Mysterium »Krol Roger« an der Oper Frankfurt

Krol Roger ~ Oper Frankfurt ~ v.l.n.r. Der Erzbischof (Alfred Reiter; zur Wand gedreht), Edrisi (AJ Glueckert; vorne sitzend), König Roger (Łukasz Goliński), Roxana (Sydney Mancasola), Die Diakonissin (Judita Nagyová; zur Wand gedreht), Filip Niewiadomski ~ © Monika Rittershaus

Ein Moment der Stille, das Loslassen von Alltagsgedanken und die Bereitschaft, sich auf etwas Neues einzulassen, stehen meist zu Beginn einer jeder Yogastunde. Einen ähnlichen Anfang bietet auch Johannes Eraths Inszenierung von Karol Maciej Szymanowskis einziger Oper Krol Roger an der Oper Frankfurt. Dass der Eiserne Vorhang anfangs geschlossen ist, ist selten, aber nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist, dass die ersten Töne der Oper, der zunächst ruhige a cappella Gesang des Chores, noch bei einem, über den Orchestergraben reichenden, Vorhang erklingen. Mit Tönen aus dem Nirgendwo im Dunklen wird der mystische Charakter des Werks gleich zu Beginn mit einer besonderen Intensität erfahrbar.
Nach Emporfahren des Vorhangs öffnet sich der Blick auf die Chormassen, die Solisten und die imponierende Bühne von Johannes Leiacker. Diese ist abstrakt und schlicht gehalten. Gleichsam wirkt sie hochgradig imponierend wie ein außergewöhnliches Kunstobjekt: Breite Streifenmuster auf einem großflächigen Plateau, die weit nach oben führen, in der Mitte ein Spalt (kein Kreuz) und ein schmaler Abgang wie in eine Krypta. Für zusätzliche Effekte sorgen zahlreiche weiße LED-Streifen, die auf den Seitenvorhängen angebracht sind. Der Einheitsraum steht für die byzantinische Kathedrale von Palermo (1. Akt), den Innenhof des Königspalasts (2. Akt) und für die Ruinen des antiken Theaters von Syrakus (3. Akt). Akzente setzt die Ausleuchtung (Licht: Joachim Klein) und die gelegentlichen Videoprojektionen von Livebildern der Volksmassen und Porträts von König Roger und seiner Frau Roxane, die rätselhaft mit sich kristallisierenden Minischatten überblendet werden (Video: Bibi Abel).
Priester, Mönche, Nonnen, eine königliche Garde oder normannische Ritter gibt es keine. Der sie vertretende Chor der Oper Frankfurt, verstärkt um den Extra– und den Kinderchor, trägt schwarze Anzüge und Kleider (auch die Kinderchormitglieder) und zunächst schwarze Sonnenbrillen, wodurch er wie eine obskure Gruppe Außerirdischer aus der Men in Black-Trilogie wirkt. Mit der Hinwendung zum „Hirten“ werden die Sonnenbrillen abgelegt. Klanglich untermauert er ausgezeichnet besonders im 1. Akt den oratorienhaften Charakter der Oper (Einstudierung: Tilman Michael, Kinderchor: Markus Ehmann).


Krol Roger
Oper Frankfurt
Roxana (Sydney Mancasola), König Roger (Łukasz Goliński; in schwarzem Anzug) und Der Hirte (Gerard Schneider; in weißem Anzug) sowie im Hintergrund Ensemble
© Monika Rittershaus

König Roger, so der deutsche Titel, war 2011 in einer Inszenierung von Joan Anton Rechi am Staatstheater Mainz zu sehen. Diese wartete mit zahlreichen Skulpturen von Gottheiten, Märtyrer und Heiligen auf und war stark auf die Sinnfrage König Rogers fokussiert. In der Frankfurter Erstinszenierung von Johannes Erath wird der Gedanke der Verwandlung verfolgt. Wie verändern sich Menschen und deren Beziehungen, wenn etwas Fremdes in ihr Leben tritt und sich die Verhältnisse von Form und Ordnung (dem Apollinischen) zu Rausch und Ekstase (dem Dionysischen) wandeln?
Erath lässt vieles im mystisch Rätselhaften, worauf der betreuende Dramaturg Zsolt Horpácsy bei seiner Werkeinführung explizit hinwies. So wird die Rolle eines Chorjungen stark aufgewertet, schmücken sechs oberkörperfreie und gefesselte Männer Roxanas Reich, sitzen im dritten Akt Abbilder des Erzbischofs und der Diakonisse in derber Fetischkleidung auf zwei riesigen Hockern, hält sich der arabische Gelehrte Edrisi eine weise Eule an seinem Rollstuhl.

Musikalisch interessant ist Krol Roger u. a. weil sie an der Oper Frankfurt kurz auf Franz Schrekers Der ferne Klang folgt, einem fast zeitgleichen ähnlich fesselnden Werk, und weil sie in vielen Teilen einem Mysterium und einem Oratorium ähnelt. Mit seiner pluralistischen Musiksprache, seiner Spannweite von Impressionismus, Expressionismus, über Folklore, Orientalismen bis hin zur Aufgabe tonaler Bindung „zählt Szymanowski, nicht nur für die polnische Musikgeschichte, zu einem wichtigen Mittler zwischen Spätromantik und Moderne“ (Michael Stegemann). Für die musikalische Leitung dieser Produktion kehrte der gebürtige Franzose Sylvain Cambreling zurück an die Oper Frankfurt, deren künstlerischer Leiter und Generalmusikdirektor er von 1992 bis 1997 war (seit Saisonbeginn 2018/19 ist er Chefdirigent der Symphoniker Hamburg, dem Residenzorchester der Laeiszhalle Hamburg). Unter seiner Leitung entfacht das Frankfurter Opern- und Museumsorchester ein fesselndes leidenschaftliches Plädoyer für Szymanowski vielschichtige, mysterienhafte und oftmals eruptiv aufwühlende Klangwelten.

Mit der Titelrolle ist der polnische Bassbariton Łukasz Goliński, der erstmals an der Oper Frankfurt zu erleben ist, gut vertraut, sang er diese Partie vor Kurzem bereits in Stockholm und in Warschau. Sein König Roger ist ein leidenschaftlicher Kämpfer, dessen Ordnung langsam zerfällt, bis er sich schließlich selbst der Sonne zuwendet und als Zeichen der Wandlung die Schuhe auszieht. Das tat seine Frau Roxana schon früher, verfiel sie dem Hirten doch bereits beim ersten Anblick. Sopranistin und Ensemblemitglied Sydney Mancasola verleiht ihr großes Format und bezaubernde Töne. Den charismatischen und barfüßigen Hirten im weißen Gewand (mit nur einem Knopf verschlossenen Hemd), gibt Tenor und Ensemblemitglied Gerard Schneider mit überragender Vitalität in Stimme und Gestus. Gehandicapt im Rollstuhl sitzt zunächst der gute und wie der Hirte in weiß gekleidete, Edrisi des Tenors AJ Glueckert, stimmlich ist er sehr befreit und glänzt erneut mit seinem großen Stimmumfang. Mit erhabener Couleur ergänzen der Bass Alfred Reiter als Erzbischof und die Mezzosopranistin Judita Nagyová als Diakonissin die Darstellerrunde.
Intensiver und lang anhaltender Applaus.

Markus Gründig, Juni 19


Król Roger (König Roger)
Oper in drei Akten
Von: Karol Szymanowski

Premiere an der Oper Frankfurt: 2. Juni 19
Besuchte Vorstellung: 9. Juni 19

Musikalische Leitung: Sylvain Cambreling
Regie: Johannes Erath
Bühnenbild: Johannes Leiacker
Kostüme: Jorge Jara
Licht: Joachim Klein
Video: Bibi Abel
Chor: Tilman Michael
Kinderchor: Markus Ehmann
Dramaturgie: Zsolt Horpácsy

Besetzung:

König Roger: Łukasz Goliński
Roxana: Sydney Mancasola
Der Hirte: Gerard Schneider
Edrisi: AJ Glueckert
Der Erzbischof: Alfred Reiter
Die Diakonissin: Judita Nagyová

Chor der Oper Frankfurt
Frankfurter Opern- und Museumsorchester


oper-frankfurt.de

Hinweis zur Vertiefung:
Danuta Gwizdalankas: Der Verführer – Karol Szymanowski und seine Musik (Harrassowitz Verlag; ISBN: 978-3-447-10888-1; 292 Seiten; 29,- €)