusätzlich einer 30-minütigen Pause nach 75 Minuten) vergehen wie im Fluge. Am Ende lang anhaltender Beifall.
Wer noch eine der Vorstellungen besuchen möchte, sollte sich schnell um ein Ticket kümmern. Bis Ende August sind alle Vorstellungen nahezu ausverkauft. Lediglich für die drei Termine Anfang September gibt es, Stand Mitte Juli, noch einige Karten. Eine Wiederaufnahme in 2026 ist bei diesem Erfolg nicht unwahrscheinlich.
Markus Gründig, Juli 25
West Side Story
Musical nach einer Idee von: Jerome Robbins (1918 – 1998)
Buch: Arthur Laurents (1917 – 2011)
Musik: Leonard Bernstein (1918 – 1990)
Gesangstexte: Stephen Sondheim (1930 – 2021)
Deutsche Fassung: Frank Thannhäuser und Nico Rabendals
Uraufführung: 26. September 1957 (New York, Winter Garden Theatre)
Deutschsprachige Erstaufführung: 28. Februar 1968 (Wien, Wiener Volksoper)
Deutsche Erstaufführung (in Englisch): 15. Juni 1961 (München, Deutsches Theater)
Deutsche Erstaufführung (in Deutsch): 29. Oktober 1972 (Nürnberg, Opernhaus)
Premiere: 12. Juli 25
Besuchte Vorstellung: 14. Juli 25
Regie: Christian H. Voss
Musikalische Leitung: Philipp Polzin
Choreografie: Kerstin Ried
Bühnenbild: Oliver Kostecka
Kostümbild: Monika Seidl
Dramaturgie: Angelika Zwack
Regieassistenz: Antonia Crames
Korrepetition: Malte Bechtold
Regiehospitanz: Angelina Milakovic
Besetzung:
Die Jets:
Riff (Anführer): Stefan Preuth
Tony (Riffs Freund): Louis Dietrich
Action: Lukas Schwedeck
A-Rab: Arthur Polle
Baby John: Bastiaan Louis
Snowboy: Simon Tofft
Big Deal: Alexander Plein
Diesel: Thijs Snoek
Gee-Tar: Szymon Walawender
Mouthpiece: Didier Borel
Ihre Mädchen:
Graziella: Kim Unger
Velma: Rita Correia
Clarice: Esmee Mardjan
Anybody’s: Carina Leopold
Die Sharks:
Bernardo (Anführer): Aliosha Jorge Ungur
Chino (Bernardos Freund): André Naujoks
Pepe: Morris Jeyachandran
Indio: Salvatore Mercadante
Luis: Zakaria Fleury
Nibbles: Xavier Lott
Juano: Edgar Sagarra
Ihre Mädchen:
Maria (Bernardos Schwester): Annemarie Purkert
Anita (Bernardos Freundin): Julia Steingaß
Rosalia: Monika Schweighofer
Consuelo: Antonia Wortberg
Francisca: Alice Veronese
Estella: Silvia Ina Hofmann
Marguerita: Merline Kramer
Die Erwachsenen:
Doc: Matthias Schuppli
Schrank: Markus Maria Düllmann
Krupke: Sascha Stead
Liveband:
Steffen Ahrens / Isabel Aguilera / Bernd Ballreich / Jochen Bauer / Malte Bechtold / Elias Bollinger / Diogo da Costa Marques / Thomas Elsner / Liudmila Firagina / Tamas Frank-Dessauer / Alexander Gärtner / Anja Geyer-Wohlleben / Patricia Gómez / Antonia Keßler / Stefan Kreuscher / Esther Owusu / Maria Carolina Pardo Reyes / Andreas Pompe / Markus Privat / Sven Pudil / Selkis Riefling / Christian Seeger / Christoph Stadtler / Edgar Sterkel / Jaqueline Stürmer / Patryck Szczechowski / Andreas Weil / Carmen Zarco
Vorstellungen bis zum 4. September 25 (an ausgewählten Tagen)
kultur-bad-vilbel.de