Die ewige Spirale der Gewalt ~ Aischylos´ »Die Orestie« am Schauspiel Frankfurt

Die Orestie ~ Schauspiel Frankfurt ~ Orestes (Samuel Simon), Apollon (Michael Pietsch) ~ Foto: Thomas Aurin
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Im Oktober 2006 inszenierte Karin Neuhäuser Aischylos´ Orestie am Schauspiel Frankfurt. Sie zeigte die Tragödientrilogie als Abhandlung über politische Systeme und als ein Lehrstück über die Frauen. Regisseur Jan-Christoph Gockel interessierte sich bei seiner Umsetzung vor allem um die Spirale der Verblendung, Schuld und Gewalt, die nicht nur in der griechischen Mythologie beherrschend ist, sondern sich bis in die Gegenwart hineinzieht. Auch Gockels nachhaltige Beschäftigung mit der andauernden Zerstörung der Umwelt durch die Menschen, findet in seiner Umsetzung Berücksichtigung.

Zusammen mit der Dramaturgin Marion Tiedtke entwickelte Gockel eine eigene Bühnenfassung (basierend auf der Übersetzung von Peter Stein), die mit einer Spieldauer von 3, ¼ Stunden (inklusive einer Pause) gut zwei Stunden kürzer ist, als Karin Neuhäusers von 2006.

Gespenster der Vergangenheit (Agamemnon (1. Teil)

Gockels Zugriff kann ob seiner vielen Ideen durchaus als ambitioniert bezeichnet werden. Zunächst ist ein aggressives Trommeln gegen den herabgelassenen eisernen Vorhang zu hören. Stimmen ertönen wild durcheinander. Sie heißen kurz willkommen, Satzfetzen aus Museum-Audioguides (mit Bezügen zu Figuren der griechischen Mythologie) wechseln sich mit Zitaten aus Nachrichten und Reportagen ab (Musik und Hörspiel: Matthias Grübel). Langsam fährt der Eiserne Vorhang hoch und gibt den Blick frei auf einen großen, archaisch und düster anmutenden Raum (Bühne: Julia Kurzweg). Er reflektiert nicht nur die verbrannte Welt nach dem trojanischen Krieg, er steht auch für die Kriege von heute.

Auf der Bühne bewegt sich der achtköpfige Chor als schweigende Masse in schwarzen Gewändern korrespondierend zu den eingespielten Texten. Nach und nach tauchen die Geister der Vergangenheit auf. Gleichzeitig wird die Geschichte des heimkehrenden Agamemmon, seine und Kassandras Ermordung und Aigisthos Herrschaftsübernahme gezeigt. Dies als faszinierendes Spiel mit außergewöhnlichen Puppen, die für die verlorenen Menschen in der Welt stehen. Bis auf den Zögerer Orest hat jede Bühnenfigur ihr Pardon in Form einer dieser Puppen, die in ihrer grau-weißen Optik wie verbrannte Leichen aussehen. Die Gesichter wurden jeweils den jeweiligen Schauspielern nachempfunden (Puppenbau/-spiel: Michael Pietsch). Dazwischen zeigen Bildprojektionen Porträts, wodurch das Gesprochene reale Bezüge erfährt.
Durch das Wechselspiel zwischen externer Betrachtung („hier sehen sie…“) und Bühnengeschehen werden Assoziationen beim Zuschauer geweckt. Der königliche Diener (belustigend: Christoph Pütthoff) tritt auf und fordert kontinuierlich eine Änderung, ein Ende (all der Gewalt).


Die Orestie
Schauspiel Frankfurt
Ensemble, rechts: Katharina Linder
Foto: Thomas Aurin

Ästetischer Wechsel bei den Opfernden am Grab (Teil 2)

Nach den grauenvollen Morden in Argos sollte die nächste Generation alles anders, besser machen. Doch schon Elektras (Altine Emini) wehevolles Klagen deutet zu Beginn des zweiten Teils an, dass sich nicht wirklich etwas verändert hat. Die Spirale der Gewalt geht weiter, wenn auch in anderer Verpackung. Die Bühne zeigt nun den Palast in reduzierter Andeutung: ein Sessel, ein Schaukelpferd, ein Sonnenschirm (die Szenerie nimmt Bezug zu einem modernen Lost Place, dem nie eröffneten ukrainischen Freizeitpark in Pripyat, nur wenige Kilometer von Tschernobyl entfernt, den Gockel im Rahmen seiner Stückrecherche besucht hat).
Orestes kehrt heim. Ihn gibt es nicht in Form einer Puppe, aber in Form einer Marionette mit traurigen Augen. Samuel Simon gibt die Bühnenfigur nicht als siegreicher Macho, sondern emphatisch und zerbrechlich wirkend. Im Kern ist er jedoch trotz seiner Furcht viel stärker als es zunächst den Anschein hat. Das zeigt er bei seinem Besuch im Hades, wo die bereits getöteten ordnungsgemäß verharren und gegen deren Rückkehr er vehement ankämpft.
Die Figuren tragen nun individuelle Kostüme mit antik wirkenden Zitaten. Sie spiegeln Ambitionen und Emotionen wider, die diese Figuren bis heute umtreiben. So trägt beispielsweise die kämpferische Klytaimestra der Katharina Linder ein purpurfarbenes Kleid, wobei Purpúr für die Farbe der Tyrannen steht und Macht ausdrückt (Kostüme: Amit Epstein).
Auf eine singende Geier-Marionette reduziert sind die Rachegöttinnen, die Orestes auf seinem Weg nach Athen verfolgen.

Die Eumeniden (Teil 3): Athene in Kindsgestalt

Im kurzen dritten Teil fährt als Deus ex Machina ein Fries aus dem Bühnenboden hoch, mit ihm Athene in Form eines puppenhaften Kindes. Orestes Freispruch, der als Geburtsstunde der Demokratie gilt, spielt nur eine Nebenrolle und ihm bleibt ein schaler Beigeschmack anhaften. In einem apokalyptischen Rückblick fragt Athene, ob die Erdenbewohner ihren eigenen Untergang bewusst oder unbewusst veranlasst haben.

Viel Applaus für alle Beteiligte.

Markus Gründig, Februar 20


Die Orestie

Tragödientrilogie: Agamemnon ~ Die Opfernden am Grab ~ Die Eumeniden
Uraufführung: 458 v. Chr. (Athen)
Bühnenfassung von: Marion Tiedtke und Jan-Christoph Gockel (basierend auf der Übersetzung von Peter Stein)

Premiere am Schauspiel Frankfurt: 22. Februar 20 (Schauspielhaus)

Regie: Jan-Christoph Gockel
Bühne: Julia Kurzweg
Kostüme: Amit Epstein
Puppenbau/-spiel: Michael Pietsch
Musik und Hörspiel: Matthias Grübel
Dramaturgie: Marion Tiedtke

Chor:
Altine Emini, Torsten Flassig, Sebastian Kuschmann/Sebastian Reiß, Katharina Linder, Michael Pietsch, Christoph Pütthoff, Samuel Simon, Andreas Vögler

Agamemnon: Sebastian Kuschmann / Sebastian Reiß
Klytaimestra: Katharina Linder
Kassandra: Torsten Flassig
Aigisthos: Andreas Vögler
Orestes: Samuel Simon
Elektra: Altine Emini
Apollon: Michael Pietsch
Diener: Christoph Pütthoff

Athene: Aimée Rose Geiger / Fiona Metzenroth

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