kulturfreak.de Besprechungsarchiv Musical und Show, Teil 8

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Hair

Musical Inc.Mainz
Besuchte Vorstellung: 24. Mai 08

Make Love Not War

Hair, das Musical über die Flower Power People, ist alles andere als ein easy going Selbstläufer. Immerhin hat es einige bekannte Hits aufzuweisen („Aquarius“, „Hair“ und „Let the Sunshine In“). Als Stück ohne dramaturgischen Handlungslauf, ohne Szeneneinteilung, mit wenigen Dialogszenen und ohne definierte Schauplätze, bietet es lediglich eine Collage von Bildern, um das Lebensgefühl einer pazifistischen, Drogen aufgeschlossenen, gegen das Establishment kämpfenden und die freie Liebe praktizierenden Kommune in den USA der späten 60er Jahre, zu vermitteln.
Die Mainzer Musical Inc., eine Arbeitsgemeinschaft von engagierten und kulturbegeisterten Studenten der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, hat das Musical jetzt als ein Mammutprojekt auf die Bühne gestemmt. Nicht nur hinsichtlich der über 60 Beteiligten (allein auf der Bühne), sondern auch in zeitlicher Hinsicht. Mit 3,5 Stunden Aufführungsdauer (inkl. einer Pause) dürfte dies eine der längsten Aufführungen dieses Musicals sein.
Eingebunden ist die Produktion in die „Musical Academical“: zwei wissenschaftlichen Veranstaltungsreihen des „Studium Generale“ der Uni Mainz (mit den Themenblöcken „Hair und die 1960er“ und „Aspekte der 1960er-Jahre“; donnerstags um 20 Uhr im Audimax), zudem ist sie Teil des „Kultursommers Rheinland-Pfalz“ und des EU-Projekts „Jugend in Aktion“.

Hair
Musical Inc, Mainz
Ensemble
Foto: Musical Inc.

“Hair“ ist auch für die Musical Inc die bisher größte Produktion. Neben der hohen Zahl an Beteiligten, werden bei der Aufführung 43 Musiknummer (davon 26 im ersten und 17 im zweiten Akt) geboten, dies jedoch ohne eine Minute Langeweile und ohne das Stück ins Heute zu versetzen. Ein paar wenige Zitate (wie „Junge, wie du wieder aussiehst…“, Die Ärzte) bilden diesbezüglich die Ausnahmen. Vielmehr wird versucht, die Wurzeln des Stücks zu ergründen.
Sei es für das Intro oder den Schlusssong: stets wird sich viel Zeit genommen, um Stimmungen aufzubauen und Lieder zur vollen Wirkung zu bringen. Den Gipfel dabei bildet Claudes fast 30minütiger Rauschgift-Trip (der ihn vom Vietnamkrieg zurück zu Georg Washington, den Indianern und dem amerikanischen Bürgerkrieg führt).

Auf Bühnenbilder wurde weitestgehend verzichtet. Stofftücher, eine Klangschale und natürlich Blumen, viel mehr an Ausstattung gibt es nicht (Bühne: Tobias Fischer und Hannah Girisch). Bilder und kurze Filmsequenzen werden auf die Bühnenränder projiziert (Design: Daniel Kelin) und dienen als zusätzliche Erläuterung. Die Liveband sitzt, stets sichtbar, erhöht im Bühnenhintergrund. So stehen die Darsteller im Mittelpunkt und oft sogar die gesamte Anzahl gleichzeitig auf der Bühne des Mainzer Philosophicums. Diese große Mengen zu führen, stimmig einzuteilen und dabei den gesamten Raum zu nutzen, gelang dem Regieteam (Mareike Hachemer und Sarah Becker) außerordentlich gut (beispielsweise bei „Black Boys“ und „White Boys“). Tanzeinlagen (Choreographie: Alexandra Kather und Johanna Fesenbeckh), teilweise mit artistischen Anspielungen, sorgen für zusätzliche Abwechslung.
Das schauspielerische Talent der überaus engagiert agierenden Darsteller ist bemerkenswert gut, die gesangliche Leistung mindestens solide und manchmal sogar mit Gänsehautfaktor. Wie beispielsweise bei „Ich bin ´ne Farbige (Dhessielyn R. Vanzuela in der Rolle der Hud Johnson Lincoln) und vor allem bei „Frank Mills“ (Loraine Keller als Crissy).

Die beiden Hauptrollen wurden mit sehr unterschiedlichen Charakteren besetzt. Einen sensiblen und alles hinterfragenden Claude Bukowski gibt Jan Reifenberger mit langen Rastalocken. Mitunter wirkt er zwar noch ein wenig verhalten, befreit beispielsweise aber bei seinem „Ich bin reich“ und später authentisch als Strauchelnder und in seiner Gefühlswelt Gefangener. Gelöster kommt der Lebemann und Womanizer Georg Berger des Philipp Masur daher. Die Frauen an ihrer Seite geben überzeugend Daniela Wellnitz (als Sheila Franklin) und Celine Rubeck (als Jeanie). Sympathieträger ist der Mick Jagger Fan Woof Donovan (wunderbar: Franz Janson) und großes schauspielerisches Talent beweist Daniel Kelin. Dabei macht er u.a. im weiß-grünen„Kostüm-Mantel“ und passenden Pumps, sowie als Nackedei, eine blende Figur.

Einen satten Sound liefert die Band (musikalische Leitung: Lars Mattil und Thomas Wagner), exzellent mit Trompete, Posaune und Saxophon verstärkt. Für eine bunte Farbenpracht sorgen die 60er Jahre Hippie-Kostüme von Celine Rubeck.

Die Brisanz des Stücks vor 40 Jahren bei seiner Uraufführung, kann schon seit langem nicht mehr hervorgerufen werden. Eine überaus gründliche Interpretation, mit viel Liebe und Leidenschaft dargeboten, bietet die Produktion der Musical Inc., die nebenbei auch zur Selbstreflexion anregen will. Nicht nur für Musicalfans: absolut sehenswert!

Markus Gründig, Mai 08


Staatstheater Darmstadt
Besuchte Vorstellung: 22. März 08 (Premiere)

Common sense may tell you
That the ending will be sad,
And now’s the time to break and run away.
But what’s the use of wond’ring
If the ending will be sad?
He’s your feller and you love him,
There’s nothing more to say.


(aus Carousel)

Liebe wider alle Vernunft

Seit rund einem Vierteljahrhundert bestimmen die Musicals von Sir Andrew Lloyd Webber weltweit das Genre und damit die Spielpläne, sei es nun Evita, Jesus Christ Superstar oder Das Phantom der Oper. Die Väter des Musicals und ihre Stücke sind vielerorts in Vergessenheit geraten. Das wohl wichtigste Duo aus Komponist und Texter ist nur noch wenigen bekannt. Dabei schufen die Amerikaner Richard Rodgers/Oscar Hammerstein II. Musicalklassiker wie Oklahoma!, South Pacific, The King and I und The Sound of Music, die nicht nur erfolgreich verfilmt wurden, sondern deren Songs auch an musikalischer Qualität nichts eingebüßt haben.
Mit dem Musical „Carousel“ (uraufgeführt 1945) hat das Staatstheater Darmstadt jetzt eine Musicalperle dieses Duos aus dem Archiv hervorgeholt.
„Carousel“ handelt von Sehnsüchten, der Unerschütterlichkeit wahrer, tief empfundener Liebe (von einer Liebe, die nicht aufhört, auch wenn die Gesellschaft sagt, das nimmt ein schlimmes Ende) und von der Verantwortung die jeder für sein Handeln hat. Richard Rodgers komponierte hierzu eingängige Songs, die die tiefen Emotionen der Protagonisten bestens musikalisch widerspiegeln. Beispielsweise bei „Wär´es Liebe“ / „If I Loved You“. Am bekanntesten ist zweifelsohne „Und dann gehst du nie allein“, im Original „You’ll Never Walk Alone“. Als Hymne des FC Liverpool ist es selbst von dem Musical fern stehenden Fußballfan geschätzt.

Carousel
Staatstheater Darmstadt
Billy Bigelow (Randal Turner) und Julie Jordan (Susanne Serfling)
Foto: Barbara Aumüller ~ szenenfoto.de

Regisseur Philipp Kochheim, der vergangenes Jahr Puccinis Tosca ins Chile der Juntazeit verlegt hatte, ging für Carousel einen anderen Weg. Als Kontrast zu den heutigen Megamusicals, die vor allem mit bühnentechnischen Superlativen aufwarten, hat er sich dem Stück „in dezenter Reduktion“ genähert. Er verzichtet auf jegliche Aktualisierung und lässt das Stück, leicht gekürzt auf gut zwei Stunden (zzgl. Pause), wie vorgesehen in den Jahren 1873 bis 1888 in der neuenglischen Provinz spielen. Auf ein Tanzensemble wurde ganz verzichtet, die Liebe zwischen Louise und Enoch Snow jr. wird nur kurz angedeutet.
Da das Musical nicht durchkomponiert ist, bietet es einen hohen Anteil an Dialogpassagen, die Kochheim nutzt, um der Stille Raum zu geben. So hat der erste Akt für ein Musical eine ungewohnte Länge, ermöglicht aber auch ausgesprochenes Goutieren der historisierenden Umsetzung. Der zweite Akt geht deutlich flotter und unterhaltender von statten. Was auch an Allison Oakes in der Rolle der Carrie Pipperidge liegt, die mit ihrer erfrischenden Art für zahlreiche Lacher sorgt.
In dieser Inszenierung gibt es keinerlei Anzüglichkeiten: keine Männer in Strapsen, keine leichten Mädchen oder gar HIV+ Schwule, von daher kann getrost auch die Oma und die Schwiegermutter mitgenommen werden. Schließlich ist die Inszenierung eine liebevolle Hommage an das klassische Musical, mit schönen Optiken (Anja Jungheinrich), klassischen Kostümen (Bernhard Hülfenhaus) und wunderschönen, klassischen Volksszenen (Choreinstudierung: André Weiss).
Zentrales Element, auch als Symbol des ewigen Kreislaufs des Lebens, ist ein großes Karussell, das erst langsam aus dem dunkeln Bühnenhintergrund hervor fährt. Daneben finden die weiteren Handlungsorte (wie eine Allee an der Küste, ein Strandcafé, eine Insel vor der Bucht, ein Strand an der Küste, Julies Heim etc.) in einem überdimensionalen hölzern anmutenden Rahmen statt.
Gegeben wird Carousel komplett in deutsch. Da die Songs meist sehr opernhaft gesungen werden, leidet die Textverständlichkeit allerdings etwas (bei ansonsten tadelloser Akustik). Dagegen wirkt der amerikanische Slang, den natürlich der Amerikaner Randal Turner als Billy Bingelow bestens wiedergeben kann, durchaus passend. Susanne Serfling gibt eine vorzügliche, sensible und authentisch wirkende, tief empfindende Julie Jordan. Sonja Mustoff verkörpert die Karussellbetreiberin Mrs. Mullin mit Stärke und Weichheit unter ihrer rauen Schale. Facetten- und modulationsreich ist Randal Turner als durchtriebener Billy Bigelow.
Das dies Musical zu Herzen geht ist nicht zuletzt auch ein Verdienst von Kapellmeister Lukas Beikircher, der Richard Rodgers „bestes Musical“ mit dem Staatsorchester Darmstadt zum Sternefunkeln bringt.

Der große Traum von bedingungsloser Liebe, dargeboten mit wundervollen Stimmen und atmosphärischem Zauber. Darmstadts “Carousel” lädt ein, aufzusteigen und ein paar Runden mit zu fahren: um zu träumen, zu lernen und gefestigt weiter zu marschieren.

Markus Gründig, März 08


The Wizard of Oz

Theatre Unlimited im English Theatre Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 19. Januar 08 (Premiere; 14.00 Uhr)

Einmal im Jahr präsentiert Theatre Unlimited unter Sheelagh Maythem ein Musicalproduktion für Kinder im Frankfurter English Theatre. Das Besondere an diesen Produktionen ist, dass ausschließlich Kinder im Alter von neun bis siebzehn Jahren auf der Bühne stehen (zudem gehen die Einnahmen des Musicals an den Verein „Hilfe für Krebskranke Kinder Frankfurt e.V.“.). Auch dieses Jahr sind es wieder über vierzig Beteiligte, die damit nicht nur die Chance haben, Bühnenluft zu schnuppern, sondern in der Gruppe auch für sich selber zu lernen, die eigene Kreativität zu entwickeln und an Selbstbewusstsein zu reifen.
Das diesjährige Stück, The Wizard of Oz, ist natürlich besonders in den USA ein Kinderklassiker, doch auch hier sind Dorothy und ihre Weggefährten (die Vogelscheuche, der Zinnmann und der Löwe) längst keine Unbekannten mehr, auch wenn der legendäre Film zu diesem Märchen beinahe 70 Jahre alt ist. Die Musiknummern dieses Films sind noch heute Ohrwürmer, allen voran „Over the rainbow“, das untrennbar mit Judy Garland verbunden ist, aber auch von Barbara Streisand und selbst Marusha interpretiert wurde.

The Wizard of Oz
Theatre Unlimited im English Theatre Frankfurt
Foto: ezimmerer.de

Zu Gast bei der Premiere im English Theatre Frankfurt war neben der US-Generalkonsulin Jo Ellen Powell und ihrer Familie auch Kinder von US Soldaten, deren Väter derzeit im Irak stationiert sind. Sie füllten die ersten drei Reihen im Theater und hatten sichtbaren Spaß an dieser Aufführung, genauso wie der Rest des Publikums. Denn keine Figur wurde ausgelassen, weder in Munchkinsland noch in der Smaragdstadt. Aufgrund der Doppelbespielung (das Musical Five Guys Named Moe läuft weiterhin im English Theatre) sind die Möglichkeiten für große Bühnenaufbauten beschränkt. So gibt es nur eine Hausfassade und einen Lattenzaun. Die Rückwand wird als Projektionsfläche genutzt, auf der dann großflächig eine Wiesenlandschaft, ein Wald, die Smaragdstadt, der Palast der Bösen Hexe des Westens und auch der Zauberer von Oz zu sehen sind. Beeindruckend ist besonders die Vielzahl der aufwendigen Kostüme (Lea Willman) wie für die Spinnen, Kampfbäume und die geflügelten Affen.
Regisseurin Sheelagh Maythem (auch Produzentin und Choreografin) muss eine besonderes Talent im Umgang mit Kindern haben, anders ist es nicht zu erklären, wie professionell die vielen kleinen und großen Kinderdarsteller so reibungslos spielen. Im Mittelpunkt steht Sara Sassanelli als Dorothy Gale. Sicher und konzentriert gibt sie eine berührende Dorothy. Als Scarecrow/Vogelscheuche ohne Verstand spielte sich Caitlin Crockford in die Herzen der Zuschauer. Patrik Rudfeldt rührt als herzloser TinMan/Zinnmann und Caitlin Cornish sorgt als Lion/Löwe dafür, dass ein jeder an Selbstvertrauen gewinnt. Als giftig grüne Wicked Witch/Böse Hexe treibt Natalie Cornish ihr Unwesen, für dessen Ausgleich Glinda, die Gute Hexe des Nordens (Katharina Kasterning), sorgt. Zum Ende erscheint dann auch der wahre Wizard of Oz (Ludvig Sinander).
Die vielen eingängigen Songs von Harold Arlen und E.Y. Harburg spielte die Live-Band elanvoll unter der Leitung von Debra Damron.
Alle weiteren Vorstellungen der überaus gelungenen Darbietung sind bereits komplett ausverkauft. Wer sich für die Vorgeschichte von The Wizard of Oz interessiert hat in Stuttgart die Möglichkeit, das Musical Wicked zu sehen.

Markus Gründig, Januar 08


Jesus Christ Superstar

Staatstheater Kassel

Der Messias in Kassel am Kreuz: „Superstar“mit großem Gefolge
Ergreifende Bilder zwischen Reeperbahn, Rauschgoldengeln und Massenhysterie

Der Messias ist tot. Hinter dem Kreuz schimmert durch einen Spalt im diffusen Hellblau die Ewigkeit. Der Vorhang fällt. Ein ergreifendes Schlussbild, dem, bevor der Beifall losbricht, erst einmal ergriffene Stille folgt. Nach Cole Porters „Anything goes“ in der abgelaufenen Spielzeit in Kassel nun ein weiterer, zeitloser Klassiker des Musical-Genres, wenn auch einer etwas jüngeren Datums: „Jesus Christ Superstar“. Das durchkomponierte Webber’sche Frühwerk, das früher oder später auf dem Spielplan eines jeden Repertoiretheaters auftaucht, ist seit dem 12. Januar im Opernhaus der Fuldastadt in einer Inszenierung von Thomas Dietrich zu sehen – in englischer Originalsprache. Die deutsche Übersetzung der Liedtexte wird über der Bühne auf einer Projektionsfläche eingeblendet. Die unkonventionelle Rockoper steht hier an ausgesuchten Terminen zunächst bis zum 14. Juni auf dem Programm. Und es sieht ganz danach aus, als würde auch diese Wahl dem Staatstheater wieder volle Säle garantieren.

Das Premierenpublikum jedenfalls feierte die Inszenierung und vor allem die Darsteller mit (für die eher zurückhaltenden Nordhessen ungewohnter großer) Begeisterung. Dabei bietet die Produktion nichts wirklich Neues, was allerdings auch niemand erwartet hatte. Bei „Jesus Christ Superstar“, das die Passionsgeschichte aus etwas anderer Perspektive, der des Judas Ischariot, erzählt, dürften alle Facetten bereits hinlänglich ausgereizt sein. Da bleibt kaum Spiel für weitergehende Variationen. Und das gilt auch für die Zeichnung der handelnden Personen. Seit der Welturaufführung 1971 in New York sind dahingehend wohl alle denkbaren Szenarien, Optionen und Möglichkeiten, die das Buch von Tim Rice bietet, irgendwo schon einmal in irgendeiner Form durchgespielt worden. Dennoch entbehrt die Kasseler Variante nicht eines gewissen Reizes.

Das zeitlose Werk aus der kreativen Frühperiode des geadelten britischen Musicalpapstes zieht immer – und verzeiht auch den ein oder anderen Regiefehler. Umstritten war es eigentlich nur in der Anfangszeit. Viele fundamentalistische Christen störten sich an der menschlichen Sicht der biblischen Ereignisse und dem Ausdruck von Sexualität zwischen Jesus und Maria Magdalena, während orthodoxe Juden in der unbeschönigenden Darstellung der Priesterschaft antisemitische Tendenzen zu erkennen glaubten. Heute regt sich eigentlich kein Mensch mehr darüber auf, von einigen evangelikalen Hardlinern vielleicht mal abgesehen, denen das Ganze eben nicht bibeltreu genug ist. Ein unsicherer, von menschlichen Schwächen gezeichneter Jesus will so recht nicht in ihr Bild passen.

Jesus Christ Superstar
Staatstheater Kassel
Die Jesus-Rolle verlangt nach großen Gesten. Patrick Stanke kann der Figur trotz der eingeschränkten Rollenauslegung viel Profil verleihen. Sein Messias ist zornig, unsicher und verletztlich zugleich – aber immer auch schon etwas entrückt.
Foto: Dominik Ketz

Stanke und MacLeod gefallen
Obwohl im Ablauf natürlich (fast) alles und jedes vorhersehbar ist, bleibt in Kassel doch ein gewisser Spannungsbogen erhalten, und sei es jener, der sich aus der individuellen Rollenzeichnung der Protagonisten speist. Natürlich kann auch ein Patrick Stanke, der übrigens in gleicher Mission ab März auch in einer J.C.-Inszenierung im Opernhaus in Magdeburg antritt, aus der schon von den Autoren eher schwach ausgelegten Messias-Figur nicht mehr herausholen. Doch dem aufstrebenden Wuppertaler gerät dieser Part auf jeden Fall intensiver und kräftiger als vielen anderen vor ihm. Sein abgeklärter, in sich gekehrter, schon etwas entrückt, fast sogar etwas distanziert wirkender Jesus war als solcher in jeder Sekunde natürlich und schlüssig. Ein Part, der eher nach große Gesten, denn nach einer großen Stimme verlangt, von „Gethsemane“ vielleicht einmal abgesehen. Das zählt ja nach wie vor zu den größten Monologen der Musicalgeschichte und ist für jeden Jesus-Darsteller Pflicht und Kür zugleich. Zumindest dabei durfte der Ex-Chemikant zeigen, was vokal in ihm steckt, wenngleich die fahrige Tonabmischung diesbezügliche Ambitionen etwas durchkreuzte – wenigstens am Premierenabend.

„Man in Red“

Darius Merstein MacLeod ist der zweite prominente externe Künstler, den die Kasseler für dieser Produktion haben gewinnen können. Und seine Aufgabe ist ungleich dankbarer und konturenstärker: Der gebürtige Pole spielt den Judas Ischariot , den er parallel dazu auch im Tiroler Landestheater in Innsbruck verkörpert. Die Person des küssenden Verräters, ein Mensch mit Ecken und Kanten, ist ja der eigentliche Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Aus seiner Auseinandersetzung mit dem Meister bezieht das Stück seinen Kick. Anders als in Innsbruck in weißem Glitzeranzug erscheint er hier in Nordhessen als „Man in Red“, im schicken roten Lacklederanzug. Und er ist in der Herkules-Stadt auch eine Brise zurückhaltender, weniger selbstsicher, eher etwas verzagter, als man ihn aus anderen Inszenierungen her zu kennen glaubt. Es ist wohl auch nicht nur die dunkle Hornbrille, die dem Wilhelmshöhen-Judas etwas Woody Allan-haftes verleiht. Im auffälligen Kontrast dazu steht die schneidend scharfe Stimme, mit der MacLeod der Verzweiflung und dem Zorn der Figur Ausdruck verleiht, dass dem sich im Jubel der Menge sonnenden Chef die Dinge so entgleiten.

Bermudashorts und Schnellfeuergewehre

„Jesus Christ“ verlangt weder nach aufwändigen Kulissen, noch nach großen bühnentechnischen Effekthaschereien. Die der Priesterschaft vorbehaltene Unterbühne, die bei Bedarf hochgefahren wird, ist dahingehend das einzige Zugeständnis. Ausstatterin Anna Kirschstein beschränkt sich auf das Wesentliche. Die Bühne bleibt meist leer, von einigen Quadern, Blöcken und Stufen einmal abgesehen. Das Lichtdesign gewinnt durch seine durch Zurückhaltung geprägte Schlichtheit. Die Kostüme sind eher dem Neuzeitlichen geschuldet. Der Messias (zunächst) in Jeans und legerem Hemd, ein von seinem Traum singender Pilatus (Lars Rühl) im Bademantel, Herodes (Ulrich Wewelsiep) im Elvis-Look. Und die römischen Soldaten tragen rote Barrets und sind mit Schnellfeuergewehren bewaffnet. Kamerabehängte Touristen in Bermudashorts bummeln durch Jerusalem, während die Damen des horizontalen Gewerbes in ihrem Outfit auch auf der Hamburger Reeperbahn nicht weiter aufgefallen wären.

Jesus Christ Superstar
Staatstheater Kassel
“Jesus I am overjoyed to meet you face to face…” Herodes (Ulrich Wewelsiep) und sein Gefolge machen sich über den Messias lustig.
Foto: Dominik Ketz

Das Staatstheater kann personell klotzen. Und so sind es vor allem auch die Massenszenen und -Chöre, die von und nach dieser Inszenierung nachhaltig in Erinnerung bleiben. Thomas Dietrich glücken dabei einige wunderschöne Bilder. Jenes, in dem die nach Heilung heischenden Krüppel, Mühseligen und Beladenen von allen Seiten auf den von Panik gepackten Jesus zu kriechen und ihn zu erdrücken drohen, gehört da mit Abstand zu den eindrucksvollsten. Aber auch die Sequenz, in der Jesus den dealenden Pöbel aus dem Tempel scheucht, hat etwas, ebenso das Abendmahl, das direkt dem berühmten Gemälde von Leonardo da Vinci entnommen sein könnte. Über den Aufmarsch der süßen, flauschigen Rauschgoldengel hingegen kann man streiten, ebenso über die geheimnisvolle, stets im Halbdunkel verbleibende Rand-Figur, die wohl eine Art Todesboten oder -Engel personifizieren soll. „King Herod’s Song“ kommt trotz aller Anstrengungen etwas schlapp rüber. Das hat man schon packender und mitreißender erlebt. Dafür entschädigt mit knallig-schriller Dynamik die der Kreuzigung vorangestellte Discolicht-durchzuckte Superstar-Szene, während der Judas aus dem Jenseits zurückkehrt, mit den Soul-Girls Samba tanzt und seine zu Lebzeiten geäußerte Kritik („Everytime I look at you, I can’t understand….“) wiederholt. Da bebt die Bühne.

Jaqueline Braun sammelt Punkte

Dieter Hönig ist mit seinem tiefen Bass  und seinem akzentuierten Spiel als Hoherpriester Kaiaphas eine gute Wahl, ebenso seine Amtsbrüder und –kollegen Paul Erkamp (Annas), Michael Clauder (Nikodemus) und Markus Maria Düllmann (Eleasar). Das große Ensemble, Chor, Statisten, Kinderchor inklusive, agiert geschlossen und ist gesanglich auf der Höhe. Und ein Wiedersehen mit Sven-

(Thaddäus) gibt’s in Kassel auch. Die eigentliche Überraschung des Abends begegnet uns jedoch in der Gestalt von Jaqueline Braun als Maria Magdalena. Welch eine mitreißende Soul-Stimme! Welch eine Performance! Das wirkt nichts aufgesetzt oder gekünstelt. Ihr „I don’t know how to love him“ gerät in seiner Schlichtheit und Eindringlichkeit zum Highlight der Show. Und das Publikum lässt beim Schlussapplaus auch keinen Zweifel daran aufkommen, wem seine uneingeschränkte Sympathie gehört.

An der Umsetzung der Partitur gibt es nichts zu mäkeln. Giulia Glennon liefert am Pult einen hervorragenden Job ab. Ihr und der Band gelingt es, die die ambitionierte, kantige Dynamik der Komposition in ihrer teils aggressiven Ursprünglichkeit mit Leben zu füllen. Im Vergleich zu den späteren, mehr auf Hittauglichkeit getrimmten, romantischeren Werken Andrew Lloyd-Webbers ist die Musik von „J.C.“, die als Fusion aus Rock, Folk-Kantaten, Show-Music und klassischen Fragmenten mit teils überraschenden 5/4- und 7/8-Takten ja eher etwas gegen den Strich gebürstet. Aber gerade auch aus dieser Tatsache bezieht das Stück einen großen Teil seines zeitlosen Reizes. Man wird der Musik nicht so schnell überdrüssig, wie das bei anderen Stücken zwangsläufig der Fall ist.

Das Kassel Staatstheater legt mit dieser Produktion eine solide Inszenierung hin, die einen Besuch allemal lohnt. Die kleinen Schwächen sind technischer Natur und dürften in Folge behoben werden. Wenn die Soundabmischung so optimiert wird, dass man jede Stimme auch tatsächlich von Anfang an versteht, steht einem ungetrübten Musicalgenuss nichts mehr im Wege. 

Jürgen Heimann


Strike Up the Band

„Auf Schalke“ fliegen die Löcher aus dem Emmentaler
Aberwitzig, unterhaltsam, frech und pointiert: Gershwins Geniestreich im Revier – Mehr davon! 

Das Musiktheater im Revier (MiR) in Gelsenkirchen hat in den vergangenen Jahren wiederholt amerikanische Musical-Klassiker (u.a. „Crazy for you“, „Silk Stockings“, Anything Goes“) für sich und das deutsche Publikum neu entdeckt und ihnen zu gebührender Aufmerksamkeit verholfen. Mit „Strike Up the Band“ aus der Feder von George und Ira Gershwin hat das Haus nun eine weitere, hier zu Lande kaum bekannte Perle ausgegraben und liefert damit sein (bisheriges) Kabinettstück ab. Gegen diese Inszenierung, die im Dezember vergangenen Jahres am Kennedy-Platz Premiere feierte und zunächst noch bis 20. Mai an ausgesuchten Terminen zu erleben ist, sieht so manch aktuelles Hochpreis- und Premium-Long-Run ziemlich alt aus.

Man stelle sich vor: „Dabbel-You“ marschiert in der Schweiz ein, angeblich, um die unterdrückte Bevölkerung aus der Knechtschaft der radikalen rätoromanischen Alm-Taliban zu befreien. Das ist die offizielle Lesart. In Wahrheit sind es jedoch die jüngst auf der Rütliwiese entdeckten Ölvorkommen, auf die Präsident „Schorsch“ und sein sich in gleichem Maße dem industriellen Komplex daheim verpflichtet fühlender Verteidigungsminister Donald Duck Dumsfeld scharf sind. Als der Oberbefehlshaber der Invasionstruppen merkt, dass er dem alpinen Reich des Bösen mit seiner Trägerflotte von der Meerseite nicht beikommen kann, bittet er die Bundeswehr um taktische Unterstützung. Jungs germanische Heilsarmee schickt Aufklärungs-Tornados, weil die westliche Freiheit gemäß der Struck-Doktrin nicht nur am Hindukusch, sondern erst recht am Matterhorn verteidigt werden muss. Und am Ende siegen die Guten – und das sind natürlich die Amis. Die paar Hundert Jodel-Terroristen, die in Folge in einem Geheimknast unterm Großglockner-Tunnel interniert werden und unter deren Krachledernen und Dirndln man Massenvernichtungswaffen vermutet, fallen da nicht ins Gewicht.

Das Ganze erscheint auf den ersten Blick ziemlich absurd, doch ganz so abwegig ist dieses Szenario vor dem Hintergrund des aktuellen Zeitgeschehens auch wieder nicht. Und als hätten sie die Bush-Regierung damals schon gekannt, haben Autor George Simon Kaufmann und die Gershwin-Brüder diese Entwicklung, wenn auch unter leicht veränderten Vorzeichen, bereits 1927 vorweg genommen. Dabei heraus kam eine freche und respektlose Musical-Satire, deren Parallelen zur heutigen Situation nachgerade verblüffend, ja fast unheimlich sind. Man ersetze Öl durch Käse – und schon wird ein Schuh draus.

Was (schon) vor über 80 Jahren völlig abgedreht anmutete, ist inzwischen, wenn auch nicht unbedingt im Switzerland, so doch, wenn man mit dem Finger auf dem Globus ein paar Zentimeter weiter nach Süd-Ost wandert, von der Realität eingeholt und bestätigt worden. Ihren Geniestreich „Strike Up the Band“, was auf Deutsch so viel wie „Hau’ auf die Pauke“ bedeutet, haben die Gershwins in den 20-ern des vorigen Jahrhunderts ausgeheckt. Eine brillante, vor Wortwitz und Melodienreichtum nur so sprühende Mischung aus Comedy und harscher Politsatire, die beim amerikanischen Publikum freilich erst in einer zweiten, etwas weichgespülten Fassung ankam. Die „Schalker“ zeigen dieses Meisterwerk aber in seiner ursprünglichen, „unzensierten“ Version – und das in deutscher Erstaufführung. Regisseur Matthias Davids legt damit eine rundherum gelungene, pointen- und temporeichen Inszenierung  hin, die dem „MiR“ zu Recht volle Säle beschert.

Strike Up the Band
Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen
Aus dem heimatlichen Amerika sind viele Kriegstouristen in die Schweiz gereist. „General“ George Spelvin (Daniel Drewes) erklärt ihnen die Lage an der Front und verspricht, dass sie endlich etwas zu sehen bekommen für ihr Geld.
Foto: Majer-Finkes

Gershwin und Bush

Da sind fast drei Stunden prächtige mit beißender Komik gewürzte Unterhaltung auf hohem Niveau garantiert. Und man fragt sich zwangsläufig immer wieder, wer denn Kaufmann damals diese Vorahnungen eingeflüstert haben mag, die ihn kommenden Ereignisse mit verblüffender prophetischer Stichhaltigkeit haben vorweg nehmen lassen. Präsident Laugenbrezel-„W“, obwohl zu dieser Zeit noch nicht einmal eine genetische Idee, muss ihm und den Gershwins im (Alp-)Traum erschienen sein.

Dass sich US-Administrationen vor den Karren industrieller Interessen im eigenen Land spannen lassen, um durch kriegerische Attacken Einfluss und Gewinn zu mehren, ist ja so neu nicht. Auch wenn es zunehmend schwieriger wird, die tatsächlichen Motive zu verschleiern, indem Menschenrechte und Demokratie, die es zu wahren oder wieder her zu stellen gilt, vorgeschoben werden. Als Grund hinzu gekommen ist neuerdings noch die „Terrorbekämpfung“, mit der sich so gut wie alles und jedes rechtfertigen lässt.

Doch zu jener Zeit, als die Löcher aus dem Emmentaler flogen, war von Al Kaida und Osama bin (im) Laden noch nicht die Rede. Die Bedrohung des freiheitlichen amerikanischen Kapitalismus hockt bei „Strike Up the Band“ in schwer zugänglichen Gebieten inmitten von 55 Viertausendern zwischen Bodensee und Genfersee, Alpenrhein und Jura. Ein eigenwilliges, wackeres Völkchen, dessen llia Kühe nicht nur die Milch für exzellente Schokolade liefern, sondern das daraus auch den besten Käse der Welt produziert, zumindest einen besseren als ihn die Yankees auf der anderen Seite des großen Teichs hinkriegen. Und genau das wurmt den US-Fabrikanten Horace J. Fletcher mächtig und lässt ihn um seine Vormachtsstellung auf dem Inlandsmarkt  fürchten. (Der Mann hat übrigens eine reale Entsprechung in der US-Wirtschaftsgeschichte).

Verrückte Story mit abgedrehten Charakteren

Durch geschickte Lobbyarbeit setzt der Chef der „American Cheese Company“ empfindliche Strafzölle durch, die die Einfuhr des Konkurrenzproduktes aus Helvetica erschweren. Als die Eidgenossen protestieren, und das auch noch auf einer unterfrankierten Depesche, ist dies für die amerikanischen Hurra-Patrioten ein willkommener Anlass, das kleine Alpenreich anzugreifen. Die Invasions-Truppen werden privat finanziert – durch Fletcher. Und damit wäre die kurios-absurde Rahmenhandlung von „Strike up the Band“ schon im Groben skizziert. Ist die Geschichte schon aberwitzig und grotesk, sind es die handelnden Personen zwangsläufig auch. Da tummelt sich ein ganzes Panoptikum abgedrehter, mit spitzem Stift gezeichneter Figuren.
Wie Jahrzehnte später in Vietnam, im Irak oder in Afghanistan, ist es auch hier so einfach nicht, die listigen (in diesem Falle aber äußerst gastfreundlichen) Ureinwohner zu überrumpeln. Vor allem deren aus kehligen Lauten bestehender Jodel-Geheimcode, mittels dessen sich ihre Armee über große Entfernungen hinweg verständigt, stellt die Dechiffrierspezialisten der Angreifer vor immense Probleme.

Es geht drunter und drüber

An Charakteren treffen wir neben dem Käsemagnaten Fletcher (köstlich dargestellt von Joachim Gabriel Maaß) auf den Investigativ-Journalisten Jim Townshend (gespielt von einem gewohnt souveränen Gaines Hall), der ein Auge auf die Fletcher-Tochter Joan (der All- und Vielzweckwaffe der Gelsenkirchener, Anke Sieloff) geworfen hat, zwangsrekrutiert wird und sein Frontdasein mit Kartoffelschälen verbringen muss. Und da wäre Timothy Harper (Phillippe Ducloux), der Vorarbeiter der Käsefabrik, der vielleicht ganz froh ist, dass ihn sein Chef zum Frontkommandeur macht, weil er so erst einmal aus der Schusslinie der hübschen, aber extrem heiratswütigen Anne Draper (überragend: Filipina Henoch) kommt. Deren Mutter (Eva Tamulénas) wiederum hat ein Auge auf den Cheese-Chief geworfen, der, wie auch Präsidentenberater Colonel Holmes (Wolfgang Beigel), ihre Werte aber erst später zu erkennen glaubt, und zwar just in dem Augenblick, in dem bei beiden die irrtümliche Annahme reift, die Dame habe jede Menge Kohle. Die Fletcher-Tochter turtelt nach anfänglicher Abneigung intensivst mit dem als Vaterlandsverräter und Drückeberger gebrandmarkten Zeitungsschreiber, statt die Avancen ihres Verlobten in spe C. Edgar Sloane (Frank Engelhardt) zu erwidern, der, es lebe die fünfte Kolonne, in Wahrheit aber ein ganz anderer ist, als er vorgibt. Alles klar? Macht nix. Das Durcheinander ist Programm – und es geht drunter und drüber.

Ein früher Jerry Lewis als Retter in der Not

Der Feind lässt sich nicht blicken, die Angreifer schieben in der Etappe einen schlauen Lenz und lassen sich von den Einheimischen verwöhnen. Ein mysteriöser Saboteur schneidet ihnen die Knöpfe von den Uniformen, der Kriegstourismus, durch den Fletcher seinen Feldzug refinanzieren möchte, lahmt. Da entpuppt sich der zum „General für einen Tag“ ernannte George Spelvin (Daniel Drewes), der irgendwie an Jerry Lewis erinnert, als Retter in der Not. Drewes, mit einem urkomödiantischen Talent gesegnet, ist der heimliche Star und personelle Trumpf der Inszenierung. Er sorgt u.a. auch als Telefontechniker, Telegrammbote oder verkleideter Alm-Sepp für Schenkelklopfer und Lachtränen und avanciert so schnell zum Liebling des Publikums. Einen hervorragenden Job liefert Philippe Ducloux ab, der sich die Rolle des Fabrik-Capos und patriotischen Kämpfers in nur zehn Tagen hatte aneignen müssen, weil der ursprünglich dafür vorgesehene Kollege kurz vor der Premiere erkrankt war. Sein leidenschaftliches, energiegeladenes Spiel ist symptomatisch für das des gesamten Ensembles, das sich sowohl aus externen Kräften, als auch aus dem Fundus des eigenen Hauses speist. Und da kann das „MiR“ ja aus dem Vollen schöpfen und wirft seine Statisterie, seinen Opernchor und das Ballett Schindowski in die glorreiche Schlacht. Eine exquisite Mischung, die in eine homogene Gesamtleistung mündet.

Strike Up the Band
Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen
„Strike Up the Band“ besticht nicht zuletzt durch die großen und turbulent inszenierten Ensembleszenen. Vorne Mitte Gaines Hall und Anke Sieloff. Die Amerikaner haben den Käsekrieg gegen die Schweiz gewonnen und wenden sich jetzt anderen Zielen zu: Russland bietet sich an. Der Iwan hat nämlich den besseren Kaviar.
Foto: Majer-Finkes

Großartige Steppszenen

Melissa Kings ideenreiche und spritzige Choreografie setzt dem Ganzen das Sahnehäubchen auf. Die Tanz- und Steppszenen sind einfach großartig, das Bühnenbild (Knut Hetzer) farbenfroh-vielfältig und die Kostüme (Judith Peter) passend, schrill und originell.

Und von wegen „olle Kamelle“: Dieses intelligent-absurde Gershwin-Juwel ist zeitlos-modern  – nicht nur inhaltlich. Und wenn die Partitur dann so dynamisch, hingebungsvoll und mit so viel Drive umgesetzt wird, wie es die neue Philharmonie Westfalen unter Kai Tietje vermag, bleiben keine, oder zumindest fast keine Wünsche offen. Selbst die genialen Wortspiele in den Songtexten von Ira Gershwin, die ja erst in der perfekten Verbandelung mit der brüderlichen Komposition ihre eigentliche Brillanz entfalten, verlieren in der Übersetzung von Roman Hinze kaum etwas von ihrer Kraft. Obgleich: Sie sind akustisch nicht immer gut zu verstehen. Die Einblendungen auf einer hoch über der Bühne angebrachten Projektionsfläche helfen in diesem Falle nur bedingt weiter, weil sie ob des Lichteinfalls der Scheinwerfer meist unleserlich sind. Aber das ist auch schon das einzige Manko, das den Genuss nur unwesentlich trübt. Gemessen an der Bedeutung der Figur ist die Rolle des Timothy Harper auch vielleicht etwas zu breit angelegt, was zu Lasten des für die Handlung doch eigentlich viel „wichtigeren“ Enthüllungs-Journalisten Townsend geht. Deshalb muss sich Gaines Hall in dieser Rolle (leider) auch ziemlich zurück nehmen.
Regisseur Davids gelingt der Balanceakt, nie ins Alberne abzugleiten, was ob der abgedrehten-wahnwitzigen und absurden Storyline nicht immer ganz einfach ist. Er nutzt die Steilvorlagen des Buchs nicht nur dazu, treffsicher, wohldosiert und punktgenau jede Menge Situationskomik zu platzieren, sondern trifft auch genau die Intention der Autoren, den „American Way of (Wirtschafts-) Life“ so zu persiflieren, dass die Tünche bröckelt. Dahinter  kommt als Grundierung überhöhter, von keinem Selbstzweifel beeinträchtigter Nationalstolz zum Vorschein, der mit Raffgier, Geltungssucht und Imperialismus vermengt, das Image der Weltmacht USA bestimmt – damals wie heute. Man könnte (und muss), so wie er hier vorgeführt wird, drüber lachen, wenn die Realität auch traurig ist. Trotzdem ist „Strike Up the Band“ kein politisches, sondern in erster Linie ein unterhaltsames Stück. Mehr davon! Musiktheater wie es sein sollte. Deshalb auch die volle Punktzahl.

Jürgen Heimann, Januar 08