In Goethes Geburtsstadt Frankfurt/M ist es gar nicht so lange her, dass beide Teile von dessen Faust gespielt wurden. Vor zwölf Jahren inszenierte Stefan Pucher Faust. Erster Teil und Günter Krämer Faust. Zweiter Teil. Die Premieren fanden an getrennten Tagen statt, wie auch die meisten Aufführungen.
Bei der jetzigen Neuinszenierung von Jan-Christoph Gockel werden beide Teile unmittelbar hintereinander gespielt. Das ist kein Grund zur Sorge. Denn der weitestgehend bekannte erste Teil wird in einem turbulenten Schnelldurchgang vorgeführt (in weniger als einer halben Stunde). Der umfangreiche, heterogene und überaus komplexe zweite Teil bildet dann das eigentliche Stück des Abends (ob der Fülle von Goethes ausuferndem Text mit der Beschränkung auf Schlüsselszenen; Fassung von Jan-Christoph Gockel und Claus Philipp). Faust 2 ist hier eine anregende und unterhaltsame Symbiose zwischen intimen, poetischen Szenen und großem Spektakel (u. a. mit einigen lautstarken Gesangsnummern, harten Beats, Showeffekten und Videoprojektionen; Musik: Matthias Grübel).
Faust als Puppe
Einen stringenten Handlungsverlauf wie in einem klassischen Drama gibt es bei Faust 2 nicht. Er ist mit seinen fünf Kapiteln, die an den unterschiedlichsten Orten und Zeiten spielen, ohnehin nur sehr schwer szenisch darstellbar. Dabei weist Jan-Christoph Gockels Inszenierung eine Fülle an ausgefallenen und guten Ideen auf. Und eine große Besonderheit: Die Titelfigur gibt es zunächst nicht. Also nicht in Form eines Menschen aus Fleisch und Blut. Der alte Faust ist hier eine große Gliederpuppe (Puppenbau: Michael Pietsch), die ein wenig wie eine verkohlte Männerleiche ausschaut und traurig blickt. Sie wird vom Ensemble bespielt. Das führt zu heiteren und ernsten Momenten. Wie beispielsweise im „Liebesakt“ mit Margarete. Der Gedanke dahinter ist, Faust als universelle Figur zu zeigen, deren unterschiedliche Eigenschaften und Facetten in jedem und jeder drinstecken. So gilt es das Faustsche in den anderen Figuren zu entdecken. Nachteil hierbei ist, dass die Figur des Dr. Faust so auf Distanz bleibt.
Geisterbahn & Rummelplatzatmosphäre
Besonders ist auch die Bühne von Julia Kurzweg. Ist die große Hauptbühne nicht weit geöffnet und nahezu leer, thront ein überdimensionaler (Faust-) Kopf über einer Geisterbahn (die seitlich noch von einer Hand umfasst ist). Eine Geisterbahn wie sie von Jahrmärkten wie der Frankfurter Dippemess bekannt ist, steht tatsächlich auf der Bühne, mitsamt herumfahrender Chaise und großen Leuchtbuchstaben („FAUST WELT“). Vom Karneval ist bei Goethe explizit die Rede, von daher passt dies sehr schön. Die Geisterbahn wird während der vierstündigen Aufführung immer wieder von der Hinterbühne nach vorne gefahren, mitunter werden aus dem Inneren Livebilder übertragen (wie Rückblenden zu Fausts Studierstube). An den Seiten befindet sich ein kleines Laboratorium und das Zimmer von Gretchen in fröstelnder Atmosphäre.
Videotechnik ist ein zentrales Arbeitsmittel für Gockel, sie kommt intensiv zum Einsatz und lockert den Abend auf (Video und Live-Kamera: Eike Zuleeg). Wie gleich zu Beginn des 2. Teils mit einer Aufnahme vom Willy Brandt Platz, wo Faust „in anmutiger Ebene“ und in Anblick von Hochhäusern der Finanzwelt erwacht (gleich neben dem „Weltbesten Opernhaus“, Kommentar eines vermeintlichen Passanten).
Für ein besseres Verständnis werden den Abend über Kapitel-Nummern und Szenen-Namen angezeigt.
Und immer wieder der schnöde Mammon
Die Handlung wird öfters unterbrochen, es wird direkt mit dem Publikum kommuniziert. Sehr elegant umgesetzt ist in diesem Zusammenhang beispielsweise die Möglichkeit für eine(n) Zuschauer:in, sich mit Faust auf eine Freifahrt auf der Geisterbahn einzulassen. Die Frage, nach welchen Kriterien der oder die Glückliche ausgewählt werden soll, entscheidet schnell der schnöde Mammon. Wie es neben Themen rund um Krieg, wie im realen Leben, auch hier immer wieder um das Thema Geld geht. Punktuell gibt es lokale Bezüge.
Das 100-Seiten (!) umfassende Programmheft (mit zusätzlichen Foto-Folder) bietet eine Fülle an Zusatzinformationen (wie auch der Podcast „Vorgehört“ zur Inszenierung).
Wolfram Koch als umtriebiger Mephisto
Mephisto hat hier zwar mitunter Hörner oder rote Flügel, doch ist er letztlich einer, der auf der Strecke bleibt. Wolfram Koch lebt in der Rolle förmlich auf. Er zeigt wieder einmal agilen Körpereinsatz, eine vielseitige Mimik, ständig neue Facetten und zieht das Publikum in seinen Bann. Torsten Flassig ist als der junge Faust zu erleben. Gemeinsam mit Mephisto ist er dem Ende hin vom Himmel kommend ganz in der Gegenwart.
Melanie Straub gibt nicht nur den in Geldnöten steckenden Kaiser, sie fasziniert auch als die schönste aller Schönen: Helena. Diese Figur wird hier gewissermaßen mit dem Kunstmensch Homunkulus verbunden, denn Helena ist zunächst ein (attraktiver) Roboter.
Caroline Dietrich glänzt als zerrissener Sohn Euphorion und mit starkem Gesang. Lotte Schubert ist Margarethe, die als thessalische Hexe Erichto wiederauflebt. Dazu ergänzen Andreas Vögler (u. a. Wagner), Christoph Pütthoff (u. a. Kanzler im Adamskostüm), Mark Tumba (u. a. Valentin und die militärische Ebene vertretend), Thomas Moschny (Herold), sowie Michael Pietsch für den „Chor der Insekten“, das Geschehen.
Mit ihrem reduzierten Spiel nehmen Lieselotte Schweikhardt und Wolfgang Schreiber als Baucis und Philemon für sich ein. Ganz zeitgemäß wird ihnen eine Traumimmobilie im Ostend angeboten, am Ende ist das neue kleine Zuhause für jeden ein Sarg.
Am Ende sitzt Faust in seiner Bahn, während sich die Natur die Welt zurückerobert (Bäume erobern die Bühne; Kostüme: Janina Brinkmann).
Am Premierenabend gab es intensiven und lang anhaltenden Applaus. Der in der Vorstellung gezeigte Gift-Shop mit Faust Devotionalien ist im Anschluss an jede Faust 1 & 2 – Vorstellung für Interessierte geöffnet.
Die im September und Oktober angesetzten Vorstellungen sind bereits alle ausverkauft. Karten für Vorstellungen im November gibt es ab dem 10. Oktober 24.
Markus Gründig, September 24
Faust 1 & 2
Von: Johann Wolfgang von Goethe
Fassung von: Jan-Christoph Gockel und Claus Philipp
Premiere: 19. September 24 (Schauspielhaus)
Regie: Jan-Christoph Gockel
Bühne: Julia Kurzweg
Kostüme: Janina Brinkmann
Musik: Matthias Grübel
Video: Eike Zuleeg
Puppenbau: Michael Pietsch
Dramaturgie: Claus Philipp, Katrin Spira
Licht: Marcel Heyde
Besetzung:
Der alte Faust: Ensemble
Der junge Faust: Torsten Flassig
Mephisto: Wolfram Koch
Margarethe, später thessalische Hexe: Lotte Schubert
Wagner: Andreas Vögler
Helena / Kaiser: Melanie Straub
Kanzler: Christoph Pütthoff
Euphorion: Caroline Dietrich
Valentin: Mark Tumba
Chor der Insekten: Michael Pietsch
Philemon und Baucis: Roman Fischer, Edeltrud Thobe, Lieselotte Schweikhardt, Wolfgang Schreiber
Herold: Thomas Moschny
Live-Kamera: Eike Zuleeg